Karabach-Konflikt & Menschenrechte

Menschenrechtssituation in Karabach

von Bernhard Clasen
Hintergrund
Hintergrund

eit Mai 1994 ruhen in Transkaukasien die Waffen. Bis dahin hatte ein blutiger Krieg um das Gebiet Nagornij Karabach Zehntausenden das Leben gekostet, über eine Million mußte fliehen.

Heute wird zwar (fast) nicht mehr ge­schossen. Die Lage ist aber nach wie vor explosiv. Keines der Probleme, die den Krieg bewirkt haben, ist gelöst. Je­derzeit kann dieser Krieg wieder aufle­ben.

Offiziell gibt es seit dem großen Kriegsgefangenenaustausch vom Mai 1995 weder in Armenien noch in Aser­baidschan Kriegsgefangene. Anders da­gegen in Karabach: dort werden nach wie vor ca. 90 Aserbaidschaner als Kriegsgefangene und Geiseln offiziell festgehalten.

Vor diesem Hintergrund begab sich im August 95 eine gemeinsame Delegation von Bündnis90/Die Grünen und der rus­sischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" nach Armenien, Stepana­kert und Aserbaidschan, um sich ein Bild von der Situation der Menschen­rechte zu machen. Der nachfolgende Bericht beruht auf Beobachtungen und Gesprächen dieser Reise.

Der Karabach-Konflikt und die Op­fer, Gefangene und Geiseln

Seit Beginn des Krieges wurden immer wieder Menschen gefangen genommen und als Geiseln festgehalten. Hierbei handelt es sich nicht nur um Personen, die nach der Einnahme eines Ortes durch die feindlichen Truppen gefan­gengenommen wurden.

Auch "privat" wurden Menschen als Geiseln genommen. Viele Familien, die davon ausgehen, daß Angehörige als Geiseln festgehalten werden, machten sich auf die Jagd nach Geiseln, um ein Austauschobjekt zu haben. In der Hoff­nung, einen Angehörigen durch einen Tausch zurückbekommen zu können, nahmen sie Menschen des anderen Vol­kes als Geiseln. Aus diesem Grund hielten sich viele Geiseln auch nicht zentral an einem Ort oder mehreren Or­ten auf, sondern wurden (werden?) in Familien festgehalten. Im Unterschied zu den Kriegsgefangenen, deren Auf­enthaltsort bekannt ist und die auch in der Regel vom Roten Kreuz besucht werden, ist es nicht so einfach, etwas über das Schicksal von Geiseln in Er­fahrung zu bringen. Hier sind die Ange­hörigen auf Gerüchte angewiesen. Er­schwert wird die Situation heute da­durch, daß die Regierungen erklären, daß keine Geiseln mehr festgehalten würden. Die Behörden sind natürlich nicht motiviert, durch ihre Arbeit diese Aussage zu wiederlegen.

Sowohl die Armenier als auch die Aser­baidschaner haben Listen von vermissten Personen, in denen jeweils mehr als 1000 Personen aufgeführt sind.

Gleichgültigkeit der Behörden

In Nagornij-Karabach ist nur eine Per­son hauptamtlich mit diesem Problem beschäftigt. Gleichzeitig ist diese Per­son, Albert Askanjan, noch mit anderen Aufgaben betraut. Der Vorsitzende des "Komitees für Kriegsgefangene, Geiseln und Vermisste" von Nagornij-Karabach, Alexander Agasarjan, berichtet, wie die von Aserbaidschan eingereichten Listen vermisster Aserbaidschaner geprüft wer­den: es wird geprüft, ob sich Personen dieser Liste in der Liste der in Karabach festgehaltenen 90 Kriegsgefangenen be­finden. Mehr wird nicht gemacht. Es werden keine Befragungen von Kriegs­gefangenen, Bevölkerung oder der eige­nen Soldaten durchgeführt. Der Vorsit­zende des aserbaidschanischen Komi­tees für Kriegsgefangene, Geiseln und Vermisste, Namik Abbasov, der gleich­zeitig auch Minister für nationale Si­cherheit ist, - vergleichbar mit dem KGB-Chef - konnte uns ebenfalls nicht überzeugend vermitteln, daß Aserbaid­schan alles in seinen Kräften stehende tue, um vermisste ArmenierInnen aus­findig zu machen. Als der Bundestags­abgeordnete Helmut Lippelt im aser­baidschanischen Außenministerium um eine Liste von Kindern bat, die - nach aserbaidschanischen Angaben - in Ar­menien/Karabach festgehalten werden, gab man ihm "die aktuellste Liste" (datiert vom 1. Dezember 1994).

Der Kampf um den Status von Karabach wird auf dem Rücken der Opfer des Krieges, der Vermissten und Gefangenen geführt. So wurde uns sowohl vom Vor­sitzenden des Komitees für Kriegsgefangene, Geiseln und Vermisste von Na­gornij-Karabach, Alexander Agasarjan, als auch seinem aserbaidschanischen Counterpart, Namik Abassow, bestätigt, daß 1993 ein Treffen der beiden im letzten Augenblick geplatzt war. We­nige Tage vor dem angesetzten Termin hatte Karabach in einem Fax Namik Abassow gebeten, das Treffen noch einmal schriftlich zu bestätigen. Das Dokument trug die Unterschrift: "Alexander Agasarjan, Vorsitzender der Kommission zu Kriegsgefangenen, Gei­seln und Vermissten der Republik Na­gornij-Karabach". Namik Abassow hatte daraufhin mitgeteilt, daß er dieses Do­kument nicht unterzeichnen könne, da seine Unterschrift unter dieses Doku­ment die Anerkennung von Karabach bedeuten würde. Da keine Einigung ge­funden werden konnte, ist es bis zum heutigen Tag noch nicht zu diesem Tref­fen gekommen.

In Gesprächen mit Namik Abassow und dem stellvertretenden Außenminister von Armenien, Herrn Oskajan, schlug Helmut Lippelt die Einrichtung einer EDV-gestützten Datenbank über vermisste ArmenierInnen und Aserbaid­schanerInnen vor.

Ähnliches ist auch von der Helsinki Ci­tizens Assembly geplant. Bei einem Treffen kaukasischer Sektionen der Hel­sinki Citizens Assembly in diesem Jahr wurde die Einrichtung einer gesamtkau­kasischen Arbeitsgruppe zu Gefangenen und Geiseln beschlossen. Diese Arbeits­gruppe plant auch die Einrichtung einer derartigen Datenbank.

Alle kaukasischen Helsinki-Gruppen haben sich darauf geeinigt, gemeinsam für Geiseln an allen Konfliktpunkten des Kaukasus zu arbeiten. Für diese Arbeit möchte man noch Abgeordnete und Sponsoren aus anderen Ländern gewin­nen.

Im Mai 1995 - ein Jahr nach Inkrafttre­ten des Waffenstillstands - haben Arme­nien und Aserbaidschan alle Kriegsge­fangenen, die in den Listen des Roten Kreuzes standen, freigelassen. Lediglich in Karabach werden noch 90 Kriegsge­fangene und Geiseln festgehalten. Kara­bach rechtfertigt sein Verhalten damit, daß in Aserbaidschan noch 29 Armenier offiziell festgehalten werden. Bei diesen handelt es sich um Aserbaidschaner ar­menischer Nationalität, denen verschie­dene Verbrechen vorgeworfen werden. Aserbaidschan, so Namik Abassow, ist nicht bereit, mit Karabach über diese Personen zu verhandeln, da diese ja nicht - "mit einer Ausnahme" - wegen des Karabach-Konfliktes inhaftiert seien. Zu einem späteren Zeitpunkt un­seres Gespräches modifizierte Abassow diese Position und deutete an, daß Aser­baidschan zu einer Freilassung dieser "Kriminellen" bereit wäre, wenn Kara­bach die 90 Kriegsgefangenen freiließe.

Opposition ohne Menschen- und Bür­gerrechte

Im Rahmen der Vorbereitungen und vor Ort war uns die Tragweite der innenpo­litischen Menschenrechtsverletzungen deutlich geworden. Aus diesem Grund spielte die Beschäftigung mit Men­schenrechtsverletzungen, die nicht mit dem Karabach-Konflikt zusammenhän­gen, eine größere Rolle, als wir zunächst geplant hatten.

Wie will Aserbaidschan den Karabach-Armeniern glaubhaft versichern, daß ein friedliches Zusammenleben möglich ist, wenn es gleichzeitig so rigoros gegen die eigene Opposition vorgeht? Können die AserbaidschanerInnen die Erklärung führender Politiker von Nagornij-Kara­bach, sie wären an einem friedlichen Zusammenleben mit Aserbaidschan in­teressiert, ernst nehmen, wenn die glei­chen Politiker sogar christliche Religi­onsgemeinschaften verbieten?

Armenien

Bei unserem Aufenthalt in Armenien sprachen wir mit mehreren Menschen, die Zeugen von Menschenrechtsverlet­zungen geworden waren. Anwälte von politischen Gefangenen berichteten uns, daß sie am helllichten Tag von einer Gruppe Männer in ihren Büros verprü­gelt worden waren. Ebenfalls von An­wälten wurde uns berichtet, daß Ge­ständnisse mit brutalen Schlägen, langer Isolationshaft, gefälschten Hausdurch­suchungsergebnissen und gefälschten Beweisen erzwungen worden sind. Häu­fig wurde den Anwälten der Kontakt zu ihren Klienten verweigert, kranken Ge­fangenen nicht selten keine medizini­sche Hilfe gewährt.

Besorgniserregend auch, wie mit klei­nen Religionsgemeinschaften umgegan­gen wird. So sind Mitglieder mehrerer kleiner Religionsgemeinschaften in der Vergangenheit wiederholt von Schlä­gertrupps verprügelt worden.

Von offiziellen Vertretern Armeniens werden diese Vorfälle nicht bestritten. Es wird jedoch betont, daß es sich hier­bei um Einzelfälle gehandelt habe, die sich nicht wiederholen würden. Die Stimmung bei weiten Teilen der Bevöl­kerung ist gegen diese kleinen Religi­onsgemeinschaften. Hartnäckig halten sich Gerüchte, daß von außen versucht worden wäre, für diese "pazifistischen" Religionsgemeinschaften gerade im Grenzgebiet zu missionieren, um die Wehrkraft Armeniens zu unterminieren. Interessanterweise sind in Nagornij-Ka­rabach mehrere kleine christliche Reli­gionsgemeinschaften, wie z.B. die Zeu­gen Jehovas oder die Pfingstgemeinden, verboten.

Aserbaidschan

Die Situation in Aserbaidschan, anders läßt sie sich nicht bezeichnen, ist ab­surd. Auch wenn es viel Trennendes zwischen Op­position und Regierung gibt: in ihrem Unwillen, die Realität zu nehmen wie sie ist, sind sie sich einig. Die Forderun­gen "Keinen Zentimeter Land dem Feind" und der Vorschlag, Nagornij-Ka­rabach "kulturelle Autonomie" zu ge­ben, sind Kern der außenpolitischen Programme der wichtigsten Parteien. Die Führer dieser Parteien verweisen hierbei immer wieder auf ihr Volk, das alles andere nicht akzeptiere. Große Hoffnungen setzt man auf den kürzlich geschlossenen Erdölvertrag.

Das Volk hat Angst vor einem erneuten Wechsel der Machthaber. Man weiß, daß sich neue Machthaber in der Ver­gangenheit immer zuerst an einer militä­rischen Lösung der Karabach-Frage ver­sucht haben, um Erfolge und Stärke zu zeigen.

Im Land geht die Angst um. Auf ca. 500 schätzt man die Zahl der politischen Ge­fangenen. Ebenso wie in Armenien tref­fen wir hier mit Angehörigen von politi­schen Gefangenen zusammen, die uns von Willkür und Folter im Umgang mit politisch Andersdenkenden berichten.

Diese Angst wird verstärkt durch stän­dige Mitteilungen über angebliche Putschversuche und bevorstehende An­schläge auf den Präsidenten Alijew. Alijew wiederum wird nicht müde, die Opposition zu beschuldigen, ihn bei der Arbeit zu behindern.

Die elektronischen Medien sind fast gänzlich in der Hand der Regierung, un­abhängige Zeitungen unterliegen einer starken Zensur. Praktisch keine Zeitung erscheint ohne die, durch die Zensur bewirkte, weiße Flecken.

Menschenrechte & Menschenrechte

Wer sich für einen dauerhaften Frieden in der Transkaukasus-Region einsetzen will, muß zuerst die Einhaltung der Menschenrechte einklagen. Organisa­tionen, wie die armenischen und aser­baidschanischen Helsinki-Gruppen, die sich auf Nichtregierungsebene für eine Freilassung von Gefangenen und Gei­seln einsetzen, müssen auch von hier aus unterstützt werden. Ich erwarte von unseren PolitikerInnen, daß sie in ihren Gesprächen vor Ort nicht nur über Roh­stoffe und wirtschaftliche Fragen spre­chen, sondern auch die Einhaltung der Menschenrechte einklagen.

Wenn doch nur mehr Druck ausgeübt würde auf die Handelnden in diesem Konflikt! Deutsche NGO´s, PolitikerIn­nen und Offizielle sollten von Herrn Abassow fordern, daß internationale Beobachter Zugang erhalten zu den 29 in Baku inhaftierten Armeniern aser­baidschanischer Nationalität. Und ge­nauso muß auf Karabach Druck aus­geübt werden, die ca. 90 Gefangenen (Stand: November 95) freizulassen.

Menschenrechte sind unteilbar. Sich nur auf die Menschenrechtsverletzungen zu beschränken, die eine Folge des Krieges sind, ist einseitig. Hierauf sollten wir insbesondere in unseren Kontakten mit der armenischen und karabach-armeni­schen Helsinki-Gruppe, die beide ihre Regierung in innenpolitischen Fragen unterstützen und die Verletzung der Menschenrechte aus innenpolitischen Gründen herunterspielen, immer wieder hinweisen.

 

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