Militärblock mit zwei Säulen

von Gregor Witt

Im November dieses Jahres werden in Hamburg Parlamentarierinnen aus den 16 NATO-Staaten im Rahmen der Nordatlantischen Versammlung (NAV) über die Zukunft der Militärallianz diskutieren. (Siehe dazu: Eva Segelken, "Alternativen zur Politik der NATO" in diesem Heft.) Ein eigens zum Thema "Die NATO in den 90er Jahren" eingerichteter Ausschuß unter Leitung des US-Senators William Roth hat mit einem Sonderbericht mit gleichem Titel bereits wichtige Eckpfostentür die Strategiedebatte in der NAV eingeschlagen.

An der Erarbeitung der Studie waren aus der Bundesrepublik Manfred Abelein (CDU), Peter Corterier. (SPD) in seiner Funktion als Generalsekretär der NA V sowie als Experten Karl Kaiser (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) und Michael Stürmer (Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen) beteiligt.

Der im Mai 1988 veröffentlichte Bericht geht vor allem der Frage nach, wie die Beziehungen zwischen USA und Westeuropa in der Zukunft der NATO aussehen sollen. Ausgangspunkt des Berichtes sind die "Erhöhung der relativen Wirtschaftskraft und der politischen Möglichkeiten der westeuropäischen Bündnismitglieder". Auf diesem Hintergrund meinen Roth u.a., Westeuropa solle zukünftigmehr Verantwortung übernehmen und zugleich wirksamer an der Führung der NATO beteiligt werden. Sie schlagen vor, zu Beginn der Amtszeit des neuen US-Präsidenten eine Zusammenkunft hochstehender Vertreter der NATO-Staaten einzuberufen, die das politische Mandat der Militärallianz dahingehend neu beschließen sollen.

Zweiter NATO-Pfeiler
Roth u.a. wollen die beiden bisherigen Grundziele des Harmel-Berichtes ("starke Verteidigung" und "Dialog und Zusammenarbeit mit dem Osten") um ein drittes ergänzen, nämlich die "Entwicklung hin zu einem echten westeuropäischen Pfeiler des Bündnisses". Damit soll eine neue Qualität der transatlantischen Arbeitsteilung erreicht werden. Dafür, daß die Westeuropäer koordiniert ihre Rüstungsanstrengungen erhöhen, sollen die USA im Sinne der sogenannten erweiterten Abschreckung ihre Nuklearstreitkräfte in Europa beibehalten.

Zum Aufbau eines "echten" zweiten NATO-Pfeilers fordern Roth u.a. die Nutzung von bereits vorhandenen, jedoch weiterentwickelten und neuen "Bausteinen":

  • eine jährliche gemeinsame Sicherheitsanalyse
  • eine Untersuchung der institutionellen Voraussetzungen für den Pfeiler sowie der Rolle, die die Westeuropäische Union (WEU) und die Europäische Gemeinschaft (EG) spielen können
  • die Bildung einer westeuropäischen Division als "schnelle Eingreiftruppe"
  • eine intensive Zusammenarbeit der militärischen Einrichtungen z.B. durch regelmäßige Kontakte zwischen den Militärstäben
  • die Schaffung eines westeuropäischen Rüstungsmarktes
  • eine arbeitsteilige Spezialisierung bei der Aufrüstung.

Sorgen bereitet dem Ausschuß die Zeit des Übergangs zum zweiten NATOPfeiler: die denkbare Eigendynamik der westeuropäischen Rüstungskooperation könnte zu Konflikten mit den USA führen, in den USA könnten isolationalistische Kräfte die Zeit für ein Disengagement in Europa für gegeben halten und "bestimmte Kreise in Europa" könnten ihre Angriffe auf die USA und deren Politik verstärken. Währenddessen sieht die westliche Öffentlichkeit die Bedrohung nicht als so akut an, wie zur Rechtfertigung anhaltend starker Rüstungsanstrengungen erforderlich wäre. Dem soll mit oben genannter Sicherheitsanalyse soll in "glaubwürdiger Form" begegnet werden. 

An atomarer Abschreckung festhalten 
Die militärstrategischen Grundsätze sollen im Wesentlichen unverändert bleiben. Das bedeutet: die atomare Abschreckung wird für die absehbare Zukunft für unverzichtbar angesehen. An ihr soll unabhängig von allen Fortschritten bei der atomaren oder konventionellen Abrüstung festgehalten werden. Dabei hebt der Bericht als "große Tugend" der flexiblen Antwort deren Kompromisscharakter hervor. Er mache es möglich, "die verschiedensten, voneinander abweichenden Auffassungen bezüglich der Ansprüche an Abschreckung und Verteidigung unter einen Hut zu bringen".

Mit dieser eleganten Formulierung gehen die Autoren der laufenden Debatte über das Strategiepapier "Discriminate Deterrence", das von namhaften US-Autoren wie Kissinger, Brzezinski, Wohlstetter und Ikle erstellt wurde, aus dem Wege. Dabei hat das Dokument gerade unter Unionspolitikern in der Bundesrepublik grundsätzliche Zweifel in die U'S-amerikanischen "Sicherheitsgarantien" verursacht.

Den bestehenden Konflikt zwischen (westeuropäischen) Ankoppelungszielen und U'S-Abkoppelungsabsichten suchen Roth u.a. rein pragmatisch zu lösen. Sie drängen zwar nachdrücklich auf eine Atomwaffenmodernisierung, schlagen aber zugleich vor, sich nicht auf diesem Feld aufzureiben. Stattdessen soll die von ihnen vermutete größere Übereinstimmung in Fragen konventioneller Rüstung zur Grundlage für gemeinsame Aufrüstungsmaßnahmen gemacht werden.

In ihrer Fixiertheit auf die Beibehaltung der Abschreckungsstrategie der NATO und der Vermeidung einer Denuklearisierung Westeuropas stellen sich Roth u.a. gar nicht erst die Frage, ob und wie angesichts der bekannten Fakten über Atomkriegsfolgen eine politische Strategie zur Überwindung der atomaren Abschreckung aussehen kann und muß. Das zeigen die von ihnen aufgestellten Richtlinien für Entscheidungen über Modernisierungen und Stationierungen:

  1. Umstrukturierung der Atombewaffnung zugunsten von Systemen längerer Reichweite und weg von Gefechtsfeldsystemen kürzerer Reichweite
  2. Verringerung der Gesamtzahl an Atomwaffen in Europa durch Rüstungskontrolle und konventionelle Rüstung, aber nur, soweit es mit der heutigen NATO-Strategie vereinbar ist
  3. die atomare Schwelle soll angehoben, nicht gesenkt werden
  4. Atomwaffen sollen Verbesserungen der konventionellen.Rüstung ergänzen
  5. " ... die militärische Logik von Stationierungen sollte eindeutig schwerer wiegen als die potentiellen politischen Kosten, wenn Stationierungen erfolgen sollen."

Für den Verzicht auf die Modernisierung der Atomraketen kurzer Reichweite nennen Roth u.a. zwei Bedingungen: entweder eine Rüstungskontrollvereinbarung, mit der die "Vorteile" der WVO bei Panzern verringert werden, oder ein technologischer Durchbruch bei der nicht-nuklearen Panzerabwehr. Bis es dazu kommt, soll die NATO mögliche Optionen zur Modernisierung des Lance-Raketensystems prüfen.

Höhere Priorität hat im Bericht der Vorschlag, die "Stationierung einer begrenzten Zahl luftgestützter Marschflugkörper an Bord von Kampfbombern in Europa" zu prüfen. Das betrifft genau jene atomaren Systeme, die nach einem Abzug der Pershing II und Cruise Missiles diesen Systemen vergleichbare militärische Aufgaben erfüllen könnten, womit der Ausschuß für eine den INF-Vertrag unterlaufende Ersatzaufrüstung plädiert. Dem entspricht, daß als wichtigster Leitsatz der NATO für Rüstungskontrolle gelten soll, daß sie die Stationierungs- und Modernisierungsziele im Sinne einer "Komplementarität" ergänzt.

Rüstungsvorsprung halten
Mit einem pragmatischem V ergehen bezüglich der konventionellen Aufrüstung will der Ausschuß erreichen, daß durch Einführung neuer Rüstungstechnologien der qualitative Vorsprung der NATO gegenüber der WVO gehalten(!) wird. Auch hier wird die Rüstungskontrolle der Aufrüstungspolitik untergeordnet: sie soll erreichen, daß die WVO-Streitkräfte durch radikale asymmetrische Verrin-gerungen auf eine "ungefähre Parität" mit der NATO abgebaut werden. Da Roth u.a, wissen, daß ihre Forderung nach einseitiger Abrüstung keine großen Realisierungschancen hat, schlagen sie kleinere Schritte wie die Diskussion über die jeweiligen Doktrinen und die Einrichtung eines Zen-trums zur Vermeidung von Krisen vor. (Siehe Minderheitenvotum von Lasse Budtz)
Gerade mit Blick auf die konventionelle Rüstung sieht der Bericht die NATO jedoch vor gravierende Probleme gestellt, weil zur heutigen Realität ein abgeschwächtes Bewußtsein um die Bedrohung, ein geringeres Rekrutenpotential in zahlreichen NATO-Staaten sowie Kürzungen bei den Rüstungsausgaben ... " gehören. Daraus ziehen Roth u.a. aber nicht den Schluß, umso aktiver auf Abrüstung zu drängen, sondern sie begründen damit die Forderung nach "effizientester Nutzung der verfügbaren Ressourcen".

Zwei besondere Herausforderungen Dem Bericht zufolge sind zwei der großen Herausforderungen für die NATO die öffentliche Meinung und - eng damit verbunden - die sowjetische Abrüstungsdiplomatie. Sorgen bereitet dem Ausschuß die öffentliche Meinung, weil sich das Bewußtsein zu Fragen der Sicherheitspolitik geschärft habe und diese aktiver erörtert würden. Hier stellt sich die Frage, welchem Demokratieverständnis diese sogenannten Volksvertreter folgen, wenn sie das gewachsene öffentliche Bewußtsein als Gefahr für ihre Politik statt als Anlaß zum überdenken ansehen und zugleich jede Alternative von vornherein für undenkbar erklären.

Im Verhältnis zu den sozialistischen Ländern sieht der Ausschuß den Westen in dem Dilemma, einerseits der diplomatischen Herausforderung der Sowjetunion gerecht zu werden, andererseits die eigene "Verteidigungsposition" aufrecht erhalten zu wollen. Aus seiner Sicht kommt erschwerend hinzu, daß die sowjetische Zielsetzung der Denuklearisierung Europas an die im Westen bestehende "öffentliche Unruhe aufgrund der Atomwaffen" anknüpfen kann. Zwar will auch der Ausschuß die Beziehungen mit dem Osten verbessern, er warnt aber zugleich davor, "so intensiv nach verbesserten OstWest-Beziehungen zu suchen, daß dabei die fundamentalen Sicherheitsbedürfnisse außer Acht gelassen werden" Als fundamentales Bündnisinteresse gilt dem Ausschuß die "Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands". Das soll die NATO weiterhin mit "oberster Priorität" anstreben. Mittel dafür soll eine "Politik auf der Grundlage von 'ausdrücklichem' Zuckerbrot und 'impliziter' Peitsche" sein. Das Zuckerbrot soll in wirtschaftlichen Vorteilen bestehen, die die sozialistischen Länder je nach Bereitschaft zur "Öffnung ihrer Systeme" mehr oder weniger oder gar nicht erhalten sollen. Also wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht zum gegenseitigen Vorteil und zur Lösung gemeinsamer Aufgaben, sondern als Instrument zur "fried-lichen" Beseitigung des Sozialismus. Dabei läßt der Bericht (bewußt?) offen, welche Rolle die angestrebte militärische Stärke spielen soll, wenn der "friedliche Wandel" nicht durchsetzbar ist.

Zwar erkennen die Ausschußmitglieder, daß im Wettbewerb zwischen Ost und West "der Erfolg oder Mißerfolg in Friedenszeiten weitestgehend an der Lebensqualität gemessen wird". Dennoch scheuen sie sich, daraus die Konsequenz zu ziehen, und eine eigene Abrüstungspolitik zu entwickeln, die Spielräume für die Erfüllung drängender ziviler Aufgaben wie Überwindung der Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, soziale Beherrschung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und Hilfe für die "3. Welt" schaffen könnte.

Während viele Menschen angesichts der globalen Probleme nach neuen, friedlichen Formen internationaler Zusammenarbeit suchen, schlägt der Ausschuß die Bildung einer "Westlichen Arbeitsgruppe über globale Sicherheitsfragen" vor. Sie soll unter Einbeziehung von Japan und anderen westlichen Staaten, die nicht der NATO angehören, vor allem das Vorgehen gegenüber Ländern der ''3. Welt" koordinieren. Roth u.a. denken dabei an sich ergänzende nationale und bilaterale Eingreifformen einschließlich militärischer Interventionen einzelner westlicher Staaten.

Der NA V-Bericht setzt allen Erkenntnissen über die Notwendigkeit politischer Friedenssicherung und gleichberechtigter Zusammenarbeit zum Trotz das alte militärisch fixierte Schmalspurdenken fort. Mit Demokratie, Freiheit des Einzelnen und Herrschaft des Rechts lassen sich aber weder die Instrumentalisierung der Bürgerlnnen als Stimmvieh noch das Festhalten an atomarer Vernichtungsdrohung und ebenso wenig eine Politik mit Zuckerbrot und Peitsche vereinbaren. Wenn schon Wertegemeinschaft, dann nicht mit solchen militärischen Abenteurern, sondern die der Menschen und Völker, die solidarisch für die eine, unsere gemeinsame Welt arbeiten.
 

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