Die zu neuer Stärke erwachte Anti-AKW-Bewegung will endlich die Stilllegung der Atomkraftwerke durchsetzen

„Mit dem Frieden ums Atom ist es vorbei“

von Jochen Stay

Mit der größten Demonstration seit dem Tschernobyl-Jahr 1986 hat sich die Anti-AKW-Bewegung am 5. September in Berlin eindrucksvoll zurückgemeldet. Mehr als 50.000 Menschen waren unter dem Motto „Mal richtig abschalten“ drei Wochen vor der Bundestagswahl zusammengekommen, um den Druck für einen wirklichen Atomausstieg zu erhöhen.

Die Kommentare in den Tageszeitungen zeigten am nächsten Tag, dass die Botschaft der Demonstration angekommen ist: „Mit dem Frieden ums Atom ist es nun vorbei“ schrieb die Süddeutsche Zeitung. Und weiter: „Ein Kurswechsel in der Atompolitik wird politisch kaum durchsetzbar sein.“ In der Mitteldeutschen Zeitung war zu lesen: „Das unterscheidet die Anti-Atom-Bewegung von den etablierten Parteien: Die Anhänger des "Atomkraft - Nein Danke" kennen keine Nachwuchs-Probleme. (…) Was vor 30 Jahren als Verhinderungskampagne in Wyhl, Wackersdorf, Kalkar und Brokdorf begann, das hat sich verstetigt, verfestigt, verjüngt. (…) Die Anti-Kernkraft-Bewegung verkörpert eine Meinungsmacht, mit der zu rechnen ist.“

Die Frankfurter Rundschau kommentiert: „Die protestentwöhnte Republik reibt sich die Augen. (…) Die Anti-Atomkraftbewegung ist wieder da. So stark wie seit fast einem Vierteljahrhundert nicht mehr, Und so verjüngt, dass man kaum merkt, dass seit den ersten Bildern von einer Gorlebener Treckerkarawane schon 30 Jahre ins Land gegangen sind. (…) Das war Protestkultur vom Feinsten. (…) Das Erfrischende an dieser Anti-Atom-Demonstration war: Sie war Wahlkampf von unten. Mit Parteipräferenzen liebäugelnd, aber nicht an Parteiloyalitäten gebunden, stellten da einige Zehntausend den Wahlkampf vom Kopf auf die Füße. Keine Parteien-Versprechen ans schweigende Stimmvolk. Umgekehrt: eine Wähler-Ansage an die Politik, womit sie rechnen muss nach dem 27. September. (…) Gewiss, wie kurz oder wie lange in Deutschland Atomkraftwerke noch laufen, wird nicht die Wahl entscheiden.(…) Aber jede künftige Regierung kann nun wissen, worauf sie sich einstellen muss, wenn sie die Atomlobby mit längeren Laufzeiten für ihre Meiler bedient. (…) Die politische Spaltkraft der Nukleartechnik hat offenbar eine längere Halbwertzeit, als einige vermuteten. Dieses Potenzial ist weit größer als die Schar der Demonstranten. Es kann durchaus zur kritischen Masse werden.“

Und schließlich die taz: „Allein wird diese Kundgebung zwar weder den Wahlausgang noch die anschließende Politik entscheiden. Doch sie ist ein eindrücklicher Beleg für die Stimmung im Land - und die lässt die Chancen der Atomindustrie auf längere Laufzeiten derzeit rapide sinken. (…) Die Demonstration hat bewiesen, dass die nächste Generation mindestens so engagiert dabei ist wie die vorhergehende. (…) Die VeranstalterInnen der Demonstration haben auf Distanz zu den Parteien geachtet. Strategisch ist das klug. Denn nur wenn die Bewegung nicht als Anhängsel einzelner Parteien wahrgenommen wird, kann sie ihre ganze Breite entfalten. Und nur dann kann sie nach den Wahlen weiter Druck ausüben, unabhängig davon, wer dann verhandelt. Dass ein Aufkündigen des Atomkonsenses gesellschaftliche Konflikte zurückbringen kann, hat die Demonstration jedenfalls eindrücklich gezeigt.“

Die Atomlobby hat angekündigt, der Politik direkt nach der Wahl ein konkretes Angebot zu machen. Gibt es Laufzeitverlängerungen für die Atomkraftwerke, dann wollen die Stromkonzerne einen Teil ihrer zusätzlichen Gewinne abgeben, um so die Öffentlichkeit milde zu stimmen. Trotz aller Festlegungen im Wahlkampf ist derzeit überhaupt nicht absehbar, wie sich die Parteien in Koalitionsverhandlungen atompolitisch positionieren. Deshalb will die Anti-AKW-Bewegung unabhängig von Ausgang der Bundestagswahl weiter Druck machen. In der Zeit der Koalitionsverhandlungen werden in Berlin und in der ganzen Republik ständig Aktionen laufen. Das Ziel: Der lang versprochene Atomausstieg muss endlich umgesetzt werden. Die Atomkraftwerke müssen stillgelegt werden.

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