"Modernisierung" der Atomwaffen

von Andreas Zumach

Kein Zweifel: Ähnlich wie mit der angeblichen "Verschiebung" der Entscheidung über die "Modernisierung" der atomaren Kurzstreckenraketen wird die NATO bis zu ihrem Gipfeltreffen am 29./30. Mai in Brüssel auch einen Formelkompromiß in der Frage von Ost-West-Verhandlungen über diese Waffensysteme finden, mit dem die Regierungen in Bonn, Washington und London ihr Gesicht wahren können.

Wahrscheinlich wird in das vom Gipfel zu verabschiedende "Gesamtkonzept" der Allianz eine allgemeine, unverbindliche Bereitschaftserklärung zu solchen Verhandlungen aufgenommen, ohne zeitlich Festlegung und ohne eine konkretes Verhandlungsmandat, aber geknüpft an die Bedingung substantieller Fortschritte bzw. erster Ergebnisse bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte. Gleichzeitig dürfte eine Null-Lösung bei atomaren Kurzstreckenwaffen - als Verhandlungsergebnis ausdrücklich ausgeschlossen werden. Die Bundesregierung wird versuchen, diesen Formelkompromiß als ihren Erfolg zu verkaufen. Tatsächlich aber werden Verhandlungen vor allem durch das Junktim mit Wien auf die lange Bank geschoben. Wer - wie die Regierungen in London und Washington - gegen Kurzstreckenraketenverhandlungen ist, braucht nur zu bremsen und Fortschritte verhindern. Das Junktim mit Wien soll auch die Stationierung neuer Atomraketen in der Bundesrepublik ab 1995 sichern. Denn die Koalition hat zugesagt, "1992 unter Berücksichtigung der Ergebnisse aller Abrüstungsverhandlungen über die Einführung eines Lance-Nachfolgesystems zu entscheiden. Das Ergebnis dieser Prüfung ist - auch angesichts der hinhaltenden Taktik der USA bei den Genfer START- und Chemiewaffenverhandlungen - absehbar. Derweil verbreitet die Bonner Koalition das Märchen, "Ob, Wie und Wann" der "Modernisierung" seien noch völlig offen; die Entwicklung einer Lance--Nachfolgerakete in den USA sei eine "rein nationale Angelegenheit der USA" ohne Mitverantwortung der Bündnispartner und bedeute auch keinerlei Präjudizierung künftiger Entscheidungen. Tatsächlich hat die Bundesregierung seit dem Grundsatzbeschluß über die "Modernisierung" 1983 in Montebello  an allen NAT0-Entscheidungen über deren Umsetzung mitgewirkt. Zuletzt bei der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe im April. Mit Hilfe des Kommuniques dieser Tagung, in dem die NATO-Partner die Entwicklung neuer Atomwaffen in den USA ausdrücklich begrüßen, wird die Bush-Administration im Juli dieses Jahres vom Kongreß die notwendigen Haushaltsmittel für die zweite Entwicklungsphase der Lance-Nachfolgerakete erhalten. Auf diese Weise, vorbei an den Parlamenten und der Öffentlichkeit der westeuropäischen NATO-Staaten fanden in den letzten 40 Jahren Entwicklung, Produktion und Einführung sämtlicher Atomwaffen der NATO völlig ungehindert statt. Dieser Prozeß wurde zum erstenmal mit der öffentlichen Auseinandersetzung um die Stationierung der Pers¬hing II und Cruise Misseles gestört, allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als diese Waffen längst fertig entwickelt und produziert waren. Die jetzige Debatte um die "Modernisierung" hat viel früher begonnen. Darin liegt auch die Chance, die Stationierung der neuen Atomwaffen zu verhindern. Das wird allerdings nur gelingen, wenn das Kalkül der Bonner Koalition nicht auf¬geht, das Thema mittels der jetzt gefundenen Formelkompromisse in den kommenden 18 Monaten bis zur Bundestagswahl am 8. Dezember 1990 aus den Schlagzeilen zu verbannen. Deswegen muß die Friedensbewegung öffentlichen Druck machen für die Forderung nach einem formellen Veto der Bundesregierung in den NATO-Gremien geien die "Modernisierung". Dazu gibt es auch über den Gipfel Ende Mai hinaus ausreichend Gelegenheit; etwa bei den Tagungen der Nuklearen Planungsgruppe im Oktober 89 sowie im April und Oktober 1990. Für diese Forderung gilt es auch noch die beiden Oppositionsparteien im Bundestag, SPD und Grüne, zu gewinnen. Nur durch eine solches formelles Veto könnten einstimmige Beschlüsse in den NATO-Gremien verhindert werden. Für den US-Kongreß wäre dies eine Signal, 1990 keine weiteren Haushaltsgelder für die neuen Atomwaffen zu bewilligen.
Zweitens sollte die Friedensbewegung fordern, die als Teil des "Moderniserungs"paketes für 1990 vorgesehene Stationierung neuer atomarer 155-Millimeter-Artillerie zu unterlassen sowie die bereits begonnen Dislozierung des Mehrfachraketenwerfers MARS zu stoppen. Offiziell derzeit lediglich als Werfer für Raketen mit konventionellem Sprengkopf eingeführt, ist er auch als Abschußgerät für die atomare Lance-Nachfolgerakete vorgesehen und stellt damit praktisch »Volle Deckung! Schon wieder greifen die Russen an« bereits 50 Prozent der "Modernisierung" im Bereich der Kurzstreckenraketen bis 500 Kilometer Reichweite dar. Schließlich wäre es Aufgabe der Friedensbewegung, die Verengung der bundesdeutschen wie NATO-weiten Debatte auf die bodengestützten Kurzstreckenraketen aufzubrechen und die Aufmerksamkeit auf die im Zuge der "Modernisierung" ebenfalls vorgesehene Bestückung von US-Flugzeugen in der Bundesrepublik und Großbritannien mit weitreichenden Abstandsraketen zu lenken. Es sind diese Waf¬fen mit Reichweiten von bis zu 1500 Kilometern (zusätzlich zur Flugzeug¬reichweite), mit denen die durch den INF-Vertrag "verlorengegangenen" militärischen Optionen gegen sowjetisches Territorium wiedergewonnen werden sollen. Ihre Entwicklung läuft in den USA wie in Großbritannien bereits auf Hochtouren. Die USA beabsichtigt die Bestückung ihrer Flug¬zeuge (F-16, F-111, F-15 E, Tornado) mit diesen neuen Waffen ohne Zustimmung der Bündnispartner. Aber auch Gegner bodengestützter Atomwaffen mit kurzen Reichweiten in der Bonner Koalition haben gegen- diese Systeme nichts einzuwenden und set¬zen darauf, daß auch künftig keine öffentliche Debatte über die luftgestützten Abstandswaffen entsteht.

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