Protokoll über eine Reise des Schreckens

Mut zum Frieden

von Angelika Beer
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Um die in den öffentlichen Medien weitestgehend ignorierte Opposition im zerfallenen Jugoslawien zu unterstützen, ist auf Initiative des Bun­desvorstandes zum Anti-Kriegs-Tag am 1.9. eine kleine Delegation nach Kroatien und Bosnien-Herzegowina gefahren. TeilnehmerInnen waren Marijana Grandits (Grüne Abgeordnete aus Österreich) Claudia Roth (MdEP) und ich für den Bundesvorstand der GRÜNEN.

Wie schon unser Flugzeug von Frank­furt nach Zagreb, das nicht Touristen sondern Blauhelme nach Kroatien brachte, haben die Passagiere unseres  Anschlussflug mit Croatien Airlines nach Split nichts mit Sommerferien an der Adria zu tun. Die Landebahn in Split ist Umschlagplatz für internatio­nale Hilfslieferungen. Lastwagen des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) und Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) verschlingen die Säcke und Pa­kete mit Medikamenten und Nahrungs­mitteln, um sie weiter nach Bosnien-Herzegowina zu bringen. Während un­seres Aufenthaltes in Bos­nien erfahren wir später von mehreren Seiten, daß die Hilfe nicht immer dort ankommt, wo sie benötigt wird.

Von weitem sieht Split aus wie in Ur­laubskatalogen und auf Postkarten an­gepriesen. Erst von nahem registriere ich Zerstörung, mit Klebestreifen verse­hene Fensterscheiben, die dem Glas Stabilität gegen Druckwellen verleihen sollen. Unser "Hotel Split" liegt direkt am Meer. Der Parkplatz ist belegt mit Fahrzeugen von UNHCR, IKRK, EG und UN. Die Etagen des 4-Sterne Hotels sind entsprechend aufgeteilt, im 2. Stock sind Flüchtlinge untergebracht. Wäh­rend die EG-Beobachter trotz gepan­zerter Wagen von Daimler Benz eine Fahrt nach Mostar (Bosnien) für zu ge­fährlich halten, treffen wir einen orts­kundigen Taxifahrer und machen uns auf den Weg.

Kalkül und Gleichgültigkeit gegen­über dem Genozid an den Moslems

Die Kommandozentrale der HVO ist wegen anhaltender Kämpfe in Mostar nach Grude (beides Bosnien) verlegt worden. Beim Gespräch mit dem frühe­ren Sozialminister Bosniens in Grude versuchen wir nähere Informationen über die in der Nähe von Bihac einge­schlossenen 300.000 Moslems zu be­kommen. Statt hierauf einzugehen deu­tet er auf "latente Schwierigkeiten" mit den Muslimen hin. Zwar würde man im Moment zusammen die Serben bekämp­fen. Aber die muslemischen Truppen stünden immer erst in der zweiten Reihe, während die Kroaten und Bosnier in der ersten Frontlinie kämpften. Schon heute würde sich als Problem abzeich­nen, daß die Muslimanen Anspruch auf Zentral-Bosnien als eigenen Staat an­melden würden. Deshalb halte er eine spätere Kantonisierung des zurzeit zu 2/3 von Serben besetzten Bosniens für die beste Möglichkeit. Mit den Serben und Kroaten könne man sich schon ei­nigen. Daß diese Kantonisierung kein eigenes Gebiet für die muslemische Be­völkerung vorsieht, verschweigt er.

Massengräber in Mostar

Bevor wir in Mostar die Kinderbotschaft aufsuchen, halten wir an einem der vielen kleinen Friedhöfe. Frisch aufge­worfene Gräber zwischen ausgebombten Häusern. Die provisorischen  Holz­kreuze machen deutlich: Kinder gehören zu den täglichen Kriegsopfern.

Drei Massengräber zeugen vom Geno­zid an der muslemischen Bevölkerung durch Serben. Weil selbst Beerdigungen angegriffen werden, hat man nachts die Ermordeten aus den Massengräbern ge­holt, um sie richtig zu begraben. Eine im Keller eines zerbombten Hauses woh­nende Familie nimmt Kontakt mit unse­rem Fahrer auf, um ihm eine Nachricht für eine Familie in Split zu übergeben. "Bitte sag ihr, daß wir ihren 2. Bruder in einem der Gräber gefunden haben. Sie braucht nicht mehr schreiben, nicht mehr suchen."

Kinderbotschaft ohne Kinder

Die Kinderbotschaft in Mostar ist auf Initiative von muslimischen Bewohnern Mostars und des Anti-Kriegs-zentrum in Zagreb entstanden. Es wird mit Spenden - auch aus Deutschland - unterstützt. Hier wurden - bis zur Bombardierung vor wenigen Tagen - 50 Waisenkinder untergebracht und versorgt. Jetzt sind sie in Waisenhäusern in Dalmatien (Kroatien) untergebracht. Verzweiflung und Schock über den Tod eines der freiwilligen Mitarbeiter der Kinderbot­schaft durch den Bombenangriff steht den Überlebenden deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber sie wollen hier wei­terarbeiten. Packen kleine Plastiktüten aus den Hilfslieferungen zusammen, um die in und um Mostar lebenden Kinder so gut es geht mit Trockenmilch, Grundnahrungsmitteln und Medika­menten zu versorgen.

Zivilisten - die Opfer des Bürger­krieges

Der Angriff auf die Kinderbotschaft war kein Versehen. In diesem Krieg werden gezielt alle zivilen Einrichtungen, Wohnhäuser, selbst Krankenhäuser bombardiert. Die Menschen leben in den Überresten ihrer Häuser oder sitzen am Straßenrand auf Säcken, in denen ihr letztes Hab und Gut gebündelt ist. Seit einem Erlass Tudjmans dürfen sie nur noch nach Kroatien fliehen, wenn sie schriftlich nachweisen können, daß sie dort Familie haben und aufgenommen werden. Diesen Nachweis zu erbringen ist so gut wie unmöglich in einer Re­gion, wo es nicht mal Kommunikations- oder Kontaktmöglichkeiten zur nächsten Stadt gibt. Sie sind schutzlos den an­haltenden Bombardierungen ausgesetzt. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, nach Kroatien zu fliehen, wäre ihr Auf­enthalt dort ungewiß. Das neue Staats­bürgerschaftsgesetz Tudjmans erfor­dert ein Bekenntnis zum "Kroatentum". Wer dieses nicht ablegt und die kroati­sche Staatsangehörigkeit nicht be­kommt, ge­hört auch dort zu den Unter­drückten und Verfolgten. Die heute noch als Woh­nung benutzten Ruinen werden im Winter keinen Schutz vor der Kälte bieten; die heute auf ca. 1 Million ge­schätzte Zahl der "displaced people" in­nerhalb Bosnien-Herzegowinas wird sich weiter erhöhen. Ein IKRK-Vertre­ter fordert Soforthilfe-Programme der Vereinten Nationen: Winterhilfe, Medi­kamente und Nah­rungsmittel müssten sofort - vor dem be­vorstehenden Kälte­einbruch - in großem Umfang geliefert werden.

Der weitere Weg nach Konjic ist von Ruinen gekennzeichnet. Jedes Wohn­haus am Straßenrand wurde gezielt bombardiert. Nicht ein einziges wurde übersehen. Ich bin schockiert von der strategischen Vernichtung menschlichen Lebens. Die ebenfalls zerstörten Brücken in dieser bergigen Region wurden inzwischen provisorisch wieder so auf­gebaut, daß die Hilfstransporte nach Sa­rajewo kommen können.

Hass: die grausamste Waffe

Konjic liegt 56 km vor Sarajevo. In ei­nem abgedunkelten Schutzraum können wir mit dem moslemischen Komman­danten sprechen, der von dem gerade stattgefunden Granatenangriff der serbi­schen Truppen, die von  den Bergkäm­men aus angreifen, erzählt. Die Zahl der Opfer der 32 Granaten ist ihm noch nicht gemeldet worden. Er fordert die Aufhebung des Embargos und sofortige Waffenlieferungen, damit sie sich besser verteidigen und Sarajevo be­freien kön­nen. Im Fernsehen sehen wir Bilder von CNN über ein gerade stattge­fundenes Massaker an Zivilisten in Sa­rajevo und danach eine Sendung des serbischen TVs: Brandanschlag auf ein Gebäude, untätige Polizisten im Hinter­grund. Ich brauche einen Moment, bis ich erkenne, daß es Bilder aus Rostock sind. Nach dem Anblick der Massen­gräber in Mo­star, dem Granatenangriff in Konjic, funktioniert das Feindbild der einseiti­gen Schuldzuweisung gegen "die Ser­ben" fast auch in meinem Kopf. Doch wenig später prägen sich unvergessliche Bilder ein und die Einsicht, daß das Streben nach gegenseitiger Ver­nichtung in diesem Krieg keine Einsei­tigkeit der Schuldzuweisung erlaubt.

Hass - Gräuel und Internierungslager - auf allen Seiten.

Bevor wir uns auf den Rückweg ma­chen, erhalten wir die Genehmigung, ein Gefangenenlager zu besichtigen, in dem 99 Serben untergebracht sind und das von einem kroatischen und einem mus­lemischen Offizier geleitet wird. Es be­findet sich auf dem Gelände einer ehe­mals jugoslawischen Kaserne.

Vor der Unterkunft der Soldaten plärrt ein Radio, mit Alkohol und "Rambo-Spielen" wird der Geburtstag des kroati­schen Kommandanten gefeiert. Wenige Meter davon ein garagengroßes, fen­sterloses Gebäude, das uns als Kranken­haus vorgestellt wird. 11 Feldbetten, 11 blasse Gesichter auf Körpern, die versu­chen aufzustehen, als die Eisentür vom Kommandanten geöffnet wird. "Seit wann seid Ihr hier? "Mai". "Wo kommt Ihr her?" "Hier aus der Gegend um Konjic." "Habt Ihr gekämpft, als Ihr in Gefangenschaft genommen wurdet?" "Ja und Nein". Wir werden weiterge­führt zu einer von drei großen Hallen. Den Raum betretend kann ich erst nur den blank geputzten Betonfußboden er­kennen.  Die Luft ist schlecht, kaum Sauerstoff, ein scharfer Geruch. 89 Menschen sitzen dort, mit den Rücken an die Hallenwände gelehnt. 89 Paar Schuhe vor sich aufgereiht. 89 Augen­paare blicken durch uns durch, reagieren nicht. Tote Augen. 10 Menschen hocken um eine Blechschüssel rum, jeder ver­sucht, mit seinem Blechlöffel etwas von der wässrigen Brühe aus dem Blechnapf zu schöpfen. Das dadurch entstehende Klappern zerreißt die bedrückende Stille, begleitet uns noch, als wir längst wieder auf dem Rückweg sind, mischt sich mit den Gesichtern dieser Männer und der Art, wie sie gehalten werden. Zynisch erklärt uns der muslemische Kommandant: "Sie wollten ihren serbi­schen Kanton, jetzt haben sie ihn"...

Zurück in Split wird uns versichert, daß in diesem Lager nicht 99 sondern 287 Menschen registriert wurden. Wo wa­ren die anderen 184 Menschen?

Menschenrecht ist unteilbar

Zwischen Frankfurt und Konjic liegen ca. 1000 km Flugstrecke und 1 1/2 Stunden Flugzeit. Während hier in Deutschland die Diskussion, ob durch eine militärische Intervention der Krieg beendet werden kann, geführt wird, tobt im früheren Jugoslawien ein Krieg mit unzähligen Fronten. Wenn auch die Hauptverantwortung bei Serbien liegt, zählt heute das Motto "Auge um Auge, Zahn um Zahn".

Sowohl in Serbien als auch in Kroatien und Bosnien hat die von den Regierun­gen zu verantwortende Kriegspsycholo­gie und Politik der verbrannten Erde die Mehrheit der Bevölkerung radikalisiert. Hass der einen gegen die anderen führt zu einem System gegenseitiger Ver­nichtung und ethnischer Säuberung. Der frühere grüne Abgeordnete xxx, heute Professor in Split, berichtet über Säube­rungsmaßnahmen in Kroatien gegen dort lebende Serben. Befürchtet, selbst irgendwann betroffen zu sein, weil er sich für die Wahrung der Menschen­rechte, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, einsetzt. Menschen­rechtsorganisationen in Kroatien? Nein, die gibt es nicht. Verfolgte sind der Unterdrückung schutzlos ausgesetzt, werden nachts unter Waffengewalt ge­zwungen, ihre Wohnungen in Split zu verlassen. Nicht immer sind es Militärs. Eine Waffe hat hier jeder - die Regie­rung in Zagreb hat noch kein  einziges Mal Unrecht und Gewalt verurteilt - auch wenn die Schuldigen bekannt wa­ren. Dies unterstützt auch in Split Selbstjustiz  der Kroaten gegen Minder­heiten. 2 Serben suchen uns nachts im Hotel auf - verzweifelt - hoffnungslos - entwürdigt durch Folter und Gewalt.

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Angelika Beer ist Verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.