Über die vorläufigen Gerichtsurteile gegen die #Istanbul10 und Taner Kılıç

Nach dem Prozess ist vor dem Prozess

von Peter Steudtner
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Am 3. Juli 2020 – fast genau drei Jahre nach unserer Festnahme am 5. Juli 2017 – ergingen die vorläufigen Urteile gegen uns #Istanbul10 und Taner Kılıç. Schockierend: Haftstrafen in Höhe von sechs Jahren, drei Monate gegen Taner Kılıç, jeweils zwei Jahre und einen Monat gegen Idıl Eser, Özlem Dalkiran und Günal Kurşun. Wir anderen sieben wurden mangels Beweisen freigesprochen. Noch schmerzhafter: Die Staatsanwaltschaft legte sofort Widerspruch gegen die Freisprüche für Veli Acu und Nejat Taştan ein. Und natürlich legten auch die zu Haftstrafen Verurteilten Widerspruch gegen die völlig ungerechtfertigten Urteile ein.

Bislang sind nur die nicht-widersprochenen Freisprüche rechtskräftig. Und für mich fühlt es sich auch (noch) nicht wie „freigesprochen“ an. Aus zwei Gründen: Zum einen fühle ich mich nicht frei, solange einem Teil von uns #Istanbul10 noch Haftstrafen drohen. Zum anderen wissen wir spätestens seit der Inhaftierung von Doğan Akhanlı im Herbst 2017 in Spanien, dass die türkische Justiz auch uralte Verfahren wieder aufrollt und dies auch durch den langen Arm von Interpol per internationalem Haftbefehl umsetzen lässt, was für mich konkret bedeutet, dass ich privat wie beruflich in viele Länder nicht reisen kann.
In der aktuellen Situation kommt es jetzt für uns also darauf an, den internationalen Druck und die Aufmerksamkeit der Medien weiter auf unserem Fall zu halten, damit die türkische Justiz und Regierung nicht den Fall als abgeschlossen werten oder unendlich in die Länge ziehen können. Aus anderen Verfahren, wie denen gegen die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, wissen wir, dass sich diese Verfahren auch nach Urteilen über mehrere Jahre ziehen können. Auf der anderen Seite ist die aktive Solidarität mit den Verurteilten in dieser Zeit der Unsicherheiten extrem wichtig. Persönliche Karten und Briefe, öffentliche Solidaritätsaktionen, finanzielle Unterstützung für die Anwaltsteams, Leser*innenbriefe, Social-Media-Posts, Medienkommentare etc. bringen neben der öffentlichen Aufmerksamkeit auch viel positive Energie und praktische Unterstützung.

Für mich persönlich waren die letzten zweieinhalb Jahre seit der Freilassung Ende Oktober 2017 vor allem auch von verschiedenen „Aufarbeitungsprojekten“ geprägt. Dank eines erfolgreichen Crowdfundings konnte ich mich zeitweise sehr intensiv mit den kreativen und auswertenden Projekten beschäftigen, wie einer Gruppenbeteiligung an der Kunsttriennale „Bergen Assembly“, Norwegen, auf der ich zum einen die Hängematte der Solidarität (handgeknüpft aus dünnen Seilen, die mit allen Solidaritätsbotschaften, die mich erreichten, bedruckt sind), eine Videoinstallation zu unserem Verfahren kombiniert mit zwei anderen sehr persönlichen Haftgeschichten aus dem Sudan und Chile, und der Vorversion des „Preparing4Prison“-Guides, einer Website mit Inspiration und Erfahrungen zu politischer Haft für Inhaftierte, deren Familien, Anwält*innen und Unterstützenden. Hinzu kommt eine kontinuierliche Auswertung der Erfahrungen mit dem Krisenmanagement für uns #Istanbul10, welche der Arbeit anderer Krisenteams zu Gute kommt.

Ein großer Teil meiner Zeit und Kraft floss in dieser Zeit auch ins Erzählen von meinen und unseren Erfahrungen in verschiedensten Formaten: Gemeindeabenden, Solidaritäts-Erzähl-Konzerten, Hintergrundgesprächen mit Menschenrechtsorganisationen und auch Politiker*innen. Dabei habe ich diese „Erzählarbeit“ Anfang diesen Jahres fast aufgehört, da das wiederholte Erzählen der Gefängnisrealitäten doch zu anstrengend wurde und ich die Kraft lieber in kreativere Bahnen lenken wollte.

Jetzt nehme ich die „Erzählarbeit“ in anderen Formaten wieder auf, um Aufmerksamkeit auf unseren Fall (und auch auf die von Osman Kavala, Eren Keskin, Hozan Cane und anderen) zu lenken: In den Podcast-Serien „In extremen Köpfen“ und „180 Grad“ blättere ich die Erfahrungen nochmals auf und verbinde sie mit den aktuellen Erfahrungen der Unsicherheit der Verurteilten #Istanbul10 und der Wichtigkeit von Solidaritätsarbeit.

Doğan Akhanlı schreibt in seinem beeindruckenden Buch „Verhaftung in Granada oder Treibt die Türkei in die Diktatur?“ von der „Magie der Solidarität“. Dies scheint mir auch in der aktuellen Corona-Situation einer der Schlüssel für nachhaltige Menschenrechtsarbeit zu sein. Zusammen mit „Self- und Community care“, also der individuellen und gemeinsamen Sorgearbeit, kann aktive Solidarität dazu führen, dass wir unseren Aktivismus viel länger beibehalten können – wenn auch vielleicht in unterschiedlichen Intensitäten. Die kleiner werdenden Aktionsräume der Zivilgesellschaft – Shrinking Spaces – in vielen Ländern und Regionen zeigen uns, dass wir einen langen Atem brauchen. „Care is resistance“, dieser Satz von Audre Lorde erinnert uns daran, dass wir noch viel stärker unser Augenmerk auf die Unterstützungsstrukturen in Krisensituationen richten sollten: Zum Beispiel Partner*innen, die viel praktische und emotionale Arbeit in das Aufrechterhalten von Familie in den Krisen investieren, Unterstützungsgruppen, die enorm schwierige Entscheidungen treffen müssen, ob bestimmte Solidaritätsaktionen eventuell mehr Schaden anrichten könnten, als sie nutzen, und so weiter. Da bleibt uns noch viel wahrzunehmen und auszuwerten: „Nach dem Prozess ist vor dem Prozess!“

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Peter Steudtner ist freiberuflicher Trainer für Holistic Security und gewaltfreie Konflikttransformation für Menschenrechtsaktivist*innen, Dokumentarfotograf und -filmemacher. Zuzeit macht er umfassende Sicherheitsbegleitungen als Digital Integrity Fellow für die Digital Defenders Partnership / Hivos in den Niederlanden und für die KURVE Wustrow - Bildungs- und Begegnungsstätte für Gewaltfreie Aktion. 2017 wurde er bei einem Workshop zum Umgang mit Stress und Traumata und Datensicherheit in der Türkei gemeinsam mit seinem Mittrainer und acht Teilnehmenden festgenommen und erst nach 113 Tagen wieder freigelassen #Istanbul10.