Leserbrief

Nationale Selbstbestimmung nicht missachten

von Volker Wirth
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Friedensfreunde, 
ich kannte Ihre Zeitschrift "Friedensforum" bisher nicht und habe sie mit Interesse gelesen. Aber auch mit wachsendem Erstaunen! Im Gegensatz zu sehr vielen Deutschen empfinde ich die gewaltige Gefahr, die erneut über diesem Land schwebt. Leider wird Ihre Publikation dem gar nicht gerecht.

Sie beginnen mit der an sich ja richtigen Suche nach einem Kriegsende am Verhandlungstisch, also anscheinend logisch mit Mark Milley. M.E. verkennen Sie, dass sich dahinter zwei Dinge verbergen dürften:

(a) Der Versuch, zu einem "Minsk-3" zu kommen, um erneut die Ukraine aufzurüsten und genau das zu wiederholen, was M. Hollande und Frau Merkel zugegeben haben: Zeit gewinnen, um zu rüsten, was das Zeug hält, und dabei die Wiedervereinigung der russischen Gebiete der Ukraine mit Russland zu verhindern, um endlich in den Besitz der Krim und damit der Dominanz im Schwarzmeerraum zu erreichen.

(b) Die Konzentration der USA auf den Hauptfeind China, während in der Ukraine erst die Ukrainer, dann die Europäer kämpfen sollen - polnische und georgische Truppen (und nicht nur individuelle Freiwillige) sind ja schon dabei! Unterschlagen wird, dass es Ende März des Vorjahres aussichtsreiche Gespräche in der Türkei gab - was wurde daraus? Dass es nicht um "die Menschen" in der Ukraine geht, sondern um ein chauvinistisches, russophobes Regime, das - wie der gesamte angeblich „menschenrechtsorientierte" Westen - jeden Hinweis auf den binationalen Charakter der Ukraine zurückweist, dementsprechend auch die Hälfte der Bürger*innen der Ukraine ihrer nationalen Rechte beraubt, wird unterschlagen. 

In Belgien hat man nach 130 Jahren eine Struktur des Staates gefunden, die dem binationalen Charakter desselben gerecht wird, und in der früheren Tschechoslowakei hat man sich friedlich getrennt - in der Ukraine aber wird der Tatbestand der Zweisprachigkeit bzw. Binationalität einfach geleugnet - und der „menschenrechtsorientierte" Westen macht das mit! Es geht schon längst nicht mehr um einen Sonderstatus für den Donbass (Vorstellungen von Wolfgang Richter) - es geht um die Gleichberechtigung von Ukrainer*innen und Ukraine-Russ*innen. Wer sich die Mühe macht - die Redaktion wohl nicht!? - sich mit den Oblasti zu beschäftigen, die unter Janukowitsch Russisch als zweite Amtssprache einzuführen begonnen hatten (der Maidan machte das wieder zunichte), der weiß, dass es sich um eine ähnlich kompakte Gebietsmasse handelt wie im Falle der wallonischen bzw. flandrischen Provinzen Belgiens (nur Brabant wurde an der Sprachgrenze geteilt), dass also eine ähnliche Lösung möglich wäre, wenn man sie nur wollte. Die Kiewer Ultranationalist*innen aber wollen sie nicht, folglich will sie der „werteorientierte" Westen auch nicht - und das FriedensForum kennt anscheinend das Problem gar nicht! 

Vielleicht darf man daran erinnern, dass zwischen 1849 und 1864 die deutschsprachige Bevölkerung von Holstein und Süd-Schleswig um ihre nationale Selbstbestimmung kämpfte, dass aber erst der Interventionskrieg nicht des Deutschen Bundes (dem Dänemark ja auch, für Holstein und Lauenburg, angehörte), sondern Preußens und Österreichs ihr in reaktionärer Weise diese Selbstbestimmung brachte, nämlich letztlich als preußische Provinz(en) - mit dem Ergebnis, dass nun die Dänen im Norden der Provinz Schleswig ihre nationale Selbstbestimmung verloren (bis 1918-19 bekanntlich). 

Der nationale Nihilismus der deutschen Linken lässt sie, wie man weiß, auch die nationalen Kämpfe der Basken, Katalanen, Gallegos, Bretonen, Schotten, Saamen (Lappländer), Elsässer und Ost-Lothringer, Sarden, Sizilianer, Friauler, Serben in Kroatien und Bosnien, Albaner in Nordmazedonier und last but not least der Russen in Ost-Estland und Ost-Lettland sowie der Osthälfte der Ukraine gleich in die reaktionäre Ecke stellen - außer wenn sie der NATO (wie im Kosovo 1998-99) ins Konzept passten! Aber so geht das nicht!

Gut ist, dass Steinbicker dann aber auf sofortigen Verhandlungen und sofortigem Waffenstillstand besteht (auch ohne an den Abbruch Ende März 2022 zu erinnern, ist das unbedingt zu unterstützen!). Gut ist auch der Beitrag von Lühr Henken und darin das Zitat von Susann Witt-Stahl, wonach „die meisten Ukrainer*innen ...nicht bis zum letzten Blutstropfen kämpfen" wollten und sich viele der Mobilisierung zu entziehen suchen. Es hindert aber offenbar die Redaktion nicht, sich bei der Thematik der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren auf die russische Seite des Konflikts zu konzentrieren (OK, ich kenne nur diese eine Ausgabe des FriedensForums). Ich hoffe nicht, dass da im Hinterkopf die böse Idee von den guten (auf russischer Seite) und den schlechten (auf ukrainische Seite) KDVern und Deserteuren steckt.

Aus den dargelegten Gründen ist es extrem „blauäugig", als Vorbedingung zu formulieren, Russland müsse sich aus der Ukraine (in den Grenzen von 1991) zurückziehen - nein, es ist kriegsverlängernd! Friedensfeindlich! Leider steht das überall quasi als Vorbedingung von Verhandlungen! So auch bei Frau Rösch-Metzler. Die Rückkehr an den im März 2022 verlassenen Verhandlungstisch in Istanbul, also die Aufhebung des Werchowna-Rada-Gesetzes, das jegliche Verhandlungen verbietet, muss wirklich reichen, sonst reden wir nicht vom Frieden, sondern von Kriegsverlängerung bis ultimo! 

Zu Hermann Knop: Vielleicht wurde das verkürzt und sinnentstellend wiedergegeben, aber: „Russland und die Ukraine" sind natürlich Länder und können gar nicht „ein Volk" sein, Russland ist zudem multinational konzipiert, mit Autonomien, wohin man blickt und reist, wobei die Russ*innen „nur" das größte und wichtigste aller Völker Russlands sind, und bei der Ukraine wäre es endlich an der Zeit, eine ähnliche Verfasstheit ins Auge zu fassen. 

Ich komme zum „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg": Lohrer macht es sich zu leicht! Es gibt das völkerrechtlich bis zum 23.2.2022 gültige Dokument des Weltsicherheitsrates Nr. UNSC 2020/2015, in dem Russland ebenso wie Frankreich und Deutschland, aber Russland eben in einer ganz anderen Rolle, nämlich stellvertretend für die - bis 2022 nicht anerkannten - Volksrepubliken Lugansk und Donezk, zur Garantiemacht 1. des Waffenstillstandes, 2. der übrigen Bestimmungen, darunter v.a. der Föderalisierung der Ukraine wurde. Und: „Pacta sunt servanda!" Mit der vorsätzlichen, von Merkel und Hollande voll unterstützten Nichteinhaltung des Abkommens, der Vorbereitung der Rückeroberung von östlichem Donbass und Krim und schließlich am 16./17. 2. 2022 mit der massiven Kanonade der Innenstädte und Wohngebiete von Donezk, Gorlowka und Lugansk - eine Woche vor der Intervention Russlands - kann man sich nicht auf das Gewaltverbot der UN-Charta beziehen - und was ist denn Artillerie- und Raketenbeschuss anders als Gewalt? Ein Waffenstillstand kann nicht nur von einer Seite eingehalten werden! Hier gibt es m.E. einfach viel Unwissen und viel Nichtwissenwollen - also Ignoranz! - in der deutschen Friedensbewegung. 

Unter Berücksichtigung der Eingeständnisse von Merkel, Hollande und Poroschenko ist natürlich fraglich, auf welcher Vertrauensgrundlage irgendeine Vereinbarung mit der russischen Seite getroffen werden könnte - es gibt einfach keine! Daher liegen die Hoffnungen nun auf der UN und da bei großen Ländern der Nicht-NATO-Welt wie Brasilien (das hat jedoch 1965 in der Dominikanischen Republik versagt), Indien (das hat aber in Sri Lanka komplett versagt), Indonesien (das hat einen "eigenen" de-facto-Kolonialkrieg in Westpapua), v.a. aber China (und das hat Tibet und Xinjiang-Uighuristan als Probleme)! Wie also Frieden schaffen mit dieser UNO? Dazu nun in diesem Heft faktisch gar nichts!

Was Henken am Ende des Berichtes aus Kassel auf S. 5 feststellt, gilt auch für das FF: „Leider kam das Themenfeld der gigantischen NATO- und Bundeswehraufrüstung und die EU-Militarisierung... zu kurz". Das sogenannte 100-Milliarden-„Sondervermögen", das in Wirklichkeit ein Kriegsvorbereitungskredit ist (bei Frau Krüger ohne Anführungszeichen!?) v.a. zur Anschaffung von F-35-Kernwaffenträgerflugzeugen sowie die 2-Prozent-Festlegung zur Aufrüstung können auch nicht einfach als „Reaktion auf den Ukraine-Krieg" behandelt werden. Das ist nur die Oberfläche! Tatsächlich verlässt Deutschland dauerhaft den gesellschaftlichen Konsens „Nie wieder Krieg!" Da sind anscheinend Leute dabei, deutsche Soldat*innen für einen Kampfeinsatz oder Krieg, für „unsere Halbinsel Krim" vorzubereiten! Denn die Waffen und die Gelder fließen und fließen, die Ausbildung an den westlichen Waffen geht voran, die Instrukteure werden folgen, erst einzeln, dann in größeren Einheiten, wie das am Anfang des Vietnamkrieges seitens der USA auch war! Gut, weder das „Manifest für Frieden" von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht noch den „Appell" von Peter Brandt u.a.m. kannte die Redaktion des FriedensForums bei Redaktionsschluss - aber wo ist die Schlussfolgerung: Wenn die NATO derartig auf Kriegsvorbereitung setzt, dann nichts wie raus, so wie die Schweiz und Österreich können wir als dann sehr gut, nein: viel besser als neutrale Länder leben. Ja, das Thema ist schwierig! Die Bedrohungshysteriker wie Michael Roth (SPD) meinen, es gehen nicht, dass die USA „für uns ihren Arsch hinhalten"(Zitat aus „Markus Lanz"), aber niemand bedroht uns doch. Noch immer gilt da der Gedanke von Egon Bahr  „Es geht immer nur um Interessen - merken Sie sich das!" Die USA möchten ihre Weltherrschaftspläne gen mit „dienend führenden" Deutschen verwirklichen, uns Deutschen am Ende die ganze europäische Ostfront überlassen, um sich auf den Feind China konzentrieren zu können, mit Japan und Indien zusammen (ich fürchte, ich irre mich da leider nicht). Und die dusseligen Deutschen lassen sich das gefallen! Lassen sich gefallen, dass ihre billige Energieversorgung zerstört wird und das gewaltige Russland-Geschäft kaputt geschlagen wird - nur wegen der vielen (O-Ton Albrecht Müller) „Einfluss-Agenten" Washingtons in Staat, Parteien, NRO und Medien. Und was tut da das FriedensForum? Es beschäftigt sich mit dem Widerstand in Russland gegen den „Angriffskrieg"! 

Nein nicht nur: Die Beiträge zur Sozialen Verteidigung sind sehr zweckmäßig. So verhielten sich Luxemburg und Dänemark 1940, so hätte sich die Ukraine auch verhalten können, dem kamen die Verhandlungsergebnisse vom März 2022 schon recht nahe - aber der Westen wollte das nicht!

Es ist immer wichtig, zu betonen, dass alle Opfer und Zerstörungen seit Ende März 2022 real vermeidbar gewesen sind!

Aber der Konflikt war überhaupt vermeidbar - man hätte ihn „einschlafen lassen" können (siehe Zypern) - mit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen - ich wiederhole es - am 16. und 17.2.2022 durch Kiew (OSZE-Missions-Berichte belegen das) war diese Option vom Tisch...

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