Neue Aufgaben für die Friedensbewegung

von Xanthe Hall
Schwerpunkt
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Die Arbeit der Friedensbewegung widerspiegelt meistens die aktuelle politische Situation. Diese ändert sich heutzutage so rasch, dass wir kaum Zeit haben, strategisch zu denken oder vorauszuschauen. Stattdessen reagieren wir auf die neueste Krise. Wie die NATO ist die Friedensbewegung eine Krisenreaktionskraft geworden - mit weniger Mitarbeitern, aber besserer Ausstattung als früher. Wir schreiben Presseerklärungen, Stellungnahmen und Protestbriefe gegen die Bombardierung des Iraks, des Sudans oder Afghanistans. Wir drücken unsere Empörung über die Aushöhlung der Vereinten Nationen und die Missachtung des Völkerrechts aus. Aber das interessiert Bill Clinton nicht ein bisschen.

Die aktuelle Chance: das strategische Konzept der NATO
Noch nie haben wir so ohnmächtig gefühlt wie jetzt, behaupte ich. Und dennoch stehen wir gerade vor eine Chance zu agieren, die wir bisher kaum erkannt haben: die Überprüfung des strategischen Konzepts der NATO. Die Zeit ist sehr knapp - wir haben nur bis April dieses Jahres. Aber das Ergebnis wird für die zukünftige Sicherheitspolitik der Welt entscheidend sein.

Joschka Fischer hat die Debatte über das strategische Konzept an der Spitze des Eisbergs angefangen: beim Ersteinsatz der Atomwaffen. Wie er im Spiegel erklärte, hat sich die sicherheitspolitische Situation so geändert, dass die NATO keine Ersteinsatzpolitik mehr vertreten kann. Diese Argumentation ist logisch, wenn man davon ausgeht, dass die Erklärung der Atomwaffenstaaten von 1995 noch gilt, niemals Atomwaffen gegen einen atomwaffenfreien Staat einzusetzen. Unter den jetzigen atomwaffenbesitzenden Staaten gibt es keine unmittelbare Bedrohung der NATO. Es ist nicht denkbar, dass China oder Russland die USA, Großbritannien oder Frankreich angreifen würden. Indien, Pakistan und Israel stellen ebenfalls keine Bedrohung für NATO-Mitglieder dar.
 

Counterproliferation und konventionelle Waffen
Dennoch steht in der neuen US-Doktrin für Atomwaffeneinsätze:
"Der grundlegende Zweck der nuklearen Streitkräfte der USA ist, vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen abzuschrecken"1 . Da die USA möchten, dass die NATO diese Doktrin in ihr strategisches Konzept übernimmt, wiesen sie Fischers Vorschlag, auf den Ersteinsatz zu verzichten, schärfstens zurück. Diese Doktrin ist das Kernstück der sogenannten Counterproliferation - ein Bündel von Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung von A-, B- und C-Waffen. Counterproliferation wird hauptsächlich mit konventionellen Mitteln durchgeführt, wie wir jetzt bei den Bombardierungen des Iraks gesehen haben. Die Atomwaffen bleiben als Abschreckung im Hintergrund, falls ein Einsatz von B- oder C-Waffen seitens des Gegners erwogen wird. Aber die Counterproliferation-Doktrin geht noch weiter: Atomwaffen können sogar eingesetzt werden, um präventiv einen Einsatz von B- oder C-Waffen zu verhindern. Das heißt: eine Erstschlag-Doktrin gegen Nichtatomwaffenstaaten, die möglicherweise Massenvernichtungswaffen besitzen oder herstellen.

Erstschlag gegen Nichtatomwaffenstaaten?
Diese Doktrin ist unter den NATO-Staaten sehr umstritten. Erstens werden die Grenzen zwischen konventionellen und atomaren Waffen immer mehr verwischt. Man braucht bei einer Cruise Missile nur einen Sprengkopf auszuwechseln oder auf den Tornado eine andere Bombe zu laden. Der Gegner kann nicht wissen, ob Atomwaffen eingesetzt werden, bis sie explodieren. Das ist Teil der Strategie: dieses Unwissen auszunützen, um missliebige Staatschefs immer unsicher zu halten. Die im letzten Jahr getestete Atombombe B61-11 (Bunker Buster) ist ein gutes Beispiel. Sie kann tief in die Erde eindringen, um unterirdische Bunker zu zerstören. Dieser Test zeigte zum Beispiel Irak und Libyen, dass ihre vermuteten Waffenlager nicht vor US-Bomben sicher sind.

Zweitens beruht Counterproliferation auf Geheimdienstinformationen. Es gibt Beispiele, wo sich diese Basis als unzuverlässig erwiesen hat: wie bei der Anlage im Sudan, wo Erdproben angeblich chemische Spuren enthalten haben, die auf C-Waffen hindeuteten. Im nachhinein wurde diese Aussage sehr bezweifelt. Der Streit über UNSCOM hat darüber hinaus gezeigt: Während die UN annahm, man könne Massenvernichtungswaffen durch neutrale Inspektionen kontrollieren, folgten die USA mit ihrem Geheimdienst einer Doppelstrategie und holten Informationen über militärische Anlagen direkt von den Inspekteuren, um nach dem Scheitern der Inspektionen präziser bombardieren zu können.
Wie bekämpft die Friedensbewegung also eine Übernahme der US-amerikanischen Militärstrategie in das strategische Konzept der NATO? Dazu muss man die Verbindung zwischen US-Interessen und europäischen oder deutschen Interessen verstehen. Die Europäer haben Angst, dass die USA ihre Truppen aus dem ehemaligen Jugoslawien zurückziehen. Die USA ist daran interessiert, einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen gegen ihre Bevölkerung zu verhindern, Irak vom Ölmarkt fernzuhalten und islamisch-fundamentalistische Terroranschläge in den USA oder gegen ihre Botschaften zu bekämpfen. Einen Angriff mit konventionellen Waffen gegen die Vereinigten Staaten kann man ausschließen. Die Verhandlungen über das strategische Konzept beruhen auf diesen Punkten.

Mangelndes Selbstvertrauen in Europa
Warum haben die anderen Europäer Joschka Fischer mit seiner Forderung nach einer Debatte über den Ersteinsatz im Regen stehen lassen? Weil sie das sicherheitspolitische Selbstvertrauen nicht haben, um gegen die US-amerikanische Überlegenheit zu kämpfen. Es wird sich durch die weitere Entwicklung noch herausstellen, ob Fischers Forderung politisch naiv war oder nicht.

Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest und zumindest als eine Grundidee versteht, dann erkennt man die Strategie der Grünen wieder: die NATO durch "eine grundlegende Neuorientierung der Sicherheitspolitik" als langfristiges Projekt abzulösen, ohne deutschen Sonderweg, alles im Bündnis und mit freundlicher Zusammenarbeit. Es soll stattdessen in der OSZE als unersetzliche gesamteuropäische Sicherheitsorganisation in die Konfliktlösung investiert werden. Die Friedensbewegung muss diese Tendenz stärken und einfordern, dass Nichtregierungsorganisationen in Deutschland verstärkt eingebunden werden, durch zivile Friedensdienste, Friedensfachdienste, freiwillige Wahlbeobachtung und sicherheitspolitische Beratung der Regierung durch Friedensforschungsinstitute.

Vor allem müssen wir die Zusammenhänge zwischen Irak und Kosovo, zwischen Schnelleingreiftruppen und Einsätzen ohne UN-Mandat, zwischen nuklearen und konventionellen Waffen, zwischen gemeinsamer Sicherheit und kollektiver Verteidigung von wirtschaftlichen Interessen deutlicher aufbereiten und unter die Bevölkerung bringen. Die Friedensbewegung muss wieder Aufklärung über die geänderte sicherheitspolitische Situation betreiben und von den Befürwortern von Militäreinsätzen wieder Land zurückgewinnen.

(1) Joint chiefs of Staff Doctrine for Joint Theater Nuclear Operation, JP 3-12-1, Washington, 9.2.1996

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