Neue deutsche Außenpolitik

Neue Macht - Falscher Weg

von Mohssen Massarrat

Seit der Münchener Sicherheitskonferenz Ende Januar 2014 wissen wir es. Deutschland soll „die Kultur der Zurückhaltung“ endlich überwinden und die USA bei der Verteidigung „der freien und friedlichen Weltordnung“ nicht allein lassen, sondern stärker als bisher „Verantwortung“ übernehmen, notfalls auch mit militärischer Gewalt.

Tatsächlich hat Deutschland sich seit seiner Beteiligung am völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg längst aktiv an Angriffskriegen beteiligt, allerdings stets gegen den Willen der eigenen Bevölkerung, die mit der überwältigenden Mehrheit von 75 Prozent deutsche Kriegseinsätze weiterhin ablehnt. Die  bisherigen Vorstöße, mit Argumenten wie „deutsche Interessen werden am Hindukusch verteidigt“ (ehemaliger Verteidigungsminister Peter Struck) oder „ein militärischer Einsatz wegen unserer Außenhandelsabhängigkeiten ist nötig“ (Bundespräsident a. D. Horst Köhler) die Bevölkerung umzustimmen, prallten bisher allerdings an deren pazifistischer Haltung ab, die aufgrund der Katastrophe der beiden Weltkriege und der lebendigen Friedensbewegung in Deutschland moralisch verfestigt ist. Nun gilt es offensichtlich, mit vereinten Kräften bestehende Tabus gegen Kriegseinsätze zu beseitigen und sie als „normal“ in der Gesellschaft salonfähig zu machen. Der neue Bundespräsident Joachim Gauck scheint sich für diese Aufgabe berufen zu fühlen. Die inhaltliche Plattform für die mediale Vorbereitung der Umstimmung der Deutschen lieferte eine vom Auswärtigen Amt finanzierte Expertise „Neue Macht - Neue Verantwortung“ (1), die geschliffen formuliert und mit dem Anspruch differenzierter Objektivität daherkommt. (2) Sich kritisch mit dieser Studie auseinanderzusetzen, ist deshalb eine wichtige Aufgabe für alle, die – aus guten Gründen – deutschen Militäreinsätzen eine radikale Absage erteilen.

Von werteorientierter zu interessenorientierter Außenpolitik: Der rote Faden der Expertise
Deutschland sei, so „überdurchschnittlich globalisiert“ (S. 2), es „profitiere wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der offenen, friedlichen, freien und auf Kooperation angelegten Weltordnung, die sie möglich mache“. Zwar seien die Vereinigten Staaten „jahrzehntelang Garant dieser Ordnung“ und sie würden absehbar auch „die einzige Supermacht mit globalem Ordnungswillen“ bleiben. Amerikas Engagement würde auf Grund seiner „geschrumpften materiellen Ressourcen“ jedoch künftig „selektiver und sein Anspruch an seine Partner entsprechend höher sein“. Dies würde „vor allem für Europa und Deutschland einen großen Zuwachs an Aufgaben und Verantwortung bedeuten“. Hinzu kämen veränderte Machtverhältnisse im „strategischen Umfeld“ Deutschlands, die eine Erweiterung der bisherigen Werteorientierung deutscher Außenpolitik „um neue Elemente“ erforderlich machten. Denn Deutschland sei existenziell vom Außenhandel abhängig und brauche „die Nachfrage aus anderen Märkten sowie den Zugang zu internationalen Handelswegen und Rohstoffen“. (S. 5f.) Daher sei es auch „verwundbar und anfällig für die Folgen von Störungen im System“. Als Störfaktoren gelten „Klimawandel, demografische Entwicklung, unkontrollierte Migrationsströme, Armut und soziale Ungleichheit, ethnisch-religiöse Spannungen und der zunehmende Wettbewerb zwischen mehr Akteuren um knapper werdende Ressourcen, Nahrungsmittel und Zugang zu Handelswegen und Technologien“. (S. 12) Kurzum: „Deutschland müsse“ bereit sein, zum Schutze der auf Werten und Interessen beruhenden „internationalen Ordnung […] notfalls militärische Gewalt anzudrohen, oder anzuwenden“. (S. 17)

Darüber hinaus benennt die Studie die zentrale Frage der völkerrechtlichen Legitimation von Gewalteinsätzen, ob mit oder ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats, als „Dissens“ (S. 41) und hält es damit grundsätzlich für möglich, dass sich Deutschland im Falle einer „Blockade“ im Sicherheitsrat auch an Kriegen außerhalb des Rahmens der Vereinten Nationen beteiligen kann.

Neue Macht - Neue Kriegsrechtfertigung
Richtig ist, dass Deutschland mehr als andere Staaten von der Globalisierung profitiert. Mit seiner Exportexpansionspolitik verschärft Deutschland allerdings nicht nur die steigende Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Stärkung nationalistisch-faschistischer Strömungen in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern, sondern auch das Elend der afrikanischen Bauern, die dem Export subventionierter deutscher Hühner-, Milch- und Fleischüberproduktion hoffnungslos ausgeliefert sind. Dass diese Politik das Elend und die Perspektivlosigkeit von Millionen Menschen mit verursacht, ethnische und soziale Konflikte verschärft und auch Migrationsströme in Richtung Europa auslöst, ist längst bekannt. Bekannt sind auch marktwirtschaftliche Lösungen dieser Probleme: Höhere Löhne in Deutschland bzw. Erhöhung der Binnennachfrage verhindern Exportüberschüsse nach Südeuropa und die Verschärfung sozialer Krisen. Auch der Abbau unsäglicher Agrarsubventionen und die Beseitigung diskriminierender Zölle für afrikanische Produkte, Stopp der „Strukturanpassungsprojekte“ des IWF, die die Rohstoffexporte aus dem Süden verbilligen und die Einnahmen der Rohstoffexporteure schrumpfen lassen, sind sehr wirkungsvolle Instrumente der Armutsbekämpfung und Entschärfung sozialer, aber auch ethnisch-religiöser Konflikte in Afrika und im Süden insgesamt. Gänzlich irrational und unglaubwürdig ist daher, dass die BeraterInnen des Bundespräsidenten und Strategen der deutschen Außenpolitik genau die durch Deutschland und andere westliche Staaten selbst geschaffenen „Störfaktoren“ zum Anlass nehmen, um die „freie, friedliche und auf Kooperation beruhende Weltordnung“ notfalls militärisch zu verteidigen.

Was ist aber mit der sehr häufig in der Expertise emphatisch beschworenen „freien, friedlichen und kooperativen Weltordnung“ gemeint? Entweder umfasst diese Weltordnung alle Staaten und Regionen, dann hätten wir schon die erträumten paradiesischen Zustände, und eine militärische Verteidigung für ihre Bewahrung und Fortentwicklung wäre eigentlich überflüssig. Oder aber, was wahrscheinlich ist, will die Studie diese euphemistische Charakterisierung der herrschenden Weltordnung lediglich auf die kapitalistische Welt angewandt wissen. Dann offenbart sie unvermeidlich, dass ihr das Hobbes’sche Weltbild zu Grunde liegt, nach dem in der Welt grundsätzlich Chaos und Anarchie vorherrschten und dass diese üble Wirklichkeit menschlicher Natur nur mit Macht und Gewalt zu bändigen sei. Diese Hobbes’sche Sicht ist tatsächlich die ethische Basis jener „Schutzverantwortung“ und interessenorientierten Außenpolitik, die zur angeblichen Abwehr von Störfaktoren in Deutschland salonfähig gemacht werden soll. Warum müssen eigentlich die Beschaffung „knapper Rohstoffe“ und der „Zugang zu Handelswegen“ wie im Feudalismus militärisch „verteidigt“ werden? In einer „freien und auf Kooperation beruhenden Weltordnung“ sollten ja eigentlich Märkte und Knappheitspreise die Versorgung regeln. Man käme doch im heutigen Deutschland auch nicht auf die Idee, die wertvollsten Baugrundstücke, die fruchtbarsten landwirtschaftlichen Böden oder die verkehrsmäßig vorteilhaften Industriestandorte mit einer Privatarmee zu usurpieren.

Oder stellt das Gerede von der „freien Weltordnung“, einem Begriff, der in der Studie im Übermaß strapaziert wird, lediglich die ideologische Fassade für eine ungerechte Weltordnung dar, in der die Mächtigen ihre „Freiheit“ für den ungehinderten Zugang zu billigen Rohstoffen nur militärisch „durchsetzen und verteidigen“ können? Innerhalb Deutschlands liegt das Gewaltmonopol freilich in der Hand des Staates. Gemäß dieser zivilisatorischen Errungenschaft der Moderne bestünde also tatsächlich die echte friedliche und die Freiheit fördernde Alternative der Nutzung von Ressourcen und Gemeinschaftsgütern darin, die Welt in Richtung universaler und von allen Staaten und Völkern anerkannter Institutionen zu reformieren, und die Abwehr von möglichen Gefahren mit polizeiähnlichen Mitteln zu sichern. Die „Neue Verantwortung“ für Deutschland könnte durchaus im Sinne dieser Perspektive definiert werden. Davon ist in der Studie jedoch mitnichten die Rede. Nach dem Willen der InitiatorInnen der Studie reduziert sich vielmehr diese Neue Verantwortung darauf, die jenseits der kapitalistischen Welt gewaltsam gesicherten Pfründe und Zugänge zu „knappen Ressourcenquellen“ und Gemeinschaftsgütern militärisch zu verteidigen und dieses System zu erhalten. Mehr noch wird „ die Beteiligung Deutschlands am Aufbau eines gemeinsamen NATO-Raketenabwehrschirms in Europa“ als dringlich eingestuft (S. 40) und damit ein neues Wettrüsten zwischen dem Westen einerseits sowie Russland und China andererseits, die schon jetzt Gegenmaßnahmen dazu angekündigt haben, vom Zaun gebrochen.

Herausforderer und Störer
Die Außenpolitik der Bonner Republik habe, so die Studie, „auf der Ost-West-Achse gelegen“. Deutschlands gewachsene Kraft nach der Einheit würde aber eine „Neuvermessung seiner internationalen Beziehungen“ verlangen. (S. 30) Zu diesem Zweck wird die Staatenwelt in drei Gruppen aufgeteilt: Erstens „bewährte Partner und gleichgesinnte Mitstreiter“, darunter alle westlichen Staaten, allen voran die USA. (S. 33) Zweitens „Herausforderer“ wie Russland, China, die übrigen Schwellenländer und kurioserweise auch Saudi-Arabien und Katar. Nach welchen Kriterien letztgenannte Staaten Deutschland herausfordern sollen, bleibt ein Geheimnis. In dieser Aufteilung fällt jedoch ganz besonders die dritte Gruppe der Staatenwelt, nämlich die „Störer“, auf, zu der Iran, Syrien, Nordkorea, Kuba und Venezuela gehören sollen. Ihr „Störpotenzial“ könne sich aus „dem Besitz oder der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen“ […] und „aus der Förderung und Beherbergung von Terroristen“ ergeben. Unvoreingenommenheit und rationaler Menschenverstand vorausgesetzt, ist jedoch nicht nachvollziehbar, warum Kuba und Venezuela Deutschlands Außenbeziehungen stören sollten und warum Iran und Syrien zusammen mit Nordkorea als „Störer“ eingestuft werden müssten.

Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass die Studie sich die Sicht der USA, genauer die der US-Neokonservativen, zu eigen macht, hatte doch George W. Bush jr. genau diese Staaten nach dem 11. September 2001 zur „Achse des Bösen“ erklärt, um sie anschließend zur Zielscheibe von Regime Changes zu machen. Ihre Umbenennung zu „Störern“ ändert nichts daran, dass die Studie auch die Definition von Störer-Staaten vollständig aus dem Neokonservativen Denkgebäude übernimmt. So gesehen, ist es im Grunde skandalös und eine Erniedrigung sondergleichen, dass Deutschland sich seine Außenpolitik von den US-Neokons vorgeben lassen sollte, die in den letzten zwei Jahrzehnten für das Schüren von zahlreichen Konflikten, für die Täuschung der Weltöffentlichkeit und die Kriegsverbrechen in Afghanistan, Irak, Libyen und auch in Syrien mitverantwortlich sind und weiterhin das Ziel verfolgen, den Nuklearkonflikt mit Iran eskalieren zu lassen. Dieselben Kräfte sind, was sich immer deutlicher herausstellt, gegenwärtig auch im Begriff, mittels eines Regime Changes in der Ukraine das Alte Europa gegen das Neue Europa (Donald Rumsfeld) auszuspielen und zwischen EU und Russland einen gefährlichen Konflikt heraufzubeschwören.

Anmerkungen
(1) Herausgeber der Studie sind Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund of the United State (GMF), die zu diesem Zweck das Projekt “Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“ initiierten. An dem Projekt, das zwischen November 2012 und September 2013 stattfand, beteiligten sich ausgewählte Fachleute aus Bundestag, Bundesregierung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und auch Amnesty International. Die Studie kann unter www.swp-berlin.de heruntergeladen werden.

(2) Einer der Mitverfasser der Studie, Thomas Kleine-Brockhoff, Direktor des US-finanzierten German Marshall Fund (GMF), wurde inzwischen zum Chefberater und Redenschreiber des Bundespräsidenten berufen - ein Zufall? (Diese Informationen verdanke ich Clemens Ronnefeldt.)

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Hintergrund
Mohssen Massarrat ist Professor i. R. der Universität Osnabrück mit wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkten in den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft, Internationale Beziehungen, Krieg und Frieden, Mittlerer und Naher Osten und Mitbegründer der Initiative Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO).