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Neue Version eines alten Szenarios?
vonIst das jüngste Drama in den baltischen Republiken der Sowjetunion ein unausweichliches Ergebnis der Perestroika-Politik, die unter der Führung von Gorbatschow in den letzten sechs Jahren eingeleitet worden ist, oder ist sie lediglich die Folge nationalistischer Gefühle der Menschen im Baltikum, die die Völker Lettlands, Litauens und Estlands bewegte, seitdem ihre Länder während des Stalin-Regimes annektiert worden sind?
Ich gehe davon aus, daß nahezu alles, was in den vergangenen Jahren der Perestroika vor allem auf dem Gebiet der Innenpolitik passiert ist, auch auf eine andere, vielleicht sogar bessere Weise vonstattengehen konnte, in Kenntnis alternativer Vorschläge für die Erneuerung unserer Politik, wie sie z.B. bereits vor mehreren Jahren auf dem Plenum des Zentralkomitee der KPdSU von Boris Jelzin vorgelegt worden sind, der seinerzeit auf dem Höhepunkt seiner kommunistischen Karriere war. Er war der erste, der vor den entstehenden möglichen ernsten Problemen auf sozialem Gebiet, im politischen Leben und im Verhältnis zwischen den Republiken warnte und die Notwendigkeit der Erarbeitung einer Reihe von radikalen Maßnahmen vorschlug, um diese Probleme zu bewältigen. Gorbatschow mit der ihn umgebenen "überwältigen Mehrheit" verdammte dafür Jelzin und entfernte ihn aus den höchsten Entscheidungsgremien der Macht. Doch das Leben bestätigte Jelzins Worte und sein politisches Programm, seine Position wurde von Millionen von Menschen unterstützt, so daß er zurück an die politische Macht kam; doch auch dies war für die zentrale Führung unter Gorbatschow kein Signal, um den Kurs der Reformen zu verändern und zu überdenken.
Die dramatischsten und blutigsten Zusammenstöße in den letzten drei Jahren entstanden im Zusammenhang mit der Lösung von Souveränitäts- und Unabhängigkeitsbestrebungen verschiedener Republiken, die mehr Rechte auf dem Gebiet der Selbstbestimmung und bei den Prioritäten für die eigene Entwicklung forderten. Die Antwort der Führung in Moskau wurde von Mal zu Mal schärfer und irrationaler, begleitet vom regelmäßigen Ausdruck des Bedauerns seitens des Westens.
Militäraktionen gegen Bürger in Vilnius und Riga waren deshalb ein zwangsläufiges Ergebnis der Entwicklungen und leicht vorherzusagen. Moskau verwarf gleichberechtigte Verhandlungen mit den baltischen Republiken - Gorbatschow hatte sich strikt gegen ihren Vorschlag gewandt, einen neuen Unionsvertrag zu zeichnen, der die Republiken möglicherweise innerhalb einer neuzuschaffenden Föderation zusammenhält - statt dessen setzte man die Strategie der Unterdrückung gegen Manifestationen für die Unabhängigkeit fort und begann mit harten Drohungen, wirtschaftlichem Boykott, Einschüchterungen durch die sogenannte "russisch sprechende" Bevölkerung. Doch diese Politik führte zu einem anderen Ergebnis als erwartet.
Auf der einen Seite sammelte sich der nicht-baltische Teil der Bevölkerung in verschiedenen Organisationsstrukturen einschließlich einer neuen kommunistischen Partei auf der Basis der KPDSU, die dem Zentrum in Moskau die Gelegenheit gab, den politischen Einfluß zur Bewahrung der Integrität der UdSSR aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite führte dies nicht nur zum engeren Zusammenschluß der baltischen Bevölkerung, sondern verschärfte auch ihre sozialen und nationalen Anliegen, mit denen sie ungeduldig nach Unabhängigkeit drängen, nachdem Kompromißlösungen stets ausgeschlagen worden sind.
Es scheint so, daß weder der moralische Verlust, das Land zu führen, noch die vernichtende Kritik bei einem großen Teil der Bevölkerung solch traditionelle Methoden der Beilegung von sozialen und nationalen Konfrontationen verhindert hat. Denn unglücklicher Weise ist es nicht nur ein bedauerliches Zeichen von Mißverständnissen zwischen dem Präsidenten, der zugleich der Oberkommandierende der Streitkräfte der UdSSR und der Generalsekretär der KPDSU in einer Person ist, und einzelnen Mitgliedern des Offizierskorps, die den Befehl gaben, auf Menschen zu schießen. Es war in der Tat eine traditionelle Machtentscheidung - von denen wir in der Vergangenheit bereits eine Reihe von Beispielen erlebt haben - zu Gunsten des Einsatzes von bewaffneten Streitkräften gegen unbotmäßige Republiken. Es ist deshalb mäßig, weiter darüber zu spekulieren, ob Gorbatschow über den Schießbefehl etwas wußte oder nicht; letztendlich dient dies nur dazu, sein angeschlagenes Image zu retten. Spekulationen haben keine Basis, da es offensichtlich klar ist, daß ein Pulverfaß nahe dem Feuer eben explodiert. Man kann das Feuer austreten aber im Übrigen nichts vorhersagen.
Die Führung in Moskau, einschließlich Gorbatschow, trug natürlich keinerlei Verantwortung für das Blutbad in Georgien, Azerbajdgan ebenso wenig wie jetzt im Baltikum, folgt man den offiziellen Untersuchungen der Vorfälle. Doch so oder so, Gorbatschow ist für die Innenpolitik der Union mit seinem Wort verantwortlich.
Niemand könnte Gorbatschow daran hindern, die verantwortlichen Militärkommandeure zu entlassen oder seine eigene Politik zu überprüfen, die die Ermordung von Menschen wegen ihrer abweichenden Auffassung ermöglichte. Erinnern wir zum Vergleich noch einmal daran, daß der Wahnsinnsflug von Michael Rust, der seinerzeit auf dem Roten Platz landete, immerhin dazu führte, den Verteidigungsminister aus dem Amt zu entfernen, während in diesen Tagen Militäraktionen mit weit schwerwiegenderen Folgen ohne Antwort bleiben.
Wir können diese Politik auch nicht mehr mit den Namen von Sacharow oder Jelzin oder auch Schewardnasze bemänteln. Es handelt sich inzwischen um eine wirkliche Diktatur, die in der Tat jene Quellen unkontrollierter Macht überall im Lande aufrecht erhält in den Händen jener militaristischen und KGB-Institutionen, die nichts gemein haben mit den Interessen von Millionen von Menschen in der UdSSR.
Zweifellos hat Gorbatschow als Politiker sehr viel geleistet. Die westlichen Länder können die Erfolge seiner Außenpolitik sehen, die erheblich zur Verbesserung des europäischen politischen Klimas beitrug, während sowjetische Menschen unter Lebensbedingungen leiden, die sich zunehmend verschlechtern ohne ein Zeichen von Verbesserung und Perspektive auch nicht hinsichtlich der weiteren Durchsetzung von Perestroika und Glasnost, die nun vom "Vater des neuen politischen Denkens" bedroht wird. Überflüssig zu sagen, daß nahezu alle von ihm initiierten Gesetze der letzten Monate das Ziel hatten, die Macht der Zentrale in Moskau einschließlich seiner persönlichen Macht zu stärken, um den Wunsch von nationalen Minderheiten nach größerer Unabhängigkeit und Selbstbestimmung bekämpfen zu können. Die Bereitschaft von "Separatisten", mit der Zentrale in Moskau zu verhandeln, liegen seit langem auf dem Tisch doch die "Papier-Tiger" der Union setzten nicht nur Massenmedien ein, um das eigene Land zu agitieren, sondern auch Maßnahmen ein, um der Welt jederzeit zu demonstrieren, wie sehr man bereit ist, in Zukunft Panzer als Einschüchterungsinstrumente gegen "nationalistische Separatisten" einzusetzen.
Ein russisches Sprichwort sagt: "Sag mir wer dein Freund ist und ich sage dir, wer du bist". Diese Frage hat sich für Gorbatschow von selbst beantwortet. Schauen wir uns die Liste der Namen seiner engeren Führung an. Für die meisten von ihnen hat das Wort "Perestroika" keine Bedeutung. Perestroika in der Gesellschaft wird nur erfolgreich durchgesetzt, wenn wirkliche Demokraten ihnen nachfolgen und praktisch Sorge dafür tragen, daß das Leben der Republiken und der Menschen in einem Land, das immerhin ein Sechstel der Weltoberfläche ausmacht, sicherer wird und mit allen Rechten ausgestattet wird, die ein demokratischer Staat haben sollte.