Initiative von Frank-Walter Steinmeier

Neustart der Rüstungskontrolle

von Wolfgang Biermann

Am 26. August 2016 veröffentlichte die FAZ ein Grundsatzpapier des damaligen Bundesaußenministers Steinmeier mit der Forderung nach einem "Neustart der Rüstungskontrolle". Über die internationale Plattform „Project Syndicate“ (1) wurde Steinmeiers Text in englischer, französischer, russischer, chinesischer und anderen Sprachen veröffentlicht. (2)

Warum wurde ein Artikel des deutschen Außenministers in so vielen Sprachen verbreitet? Offenbar gibt es einen dramatischen Bedarf und Hoffnungen auf eine deutsche „Führungsrolle“ beim „Neustart der Rüstungskontrolle“ als einem Mittel zur Verhinderung von Krieg durch neue Friedens- und Entspannungspolitik.

Rund ein Jahr nach Steinmeiers Appell dominiert bei Medien, Wahlkämpfern und Friedensbewegten das Schweigen zum Thema „Rüstungskontrolle“.

Vor 55 Jahren: Rüstungskontrolle zur Verhinderung des Atomkriegs
Am 28. Oktober 1962 gab es die erste Rüstungskontrollvereinbarung zwischen Washington und Moskau: Nachdem alle Vorbereitungen für den Atomwaffeneinsatz getroffen waren, um Moskau zum Abzug seiner Atomraketen aus Kuba zu zwingen, vereinbarte John F. Kennedy (entgegen dem Rat der meisten Berater des Präsidenten und des Pentagon, mit Ausnahme des Verteidigungsministers McNamara) mit Nikita Chruschtschow den Abzug der sowjetischen Atomraketen aus Kuba sowie der (damals gerne verschwiegenen) amerikanischen Atomraketen aus der Türkei und Italien.

Sein Motiv für diese einsame Entscheidung für „Rüstungskontrolle“ statt „Atomwaffeneinsatz“ war laut Kennedy die Erkenntnis, dass „alles, was wir aufgebaut haben, ... in den ersten 24 Stunden zerstört würde“.

Und diese Erfahrung motivierte ihn, als Präsident der USA eine „Strategy of Peace“ einzuleiten, anstelle „der Pax Americana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird“ (3), die er in seiner berühmten – doch oft vergessenen Rede – vor der American University am 10. Juni 1963 erläuterte.

Mit der Friedensstrategie sollten die USA „die Institution der Vereinten Nationen... zu einem ... echten Weltsicherheitssystem weiterentwickeln, ...damit sich Dispute rechtlich lösen lassen... und Bedingungen geschaffen werden, unter denen eine Abrüstung letztendlich möglich ist.“ Er werde eine „direkte Telefonleitung zwischen Moskau und Washington“ und „andere erste Maßnahmen zur Rüstungskontrolle ... zur Verminderung des Risikos eines versehentlich ausgelösten Krieges“ mit der UdSSR vereinbaren. Auch wollte er das vollständige Verbot von Atomtests vereinbaren, um „ dem außer Kontrolle geratenen Wettrüsten in einem seiner gefährlichsten Bereiche Einhalt zu gebieten“.

 So gelang – wegen des Widerstands des US-Oberkommandos („Joint Chiefs of Staff“) (4) – dem US-Verhandlungsteam unter Leitung von Overall Harriman im August 1963 wenigstens der Begrenzte Teststopp-Vertrag (LTBT) zum Verbot aller überirdischen Atomtests, der am 24. September 1993 vom US-Senat ratifiziert wurde.

Am 22. November 1963 wurde Kennedy ermordet. 1964 wurde Nikita Chruschtschow gestürzt und von Leonid Breschnew abgelöst.

Danach betrieben die USA und die UdSSR dennoch eine Reihe von Rüstungskontrollabkommen zur Begrenzung  des Wettrüstens mit dem Ziel der Kriegsverhinderung.

Kriegsverhütung durch Rüstungskontrolle“ als Basis für den „Wandel durch Annäherung“
Einen Monat nach Kennedys Rede vor der American University nahmen Willy Brandt und Egon Bahr am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie in Tutzing ausdrücklich Bezug auf seine „Strategy of Peace“ als Grundlage für ihre Entspannungspolitik mit dem Ziel des „Wandels durch Annäherung“.

Willy Brandt schlussfolgerte bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises am 11. Dezember 1971 in Oslo aus John F. Kennedys „verantwortungsvoller Kaltblütigkeit“ bei der Lösung der Kuba-Krise für die Entspannungspolitik: „Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio“ und Friedenspolitik als wahre Realpolitik dieser Epoche.“ (6)

Nach dem Ende des Kalten Krieges geschah zunächst ein „Wunder der Rüstungskontrolle“: Nach Unterzeichnung des KSE-Vertrages wurden „über 100.000 Großwaffensysteme... vertragsgemäß, später auch freiwillig“ (7), hunderttausende Soldaten und Tausende von Atomwaffen aus Mitteleuropa abgezogen.

Ausstieg aus der Rüstungskontrolle seit George W. Bush
Aber spätestens mit dem Amtsantritt von George W. Bush wurde das Prinzip „Kriegsverhütung durch Rüstungskontrolle” über Bord geworfen: Rüstungskontrollvereinbarungen wurden „nicht mehr umgesetzt“, nicht ratifiziert, verletzt oder gar einseitig aufgekündigt. Damit wurden die Türen für unilaterale Aufrüstung ohne Begrenzung durch Rüstungskontrollvereinbarungen geöffnet.

Seit dem  Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag über Raketenabwehr gibt es keine völkerrechtlichen Begrenzungen mehr beim Ausbau von Raketenabwehrsystemen.

Im Januar 2011 hatte Russland “im ... Begleitgesetz zu New-START die Ausübung des Rücktrittsrechts angekündigt, wenn die USA ein Raketenabwehrsystem stationieren, das „die Wirksamkeit der strategischen Nuklearstreitkräfte Russlands wesentlich verringert“ (s. Anm. 2)

In Europa sind die Vertragsgrundlagen für konventionelle Rüstungskontrolle (KSE und AKSE) de facto außer Kraft: Die größte konventionelle Abrüstung und das umfassendste System der Verifikation in der Geschichte Europas sind damit bedroht. Das ermöglicht neue – unkontrollierte – Aufrüstung  in Europa.

Seit dem Ukraine-Konflikt 2014, der Annektion der Krim und den Sanktionen konnte mithilfe von „Minsk-II“ zwar die Eskalation zu einem europäischen Krieg vermieden werden, aber die Kriegsrisiken durch unilaterale Truppenstationierungen, militärischen Übungen und groß angelegter Meer- und Luft-Manövern sind besorgniserregend, wie z.B. das Londoner „European Leaders Network“ (ELN), der deutsche General a.D. Kujat oder Ex-US-Verteidigungsminister  William Perry warnten.

Die Steinmeier-Initiative
Im Sommer 2016 berichtete BILD über das Großmanöver „ANAKONDA 16“ entlang der russischen Grenze: Hier übt die NATO Krieg gegen Putin.

Nach dieser Begleitmusik meldete sich am 18. Juni 2016 der damalige Bundesaußenminister laut zu Wort: „Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen … .“ Nach dem Warschauer NATO-Gipfel veröffentlichte die FAZ am 26. August 2016 Steinmeiers Grundsatzpapier "Neustart der Rüstungskontrolle". Steinmeiers Begründung (s. Anm. 2):

"Europas Sicherheit ist bedroht...Die Konfliktmuster sind andere, doch eine Erinnerung bleibt wach: Mitten in den kältesten Tagen des Kalten Krieges wagte Willy Brandt gegen viel Widerstand die ersten Schritte der Entspannungspolitik. Über alles Trennende hinweg suchte er nach Gemeinsamem – und fand es in den Ostverträgen und den Grundsätzen der Schlussakte von Helsinki. Frieden in Europa, das Erbe der Entspannungspolitik. ... Jetzt steht alles wieder auf dem Spiel …
...die Lehren aus der Entspannungspolitik bleiben richtig: ... Wir dürfen Sicherheit in Europa nicht auf Dauer gegeneinander organisieren. ...Deshalb brauchen wir konkrete Sicherheitsinitiativen …
Die bestehenden Regime für Rüstungskontrolle und Abrüstung zerfallen seit Jahren.... Über Jahrzehnte mühsam aufgebautes Vertrauen ist dahin.“

Reaktionen
Die erste russische Reaktion aus dem russischen Außenministerium war ebenso freundlich wie zurückhaltend. Michail Uljanow, Ressortleiter Sicherheit und Abrüstung, erklärte:

„Wir behandeln den jüngsten Vorschlag von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sorgfältig. Dieser Prozess ist noch nicht beendet, deswegen ist es besser, sich jeglichen Kommentaren zu diesem Vorschlag zu enthalten. Zugleich möchte ich daran erinnern, dass wir uns wiederholt für eine wesentliche Erneuerung der Kontrolle über konventionelle Waffen in Europa und ihre Anpassung an die gegenwärtigen Realitäten ausgesprochen haben“. (8)

Vor der UN-Generalversammlung ergänzte Uljanow Anfang Oktober: „Wir werden sehen, wie Deutschlands NATO-Alliierte diese Initiative beantworten.“ (9)

Die Antwort aus Washington, damals noch unter Präsident Obama war eine klare Absage.

Russlands EU-Nachbar Litauen hielt die Vorschläge für mehr Rüstungskontrolle in Osteuropa für vollkommen inakzeptabel. (10)

Am 25. November 2016 unterstützte eine Gruppe von 14 "gleichgesinnten" AußenministerInnen Steinmeiers Appell in einer gemeinsamen Erklärung (11) den Neustart bei der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Zur Gruppe der 14 zählen Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen, Tschechien, Slowakei und Spanien sowie Österreich, Schweiz, Schweden und Finnland. USA und die baltischen Länder hätten laut Auswärtigem Amt „zurückhaltend auf den deutschen Vorschlag reagiert“ (12)

Im Dezember 2016 unterstützte der OSZE-Außenministerrat in Hamburg Steinmeiers Initiative durch „eine Ministerratserklärung zur konventionellen Rüstungskontrolle (als) wichtiges Signal für eine Trendumkehr ...der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa“. (13)

Die neue US-Administration unter Trump könnte nach Meinung des polnischen Experte Lukasz Kulesa vom European Leadership Network (ELN) die Rüstungskontrolle wiederbeleben: „Wenn sich die US-Regierung für einen Neustart der Beziehungen zu Russland entscheidet, dann könnte die Rüstungskontrolle ein Bestandteil sein. Es könnten zum Beispiel die Nuklearwaffen und die Raketenabwehr verringert werden... “ (14)

Steinmeier fordert mit seinem Appell eine Antwort auf die dramatischen Gefahren des Wettrüstens und der Konfrontation in Europa HEUTE. Die sind keinesfalls geringer geworden. So bekräftigte Admiral Scott Swift, Kommandeur der US-Pazifikflotte am 27.07.2017 seine Bereitschaft, auf Anordnung Präsident Trumps einen Atomschlag gegen China führen (s. Anm. 9). Und Anfang Juli 2017 appellierten ehemalige Außen- und VerteidigungsministerInnen sowie führende RegierungsvertreterInnen aus Russland, Großbritannien, Türkei, Polen, Deutschland, Italien und Finnland in einem „Aufruf an die Regierungen der Länder im euro-atlantischen Raum“, konkrete Maßnahmen gegen die „Abwärtsspirale in West-Russland-Beziehungen zu stoppen“, um eine „militärische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen“ zu verhindern. (15) Angesichts der friedenspolitischen Schweigsamkeit selbst in Wahlkampfzeiten stellt sich die Frage: Wo bleibt öffentlicher Druck und Debatte über eine „Entspannungspolitik JETZT!“, um das weitere Schlittern eine „Kuba-Krise“ wie vor 55 Jahren zu verhindern?

 

Anmerkungen
1 https://www.project-syndicate.org/commentary/reviving-arms-control-in-europe-by-frank-walter-steinmeier-2016-08?barrier=accessreg

2: https://www.project-syndicate.org/commentary/reviving-arms-control-in-europe-by-frank-walter-steinmeier-2016-08/german

3 Address by President Kennedy at The American University, Washington, D.C., June 10, 1963, deutsche Version: https://www.jfklibrary.org/JFK/Historic-Speeches/Multilingual-American-University-Commencement-Address/Multilingual-American-University-Commencement-Address-in-German.aspx

4 Daryl G. Kimball: JFK’s American University Speech Echoes Through Time, Arms Control Today, June 2013, S. 33f.

5 (The Nobel Peace Prize 1971) – ”Friedenspolitik in unserer Zeit” – Vortrag des Bundeskanzlers Willy Brandt am 11. Dezember 1971 in Oslo anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises, S. 2-3

6 2017-04-18. – Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung 2016, in: Bundestagsdrucksache 18/11968

7 Wolfgang Richter, Scheitert die konventionelle Rüstungskontrolle?, SWP Aktuell 44, 2011, S. 1

8 https://de.sputniknews.com/politik/20160829312326255-russland-deutschlan...

9 Zitiert von Jerry Sommer, in: http://das-blaettchen.de/2016/12/neue-chancen-fuer-ruestungskontrolle-in-europa-38183.html?print=1

10 http://www.n-tv.de/politik/Steinmeier-erntet-Kritik-fuer-Russland-Vorstoss-article18630431.html

11 http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/Abruestu...

12 November 2016 – Wolfgang Richter, Neubelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa / Ein Beitrag zur militärischen Stabilität in Zeiten der Krise, SWP-aktuell 76, S. 2.

13 2017-04-18. – Bundesregierung, Jahresabrüstungsbericht 2016, Drucksache 18/11968, S. 5.

14 Rod McGuirk, „US admiral stands ready to obey a Trump nuclear strike order“, in:   https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/us-admiral-stands-ready-to-obey-a-trump-nuclear-strike-order/2017/07/27/54b00c48-7282-11e7-8c17-533c52b2f014_story.html

15 ELN, Pan-European Task Force on Cooperation in Greater Europe: Managing the Cold Peace between Russia and the West, in: http://www.europeanleadershipnetwork.org/managing-the-cold-peace-between-russia-and-the-west_4906.html

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