Jahrestag: 20 Jahre nach dem Pershing II-Unfall

"Noch einmal davongekommen"

von Hansjörg Winter

Nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 und der Entscheidung des Bundestages von 1983, einer Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenwaffen zuzustimmen, wurden ab 1984 die einzelnen Komponenten der Waffensysteme aus den USA angeliefert und in den vorbereiteten Raketenbasen in Süddeutschland montiert und aufgestellt. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung waren die Stationierungsorte der breiten Öffentlichkeit unbekannt, bis ein Unfall mit dem Raketensystem Pershing-II am 11. Januar 1985 in Heilbronn für großes regionales und internationales Aufsehen sorgte. Hiermit soll an die Ereignisse und Diskussionen im Frühjahr 1985 erinnert werden.

Der Raketenunfall
Am frühen Nachmittag des 11.1.1985 entzündete sich bei Montagearbeiten auf der US-Raketenbasis Waldheide in Heilbronn der erste Stufenmotor einer Pershing-II-Rakete und brannte aus. Durch die Wärmestrahlung des rund 3000

C heißen Brandherdes starben zwei Soldaten sofort, einer erlag seinen Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus. Neun weitere Soldaten wurden mit schweren, sieben mit leichten Verletzungen in umliegende Krankenhäuser eingeliefert. Der für die Montagearbeiten eingesetzte Lastwagen sowie der genutzte Behelfsbau und zwei weitere Fahrzeuge wurden völlig zerstört. Ein größeres Raketenteil, das aufgrund des schnell verbrennenden Raketenmotors fortgeschleudert wurde, beschädigte ein rund 120 Meter entfernt stehendes Zivilfahrzeug, das auf einem Waldparkplatz außerhalb des Militärgeländes abgestellt war. Die permanente Alarmstellung gefechtsbereiter Raketen (QRA) befand sich nur 250 Meter vom Unfallort entfernt.

Keine Gefahr?
Noch am selben Tag wurden von Seiten der US-Streitkräfte umfangreiche Untersuchungen zur Unfallursache angekündigt, und US-General Haddock versicherte, dass die Heilbronner Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen sei. Der damalige Verteidigungsminister Manfred Wörner vertrat ebenfalls diesen Standpunkt gegenüber der Öffentlichkeit, dennoch äußerten nicht mehr nur örtliche Friedensgruppen erhebliche Zweifel an der offiziellen Lageeinschätzung. Die unabsichtliche Zündung eines 20KT Pershing-Sprengkopfes wurde von namhaften Wissenschaftlern zwar ausgeschlossen, dennoch hätte der Brand einer bestückten Rakete das enthaltene Plutonium freisetzen und so den Großraum Heilbronn für mehrere Jahrtausende unbewohnbar machen können. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass in lokalen Katastrophenschutzplänen die US-Basis Waldheide überhaupt nicht berücksichtigt war.

Reaktionen
Unter dem Eindruck des Unfalls, der nur vier Kilometer vom Heilbronner Rathaus entfernt stattfand, und den möglichen Konsequenzen, die der Brand einer bestückten Rakete hätte haben können, formierte sich auf regionaler Ebene eine breite Front gegen den Stationierungsort Waldheide. Einstimmig forderte der Heilbronner Gemeinderat zwei Wochen nach dem Unfall die Auflösung der Militärbasis, viele angrenzende Gemeinden folgten diesem Beispiel und untersagten Raketentransporte durch ihre Gemarkung - allerdings ohne Konsequenzen. Drei Wochen nach dem Unfall, die Untersuchungsergebnisse standen noch aus, nahmen die US-Streitkräfte die Transporte zu geheimen Abschussstellungen in der Umgebung wieder auf und wurden daraufhin bei strömendem Regen von 10.000 Heilbronner Bürgern aller sozialer Schichten und Altersklassen auf der Waldheide "besucht". Auffällig war besonders die Teilnahme älterer Menschen, die noch die Bombardierung und völlige Zerstörung der Heilbronner Innenstadt am 4. Dezember 1944 im Zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Neben einer unbefristeten Blockade der Zufahrten zur Militärbasis ab Februar 1985 wurde Mitte März ein Sonderzug in die Bundeshauptstadt Bonn initiiert, an der über 1.000 Heilbronner teilnahmen. Auch der landesweite Ostermarsch fand in Heilbronn statt, und 30.000 Menschen umzingelten Anfang April das Raketengelände.

Unbekanntes physikalisches Phänomen
Rund drei Monate nach dem Raketenunfall wurden die Untersuchungen zur Ursache der spontanen Entzündung des Raketenmotors durch das Pentagon abgeschlossen. Die Experten des US-Militärs sahen es als erwiesen an, dass ein Funke, hervorgerufen durch elektrostatische Entladung, den Treibstoff des Motors entzündete und so zu dem tragischen Unfall geführt habe. Dieses Phänomen sei bisher noch unbekannt gewesen. Ende April 1985 erläuterte Verteidigungsminister Wörner in Begleitung von US-Heeresminister Ambrose medienwirksam die Untersuchungsergebnisse bei einer Informationsveranstaltung für Gemeinderäte und Abgeordnete im Heilbronner Rathaus. Mit der Anbringung eines elektrisch leitenden Schutzanstriches und verbesserten Erdungsmaßnahmen könne ein weiterer Raketenbrand nahezu ausgeschlossen und daher mit den Stationierungsmaßnahmen fortgefahren werden, so Wörner. Den rund 2.000 vor dem Rathaus versammelten Friedensaktivisten stand der Minister nicht zur Verfügung.

Waldheide wieder Wald und Heide
Nach dem offiziellen Bericht des Verteidigungsministers vom April 1985 kehrte in der Stadt Heilbronn, wenn auch nur langsam und oberflächlich, wieder Ruhe ein. Die Friedensbewegung allerdings blieb weiter aktiv und sorgte dafür, dass der Raketenstandort im öffentlichen Bewusstsein blieb. Die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der UdSSR endeten 1987 schließlich mit der Unterzeichnung des INF-Vertrages durch Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, und ab September 1988 wurden die ersten Pershing-Raketen von der Waldheide abgezogen. Nach dem Abzug der US-Streitkräfte Anfang der 1990er Jahre wurden die verlassenen Gebäude der Waldheide durch die Bundesregierung noch eine Zeitlang als Übergangswohnheim für Asylbewerber genutzt, bis die Stadt das Militärgelände vom Bund zurückkaufte und vollständig renaturierte. Heute bildet das Naturschutzgebiet Waldheide eine wichtige Säule in der Heilbronner Stadtranderholung. Dennoch bleiben die Erfahrungen der 1980er Jahre auch heute in der Heilbronner Bevölkerung lebendig, was die verhältnismäßig große Beteiligung vor allem älterer Menschen an Antikriegsdemonstrationen im Vorfeld des ersten und zweiten US-geführten Golfkriegs bewies. Die Friedensbewegung unterhält seit 1992 ein eigenes Büro und organisiert weiterhin den Widerstand gegen militärische Sicherheitspolitik.

 

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