Nord-Süd-Streit um die Menschenrechte

von Michael Windfuhr
Schwerpunkt
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1993 fand die UN-Weltmenschenrechtskonfrernz in Wien statt. Miachel Windfuhr kennzeichnete seinerzeit in einem Aufsatz für die "Blätter des Informationszentrum Dritte Welt, (iz3w)" (Freiburg) die Hauptkon­fliktlinien der Auseinandersetzung in der Menschenrechtsdebatte zwi­schen den Ländern des reichen Nordens und des Südens. In regionalen Vorbereitungskonferenzen hatten sich die Südländer auf die Wiener Konferenz vorbereitet und dabei ihre Interessen formuliert. Auch wenn die Weltmenschenrechtskonferenz nun schon wieder zwei Jahre zu­rückliegt, bleiben diese Konfliktlinien auch für die Zukunft die entschei­denden Problemfelder. Daher dokumentieren wir den Aufsatz von Mi­chael Windfuhr leicht gekürzt aus der "iz3w"-Blätter von Juli 1993 mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Viele Regierungen vor allem aus asiati­schen Ländern sprechen offen vom neuen "Werteimperialismus" des We­stens und betonen, daß die für sie rele­vanten "kulturellen Konzepte im derzei­tigen Menschenrechtssystem nicht wie­derzufinden seien. Schaut man den Be­richt der Vorbereitungskonferenz der asiatischen Staaten im Vorfeld von Wien durch, kann man drei Argumenta­tionslinien finden, die die Hauptbeden­ken der asiatischen Regierungen prägen.

An erster Stelle steht die Bekräftigung der nationalen Souveränität gegenüber Menschenrechtsinterventionen. Gerade die Stärkung des bisherigen Instrumen­tariums z.B. in finanzieller oder organi­satorischer Hinsicht, könnte in Zukunft zu einer schärferen Verurteilung von menschenrechtsverletzen den Staaten durch die Vereinten Nationen führen. Um dieser Entwicklung vorzubeugen, betonen eine Vielzahl der Paragraphen des Textes die Souveränität und das Prinzip der Nichteinmischung. Para­graph 3 hebt hervor, daß gegenseitiger Respekt, eine positive, ausbalancierte und nicht-konfrontative Art die Reform der Vereinten Nationen prägen sollten. Äußere Einmischung wird im Text von Bangkok abgelehnt (4) und die Souve­ränität der Staaten (5) unter Verweis auf die Nichteinmischung in innerterri­toriale Angelegenheiten bekräftigt. Menschenrechte sollen nicht als politi­sches Druckmittel gebraucht werden und jedes Land (6) soll das Recht ha­ben, sein eigenes politisches System und dessen Kontrolle selbst zu bestimmen.

Obwohl der Bericht von Bangkok prin­zipiell die Universalität von Menschen­rechten betont, gibt es dort Passagen, in denen die Universalität durch Verweise auf kulturelle Unterschiede zur Disposition gestellt wird. Paragraph 8 des Bangkok-Textes fordert im Hinblick auf die zukünftige Normsetzung bei den Menschenrechten die Berücksichtigung historischer, kultureller, religiöser und regionaler Traditionen und Eigenarten.

Als dritte Argumentationslinie enthält das Bangkoker Abschlussdokument den deutlichen Verweis auf die Mitverant­wortung der reichen Länder des Nor­dens für die Verletzung von Menschen­rechten im Süden. So fordert der Text in 17 die dringende Umsetzung des Rechtes auf Entwicklung sowie seine Überwachung und die Schaffung inter­nationaler Bedingungen für seine Durchsetzung. Als Haupthindernisse für die Realisierung dieses Rechtes werden die internationalen wirtschaftlichen Be­ziehungen benannt (18), die hauptsächlich, für die sich vergrößernden Lücke zwischen Nord und Süd, zwi­schen denn Reichen und den Armen ver­antwortlich zu machen seien.

Die Diskussionen auf den Vorberei­tungskonferenzen haben sich entlang dieser Konfliktlinien zugespitzt. Auf den ersten Blick scheint die Situation einfach. Unter dem Vorwand kultureller Relativierung und dem Verweis auf wirtschaftliche Entwicklungsschwierig­keiten wollen verschiedene Länder - ge­rade die Staaten in denen schwere Men­schenrechtsverletzungen gegangen wer­den - von der tatsachlichen Situation in ihren Ländern ablenken. Eine solch ver­einfachende Gegenüberstellung von "Verletzen" und "Gerechten", von asiatischer versus europäischer Kultur, erschwert den Versuch, einen neuen in­ternationalen Konsens zur Stärkung der Menschenrechte und zum Schutz der Opfer von Menschenrechtsverletzungen herzustellen.

Zwischen den Versuch von Menschen­rechtsverletzern Despoten von ihrem aktuellen Handeln abzulenken und be­rechtigter Kritik am westlichen Wer­teimperialismus muß unbedingt unter­schieden werden. Diese Kritik ist ge­prägt durch langjährige Erfahrungen mit internationaler Menschenrechtspolitik und beschreibt tatsächliche Defizite.

1. Kulturelle Vielfalt versus Universa­lismus?

Auf Regierungsebene wird das Argu­ment der kulturellen Relativität von Menschen rechten vor allem von fun­damentalistischen islamischen Staaten gebraucht, die z.B. die Einführung der Sharia rechtfertigen oder die Benachtei­ligung von Frauen in ihren Gesellschaften nicht aufheben wollen. In sol­chen Fällen ist es wichtig, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu befra­gen. Gerade für Menschenrechtsaktivi­sten und -aktivistinnen aus Ländern wie Pakistan, dem Sudan und dem Iran, z.B. in Frauenorganisationen, sind die Men­schenrechte ein ganz wichtiges Instru­ment in der alltäglichen Arbeit. Sie for­dern die internationale Aufmerksamkeit, für Verletzungen, denen Einzelpersonen oder ganze Bevölkerungsgruppen in ih­ren Staaten täglich ausgesetzt sind.

Soll das kulturelle Argument dafür genutzt werden, massive Menschenrechts­verletzungen durch Theokraten oder Diktatoren zu rechtfertigen, ist energi­scher Widerstand von Menschenrechts­aktivisten im Norden und Süden not­wendig. Es sind gerade asiatische Menschenrechtsaktivisten, die ihren Regie­rungen an dieser Stelle kein Pardon ge­ben wollen. Geht es um massive Men­schenrechtsverletzungen, ob in Tibet oder Ost-Timor, ist dies keine Frage kultureller Differenzen, sondern dann verläuft die Konfliktlinie in den Staaten selbst, zwischen den Opfern von Men­schenrechtsverletzungen.

Auch aus der Ecke südlicher wie nördli­cher Nichtregierungsorganisationen kommt eine berechtigte Kritik an der Auslegung mancher Formulierung der Menschenrechte. Ein Dialog zwischen den Kulturen kann sicherlich helfen Be­sonderheiten, wie z.B. kollektive Land­rechte, bei indigenen Völker zu berück­sichtigen und Formulierungen der nach 1945 gesetzten Menschenrechtsverträge zu ergänzen und zu erweitern. Bei ei­nem solchen interkulturellen Dialog würde Schnell deutlich werden, daß die Substanz der Menschenrechte verteidi­gunswert ist.

Der Grundgedanke der Menschenrechte entstammt der Unrechtserfahrung von Menschen. Befragt man die Opfer von Folter, ungerechtfertigter Vertrei­bung etc., muß man nicht lange über die Universalität der Menschenrechte strei­ten. In allen Kulturkreisen, in allen Re­ligionsgemeinschaften gibt es ethische Grundlagen, die, den Menschenrechten vergleichbar, Verpflichtungen für den Umgang der Menschen miteinander enthalten. Gerade im kulturellen Be­reich, z.B. in Märchen und Traditionen, kann man dafür genügend Beispiele fin­den.

2. Stärkung der Menschenrechtsinstru­mente versus Souveränität:

Parallel zur Diskussion um die kul­turelle Vielfalt gibt es auch bei der Dis­kussion um die Nicht-Einmischung und Anerkennung der Souveränität ver­schiedene Interessengruppen, deren Ar­gumentationen sich oft überschneiden, die aber nicht vermischt werden sollten.

Die Aufgabe der Menschrechtskonfe­renz, die Effektivität des UN-Menschen­rechtsschutzes zu erhöhen, weckt natür­lich Ängste bei den Staaten, die syste­matisch Menschenrechte verletzen. Für diese Regierungen ist die Betonung der Souveränität, der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten eher der Ver­such, sich vor internationaler Aufmerk­samkeit und Verfolgung aufgrund von Menschrechtsverletzungen zu schützen. Die Angst der Staaten vor einer Anklage und der Verfolgung von Menschen­rechtsverletzungen ist ein Motiv für das Aufleben des Souveränitätsgedankens.

Doch spielt der Souveränitätsgedanke auch bei lateinamerikanischen Nichtre­gierungsorganisationen eine große Rolle. Tief sitzt die Sorge, daß der IWF und die Weltbank letztendlich die Krite­rien für das nationale Entwicklungsmo­dell festlegen, während Menschenrechte immer nur im Hinblick auf die bürgerli­chen und politischen Freiheitsrechte eingefordert werden. Hier erweist es sich als folgenschwerer Mangel, daß die wirtschaftlichen, sozialen und kulturel­len Menschenrechte (die Menschen­rechte der zweiten und dritten Genera­tion), besonders im westlichen Men­schenrechtsverständnis so lange eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Sie wurde immer als anzustrebende Politik­ziele angesehen, die mit wachsendem Wohlstand erreicht werden könnten.

Entsprechend unterentwickelt ist das In­strumentarium zur Durchsetzung dieser Rechte, zu denen die Rechte auf ange­messene Nahrung, auf Behausung, auf Arbeit, Gesundheit, Bildung etc. gehö­ren. Erst 1987 hat der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der Vereinten Na­tionen ein Komitee zur Überwachung dieser Rechte eingesetzt, bei dem die Mitgliedsstaaten des 'Paktes über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturel­len Rechte' verpflichtet werden, alle fünf Jahre einen Bericht über die Ein­haltung dieser Rechte abzugeben. Offi­zielle Beschwerdeverfahren von anderen Staaten oder Einzelpersonen - bei den bürgerlich-politischen Menschenrechten möglich - existieren nicht. Dementspre­chend schwer ist es für Organisationen, die im Bereich dieser Rechte in Latein­amerika, aber auch anderswo, arbeiten, diese Rechte durchzusetzen. Dies be­trifft sowohl Rechtsverletzungen durch nationale und internationale Firmen und Institutionen als auch durch den eigenen Staat, zu ihnen kommt es z.B. bei Groß­projekten, wenn Tausende von Familien die Existenzgrundlage verlieren ohne einen Pfennig Entschädigung zu erhal­ten.

3. Das Recht auf Entwicklung, die in­ternationalen Wirtschaftsbeziehnung und neue Konditionalität

Deutlich ist der Text der Bangkok-Kon­ferenz in der Ablehnung einer Men­schenrechtskonditionalität für Entwick­lungszusammenarbeit. Die asiatischen Staaten reagieren damit auf die Ent­wicklung, daß mehr und mehr Staaten des Nordens die Vergabe von Entwick­lungshilfe an die Erfüllung von Krite­rien knüpfen. Sie setzen dem vehement die Anerkennung auf Entwicklung für Menschen und Staaten entgegen. Sehr reserviert reagieren allerdings die Indu­strieländer, wenn an ihre Mitverant­wortung für die soziale Lage in den Ländern des Südens appelliert wird, etwa bei Forderungen nach Schulden­streichung oder fairen Marktbedinun­gen; spiegelt sich doch gerade in der Entwicklung von Konditionalitätskrite­rien ihre Grundüberzeugung wieder, daß die internen Bedingungen in den Ent­wicklungsländern entscheidend sind für den Erfolg oder Misserfolg von Ent­wicklungsbemühungen.

Argumentativ wurde der Zusammen­hang von verschiedenen Ländern Asiens und Lateinamerikas während des Vorbe­reitungsprozesses wiederholt hergestellt: Während der Norden sich gegen eine wirkliche Neuordnung der Wirtschafts­beziehungen zwischen Nord und Süd sperrt, versucht er mittels Konditionali­tät Einfluss auf die Innenpolitik der Län­der des Südens zu nehmen.

Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat dieses Problem für viele Länder des Südens noch zugespitzt. Lange Zeit konnten Entwicklungsländer den Kon­flikt zwischen Ost und West dazu nut­zen, z.T. sogar wechselnd von den ver­schiedenen Lagern politisch unterstützt zu werden. Gab es doch immer zwei Optionen, um finanzielle Hilfe zu er­halten. Menschenrechtsverletzungen von Diktaturen übersah der Westen da­bei oft. Mit dem Wegfall der geostrate­gischen Notwendigkeit der Unterstüt­zung sehen sich viele Länder, die wirt­schaftlich keine große Bedeutung haben, dem Norden (und seinen Entwicklungs­kriterien) ausgeliefert. Überdies wer­den Menschenrechte gerade gegenüber den kleinen, wirtschaftlich für den Nor­den unbedeutenden Ländern zunehmend als Kriterium für die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Beziehungen und für die Vergabe von Hilfsgeldern genutzt.

Doch auch südliche Nichtregierungsor­ganisationen sind skeptisch gegenüber der Konditionalisierung und den politi­schen und ökonomischen Beziehungen. Gerade afrikanische Menschenrechtsak­tivisten haben zusehen müssen, wie westliche Regierungen über Jahrzehnte jene Diktatoren gefördert haben, gegen die sie gerade kämpften, bzw. daß der Menschenrechtssituation in ihren Län­dern oft keine Beachtung geschenkt wurde. Immer wieder betonen Nichtre­gierungsorganisationen aus Afrika und Lateinamerika, daß statt offensiver De­mokratieförderung heute die Menschen­rechte zu schnell mit anderen Leitideen verbunden und sowohl von westlichen Staaten als auch von UN-Organisatio­nen zu einem Entwicklungskonzept ver­knüpft werden, das politisch mittels Konditionalität und Strukturanpas­sungsprogrammen außenpolitische und ökonomische Interessen mit der Men­schenrechtslage verbindet.

Für die Vergabe bundesdeutscher Ent­wicklungshilfe sind z.B. Demokratisie­rung, rechtsstaatliche Organisations­prinzipien, die Höhe der Rüstungsaus­gaben, aber auch eine marktwirtschaftli­che Orientierung und entsprechende In­stitutionen gleichwertige Kriterien. Of­fen ist bislang die Frage, wie diese Kri­terien untereinander gewichtet werden. Dem Kriterienkatalog fehlt zudem die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. An die­sem Punkt setzt zusätzliche Kritik von Menschrechtsaktivisten aus dem Süden an. Immer wieder haben Entwicklungs­projekte z.B. zu Vertreibungen und an­deren Verletzungen wirtschaftlicher, so­zialer und kultureller Menschenrechte geführt. Die Vergabe der Hilfe ist selten an tatsächlichen Bedürfnissen von Ar­men orientiert. Nach wie vor gehen, nach Angaben von UN-Entwicklungs­organisation (UNDP) nur sieben Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe der OECD-Länder in sogenannte 'human priority areas'.

Glaubwürdigkeit kann ein Konzept der Konditionalität nur dann gewinnen, wenn es zum einen offen ist für verschiedene Modelle der Partizipation in einer Gesellschaft und für verschiedene ökonomische Modelle. Für die Erfül­lung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte können durchaus staatliche Ein­griffe: (Arbeitsbeschaffungsprogramme/ Außenandelsschutz von Kleinbauern etc.) in die Wirtschaft notwendig sein. So lange die gewählten Konditionali­tätskrieterien bei der Vergabe der eige­nen Hilfe keine entsprechende Anwen­dung finden, klafft eine Glaubwürdig­keitslücke.

Völkerrechtlich weist für Nichtregie­rungsorganisationen das Recht auf Ent­wicklung zudem über die wirtschaftli­chen, sozialen und kulturellen Men­schenrechte hinaus auf die Mitverant­wortung des Nordens für die Rahmen­bedingungen von Entwicklung. Die Forderung nach einer neuen internatio­nalen Wirtschafts- und Sozialordnung ist mit diesem 1986 in die Erklärung der Generalversammlung eingegangenen Text völkerrechtlich festgehalten wor­den.

Glaubwürdige Menschenrechtspolitik ist Voraussetzung für Weiterentwicklung der Menschenrechte

Voraussetzung für eine positive Wei­terentwicklung der Menschenrechtsin­strumente erscheint vor dem geschil­derten Hintergrund vor allem eine gläubwürdige und konsistente Men­schenrechtspolitik. Eine Konditionalität, die sich exklusiv um politische Frei­heitsrechte kümmert, stellt auch demo­kratietheoretisch einen Rückschritt dar. Die Unteilbarkeit der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte muß drin­gend einen Niederschlag in der Praxis finden. Wenn die Kombination aus Freiheit und Gleichheit Kernbestand je­der partizipativen Grundordnung dar­stellt, muß dies zur Grundlage einer glaubwürdigen Menschenrechtspolitik werden.

 

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