Die Illusion von Sicherheit

Nukleare Abschreckung

von Angelika Claußen
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Ausgelöst durch das unberechenbare Verhalten Russlands erleben wir derzeit einen Bewaffnungsreflex aller am Ukrainekrieg direkt und mittelbar beteiligten Staaten. Ein Denk- und Handlungsmuster der Kriegslogik: der Mythos der „erlösenden Gewalt“. In der Friedenswissenschaft ist der Mythos der „erlösenden Gewalt“ der erste Schritt zur absoluten Eskalation. In einem Krieg, an dem vier Atomwaffenstaaten beteiligt sind, würde die Eskalation bis zum Atomkrieg das Ende der Welt, wie wir sie kennen, bedeuten.

Ähnlich wie beim Klimawandel lässt sich dieses Schreckensszenario nur durch Kooperation aller Beteiligten abwenden. Eine alte Forderung der Friedensbewegung, ist damit wieder hochaktuell: No first use! Kein Ersteinsatz von Atomwaffen – alle  Atommächte müssten sich in einer rechtswirksamen Erklärung in Form eines Vertrags vor der UNO-Vollversammlung zu diesem Ziel bekennen.

Atomkriegsgefahr durch den Ukrainekrieg
Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron halten die Gefahr, dass der Ukrainekrieg zu einem Atomkrieg eskalieren könnte, für real. Auch UNO-Generalsekretär Guterres ist in größter Sorge. Er schließt einen nuklearen Konflikt nicht mehr länger aus. Präsident Putin und Außenminister Lawrow drohen regelmäßig mit einem möglichen Einsatz russischer Atomwaffen, falls die Existenz Russlands gefährdet sei. Verschärft werden diese Drohungen durch das russische Staatsfernsehen, welches die russische Bevölkerung auf einen Einsatz von Atomwaffen einschwört. Mit Simulationen wird gezeigt, wie lange eine Atombombe in europäische Städte wie Berlin, London und Paris brauchen würde. 106 Sekunden nach Berlin - ein solcher Angriff könnte weder abgefangen werden, noch hinterließe er Überlebende. (1)

Der amerikanische Verteidigungsminister Austin hat bei dem Treffen der 40 Außenminister auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Ramstein die jüngsten Warnungen des russischen Außenministers Sergej Lawrow vor einem dritten Weltkrieg und einem Einsatz von Nuklearwaffen kritisiert. Jedes Gerede über den möglichen Einsatz von Atomwaffen sei "sehr gefährlich und wenig hilfreich", so Austin. (2) Allerdings versicherte CIA-Chef Bill Burns, die USA würden die russische Drohung  eines Nuklearschlages z.B. mit taktischen Atomwaffen ernst nehmen. Präsident Biden sei mit seiner Politik bemüht, eine Schwelle zu vermeiden, ab der ein atomarer Konflikt möglich werde. (3)

Bei der Frage, ob der Ukrainekrieg einen Atomkrieg auslösen könnte, müssen jedoch zwei Szenarien unterschieden werden. Der geplante Einsatz einer Atomwaffe im Falle einer existenziellen Bedrohung Russlands und ein „Atomkrieg aus Versehen“, bei dem es in den Frühwarnsystemen in Reaktion auf einen feindlichen Atomschlag zu einem Fehlalarm kommt. Bei Letzterem würde ein Angriff mit Atomwaffen gemeldet, obwohl keine atomare Bedrohung besteht.

Einige Medienvertreter wie Manfred Sapper (DIE ZEIT) oder der Professor für Geopolitik und Strategie an der London School of Economics, den die WELT oft interviewt, betonen die Irrationalität Putins in seiner Weltsicht und Kriegsführung. Gleichzeitig argumentieren Sicherheitsexpertinnen wie Claudia Major (SWP) mit Blick auf die russischen Drohgebärden in Bezug auf einen Atomwaffeneinsatz mit Putins Rationalität: Putins Hemmschwelle für einen bewussten nuklearen Einsatz sei zu groß.

Über die Möglichkeit eines „Atomkriegs aus Versehen“ (4) wird in den Medien kaum diskutiert. In Fernsehdebatten warnen Moderator*innen wie Markus Lanz stattdessen den IPPNW -Vorsitzenden Lars Pohlmeier davor, Apokalypse-Szenarien an die Wand zu malen.

Doch die Gefahr von menschlichen oder technischen Fehlern ist real und in der aktuellen Kriegssituation extrem hoch. Sollte es zu einem Erstschlag kommen, können Automatismen und eine Eskalation zu einem globalen Atomkrieg führen. Welche humanitären Folgen das für das Leben auf unserem Planeten hätte, hat die Kampagne ICAN in ihrer Publikation „Katastrophales Humanitäres Leid“ (5) ausführlich beschrieben.

Nukleare Abschreckung bietet keine Sicherheit
Oft wird behauptet, dass Atomwaffen Kriege zwischen den Großmächten verhindern, „strategische Stabilität“ bewahren oder gar „Sicherheit schaffen“. Obwohl von NATO-Sicherheitsexperten fast gebetsmühlenartig wiederholt, gibt es dafür keinen Beweis, außer der bloßen Korrelation der Existenz von Atomwaffen und der Tatsache, dass ein Dritter Weltkrieg (noch) nicht stattgefunden hat. Die Atommächte, allen voran Russland, die frühere Sowjetunion, und die USA, waren seit Beginn des Atomzeitalters in etliche Kriege verwickelt – darunter zahlreiche Stellvertreterkriege.

Auch der Ukrainekrieg entwickelt sich inzwischen zu einem Stellvertreterkrieg zwischen der Ukraine und der NATO auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Der Konflikt zwischen der NATO bzw. den USA als NATO-Führungsmacht und Russland sowie die Rolle der NATO-Osterweiterung spielen eine wesentliche Rolle in der Vorgeschichte des Krieges. Der Journalist Andreas Zumach hat in verschiedenen Publikationen die Mitverantwortung des Westens durch die Osterweiterung der NATO beschrieben. (6) Die Lösung dieses Konflikts zwischen beiden Großmächten im Rahmen des Aufbaus einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur könnte einen Schlüssel zur erfolgreichen Beendigung des Krieges anbieten. Stichworte wie nicht-nukleare NATO bzw. ein Ende der Doktrin der nuklearen Abschreckung gehören dabei auf die langfristige Tagesordnung. Doch dazu müssen die USA mit am Verhandlungstisch sitzen.

Rückblickend sehen wir, dass Atomwaffen weder in Vietnam noch in Afghanistan oder im Irak zu einem Ende der Gewalt beigetragen haben. Im Gegenteil: Die vermeintlich eigene Unverwundbarkeit begünstigt ungezügelte Grausamkeiten, so wie wir es beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erleben.  

Großmachtansprüche der Atommächte
Bis 1994 waren die ehemaligen sowjetische Atomwaffen in der Ukraine stationiert, ebenso wie in Weißrussland und Kasachstan. Zurzeit wird argumentiert, Russland hätte die Ukraine nicht angegriffen, wären diese noch immer im Land. Die Fakten verdeutlichen schnell: diese Argumentation kann schon alleine deshalb nicht stimmen, weil die Ukraine zu keinem Zeitpunkt Zugang zu den sowjetischen Atomwaffen hatte. Sie waren lediglich auf ukrainischem Territorium stationiert.

Im Rahmen des „Budapester Memorandums“ verpflichteten sich diese drei Staaten damals, die Atomwaffen nach Russland zu überführen. Dafür erhielten sie eine Nichtangriffsgarantie (Respektierung der Grenzen) von Russland, Großbritannien und den USA. Leider war das Budapester Memorandum schlussendlich kein rechtlich verbindliches Dokument. Es enthielt keine Beistandsverpflichtung für den Fall, dass ein Staat die Grenzen nicht mehr respektieren würde.

Aus russischer Perspektive ist der Ukrainekrieg als Zerfallskrieg des ehemaligen Großreichs zu kennzeichnen. Trotz aller Unterschiede besteht eine Kontinuität zwischen dem Zarenreich und dem Sowjetreich. In Russland bedeutete das Ende der Sowjetunion ein Auseinanderfallen der Sowjetstaaten in Einzelstaaten. Weißrussland und die Ukraine werden hinsichtlich ihrer Identitätsprozesse aus russischer Sicht am stärksten (Kern-)Russland zugeordnet.

Als Atom- und Großmacht auf der internationalen Weltbühne geht es Russland um Behauptung, Bewahrung und Anerkennung gegenüber der NATO und den USA als Führungsmacht der NATO sowie China. Hier spielt die Osterweiterung der NATO eine verschärfend negative Rolle. Diese bewertet Russland als gegen die eigenen Großmachtansprüche gerichtet.

Neues nukleares Wettrüsten in Europa
Die Situation ist gefährlich explosiv. Doch anstatt zu deeskalieren und friedenspolitische Ansätze auf die Agenda zu setzen, rüstet die Bundesregierung auf. Ab 2023 sollen die bisher in Büchel stationierten US-Atomwaffen durch aufgerüstete B61-12 Atombomben ersetzt werden. (7) Um diese Bomben einzusetzen, sollen neue Kampfjets aus den USA gekauft werden. Für Deutschland bedeutet das die größte nukleare Aufrüstung seit dem Nato-Doppelbeschluss. Putin hatte bereits 2015 angekündigt, auf diese Aufrüstung mit Gegenmaßnahmen zu reagieren. (8)

Aus friedenslogischer Sicht bedeutet nukleare Abschreckung, konsequent zu Ende gedacht, die Vorbereitung zum Atomkrieg. Daher ist es inakzeptabel, dass sich die Ampel-Koalition der nuklearen Aufrüstung verschrieben hat.

Leider steht Deutschland damit nicht alleine da: Weißrussland hat im Februar 2022 seinen Status als atomwaffenfreie Zone aufgegeben, um ggf. russische Atomwaffen stationieren zu lassen. (9) Und auch in Lakenheath, Großbritannien, könnten bald wieder B 61-12 Atombomben stationiert werden, nachdem sie vor 14 Jahren abgezogen worden waren. (10)

Die Kombination aus kurzen Flugzeiten der Raketen innerhalb Europas, mit entsprechend kurzen Vorwarnzeiten, und der Gefahr von technischen oder menschlichen Fehlern ist in Europa zurzeit brandgefährlich.

Sicherheit geht nur gemeinsam
Als Teil der Friedensbewegung setzen wir uns deshalb für den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag ein, der im letzten Jahr in Kraft getreten ist. Weiterhin fordern wir von den Atommächten als ersten Schritt für eine Deeskalation im Ukrainekrieg, den Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen. Dieser könnte in einem rechtlich bindenden Vertrag festgehalten werden. Gleichzeitig müssen Rüstungskontrolle, nuklear und konventionell, und atomare Abrüstung wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Angesichts der fortschreitenden Klimakrise, die das Leben auf unserem Planeten ebenso bedroht wie ein Atomkrieg, müssen wir handeln. Beide Bedrohungen, Atomkrieg und Klimakrise sind durch menschliches Handeln verursacht. Beide Bedrohungen können auch durch menschliches Handeln zum Positiven beeinflusst werden. Durch Kooperation, durch internationale rechtswirksame Verträge, und verbindliche Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Verträge.  

No first use! Kein Ersteinsatz von Atomwaffen! Weder im Ukrainekrieg, noch anderswo!

 

Anmerkungen
1 https://www.berliner-zeitung.de/news/in-106-sekunden-in-berlin-atomwaffe...
2 https://www.n-tv.de/politik/Lawrows-Nuklearwaffen-Drohung-US-Minister-Au...
3 https://www.n-tv.de/politik/CIA-nimmt-Putins-Atomwaffen-Drohung-ernst-ar...
4 https://atomkrieg-aus-versehen.de/ukraine-krieg-atomkriegsrisiko/
5 https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2017/11/cch-booklet_2017_deutsch...
6 https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/013999.html
7 Dan Zak, Meet the nukes the US keeps in Europe, waiting not to be used, 25. März 2022, https://www.washingtonpost.com/lifestyle/2022/03/25/nuclear-weapon-b61-r...
8 https://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/russland-us-atomwaffen-deuts...
9 https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/belarus-lukaschenko-verfassu...
10 https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/nuclear-weapons-us-mod-ra...

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege

Themen