6x jährlich erscheint unsere Zeitschrift "FriedensForum" und informiert über Neuigkeiten aus der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeheft zu!
Von Assad zu ISIS
„Nur SyrerInnen können Syrien befreien“
vonDer Glaube an die Macht des zivilen Widerstands in Syrien ist immer noch am Leben. Die Journalistin Julia Taleb sprach mit AktivistInnen, die Menschen unter der Kontrolle von ISIS auffordern, sich zu wehren – gewaltfrei.
Suad Nofel ging im Juli 2013, als die AktivistInnen in der syrischen Stadt Raqqa Angst hatten, vor dem Hauptquartier des Islamischen Staats des Irak und Syriens (ISIS) zu demonstrieren, alleine auf die Straße. Ihr selbst gemaltes Schild hochhaltend, setzte die Lehrerin nicht nur ISIS, sondern der gesamten Gesellschaft ein Zeichen. Drei Monate lang ging sie jeden Tag zu dem Hauptquartier von ISIS mit immer neuen Botschaften wie „ Erzählt mir nichts über Eure Religion, sondern zeigt es in Eurem Verhalten!“ oder „Nein zu Unterdrückung, nein zu ungerechten Gesetzen, nein zu Sühne und ja zum Denken!“
Fast zwei Jahre zuvor gingen hunderttausende SyrerInnen in Daraa auf die Straße, um ein Gerichtsverfahren für den Gouverneur der Stadt zu fordern, dessen Festnahme und Folter von Kindern den Aufstand gegen Assad ausgelöst hatte. Menschen unterschiedlicher ethnischer Gruppen, Religion und sozialen Schichten protestierten friedlich gegen das Regime. Damals gelang es dem gewaltfreien Widerstand, von der Regierung Zugeständnisse zu erzwingen, darunter die Absetzung des Gouverneurs, die Entlassung hunderter politischer Gefangener und die Aussetzung des Notstandsgesetzes, das 48 Jahre in Kraft war. Mit der Gründung der Freien Syrischen Armee (FSA) im Juli 2012 schlossen sich auch andere bewaffnete Gruppen, darunter die Al-Kaida-nahe Al Nusra-Front und ISIS, dem Kampf an. Nachdem der Widerstand bewaffnet wurde, entwickelte sich ISIS zur stärksten und brutalsten Macht in Syrien. Er kontrolliert heute 60% der syrischen Erdölvorkommen und die größten Weizenanbaugebiete im Land.
„Ich konnte nicht zuschauen, wie unschuldige Leute von ISIS verhaftet, ausgeplündert, gekidnappt und hingerichtet wurden“, sagt Nofel. „Wir haben 43 Jahre lang zu der Unterdrückung des Regimes geschwiegen und ich will keinen neuen Tyrannen hinnehmen.“
Als sich die Streitkräfte des Regimes am 05. März 2013 aus Raqqa zurückzogen, übernahm anfänglich die FSA die Kontrolle. In der Zeit etablierten sich Bürgerrechtsorganisationen einschließlich lokaler Räte und Frauenorganisationen wie JINA, die durch Näh- und Lebensmittelherstellung Einkommensmöglichkeiten für Frauen schaffen wollte. „… Al Nusra, Ahrar l Sham, ISIS und andere islamische gab es in Raqqa, aber sie waren nicht so mächtig. Damals dachten viele, dass sie da seien, um die Menschen von Assads Truppen zu befreien“, erklärt ein Mitglied der FSA.
Als die Macht der ISIS wuchs, tötete sie Mitglieder der FSA und übernahm schrittweise durch Fatwas, religiös begründete Rechtsvorschriften, die Kontrolle über die gesamte Stadt. ISIS wurde für seine brutalen Praktiken der öffentlichen Auspeitschungen, Hinrichtungen von ZivilistInnen und die Durchsetzung der strengen Regeln des islamischen Sharia Gesetzes, selbst für Christen, bekannt. ISIS schloss JINA, um jedes Treffen von BürgerInnen oder Organisationen zu verhindern, die nicht direkt unter seiner Kontrolle stehen.
Trotzdem begannen AktivistInnen erneut zu demonstrieren, aber diesmal gegen islamische Bataillone einschließlich ISIS. Im Juli 2013 nahm ISIS einen Mann gefangen, der ausgepeitscht wurde, weil er versucht hatte, die Miliz davon abzuhalten, das Heim eines Schiiten anzugreifen. Nofel: „Als wir davon hörten, haben mehr als 200 Menschen stundenlang vor dem Büro der IS demonstriert, bis sie ihn freigelassen haben.“
Als ISIS den Aktivisten Feras Al Haj Saleh am 19. Juli 2013 entführte, protestierten mehr als 300 Menschen am Büro von Ahrar Al Sham. „Dies war die größte Demonstration gegen Extremismus in Raqqa“, sagte Nofel.
In anderen Städten – hauptsächlich in den Provinzen Aleppo und Idlib – gab es ebenfalls große Proteste gegen ISIS. Im Januar 2014 demonstrierten hunderte SyrerInnen in Achrafieh und riefen: „Nieder mit ISIS“.
Am 20. September 2013 begannen Menschen in Achrafieh einen Sit-in, an dem auch Kinder teilnahmen, der „Nur SyrerInnen werden Syrien befreien“ genannt wurde.
Die Kampagne „Raqqa wird lautlos abgeschlachtet“ wurde im April 2014 gegründet, um die Praktiken von ISIS mit der Unterstützung von vor Ort ansässigen Menschen aufzudecken, die Informationen trotz strenger Überwachung durchsickern ließen. Die Gruppe richtete eine Facebook-Seite und einen Twitter-Account als alternatives mediales Mittel ein, die tausende Follower erreichten, um die Verbrechen von ISIS gegen ZivilistInnen zu enthüllen.
Im Mai 2014 schlossen Geschäftsleute in Minbij ihre Geschäfte und Büros, um in einen Generalstreik zu treten. ISIS sandte seine Truppen, um die Geschäfte wieder zu öffnen, aber die Menschen begannen zu demonstrieren und forderten ISIS auf, zu gehen.
ISIS versucht zu expandieren und einen Islamischen Staat in der Province Der el-Zor zu gründen.
„Das wahre Motiv sind die ökonomischen Ressourcen der Stadt“, sagte ein Mitglied der FSA. Menschen in solchen Orten haben angefangen, zu demonstrieren, um ISIS daran zu hindern, ihre Nachbarschaften völlig zu kontrollieren,
Unabhängige Zeitungen, die nach dem syrischen Aufstand wie Pilze aus dem Boden schossen, um über die Revolution und die Verbrechen des Regimes aufzuklären, deckten nun die Gräueltaten von ISIS auf.
Die Local Coordinating Committees, ein Netzwerk lokaler Gruppen in Syrien, das 2012 gegründet wurde, um Proteste zu organisieren, Hilfsgüter zu unterstützen und die Gewalttaten des Regimes zu berichten, sind auch in der Dokumentation und der Berichterstattung der Brutalität von ISIS über Online- und Soziale Medien aktiv.
ISIS benutzte soziale Medien zur Veröffentlichung von Exekutionen an ZivilistInnen, um Menschen vom Widerstand abzuhalten. „Andauerndes Schießen, öffentliches Auspeitschen und Exekutionen von AktivistInnen reduzierten die bürgerlichen Aktivitäten in Raqqa auf ein Minimum“, sagte ein Mitglied der FSA.
Laut der Al Arabi Al Jadeed, einer Online-Zeitung, richtete ISIS seit seinem Bestehen mehr als 1.600 Menschen hin, darunter 53 Frauen und 67 Kinder.
Das barbarische Töten von ISIS hat die Bevölkerung in Schrecken versetzt. „Wenn die Menschen von ISIS hören, rennen sie entweder davon oder sie geben auf“, sagte die Aktivistin Zoia.
Als Nofel 2013 protestierte, war ISIS noch nicht so mächtig wie heute, und seine Führung war empfänglich für die öffentliche Reaktion. „Aber leider haben sich meinen Anstrengungen zum Widerstand nicht genügend Menschen angeschlossen, und das ist der Grund, warum sie stärker wurden“, sagte Nofel.
Die Abwesenheit des Regimes aus befreiten Regionen und die Unfähigkeit der Opposition, diese zu verwalten, gab ISIS die Gelegenheit, die volle Kontrolle zu übernehmen.
„Menschen in Städten, die bedroht sind, unter die Kontrolle von ISIS zu fallen, könnten gestärkt und ihre Aktivitäten gefördert werden“, sagte Zoia. „Wir können abtrünnige RichterInnen und AnwältInnen unterstützen, Zivilgerichte aufzubauen, um islamischen Autoritäten etwas entgegenzuhalten. Wir können auch Schulen wiederaufbauen und Kommunalräte dabei unterstützen, der Bevölkerung bessere Dienste bereitzustellen.“ Von der Herausforderung des Assad-Regime zu ISIS: zivile und gewaltfreie Aktivitäten sind immer noch auf lokaler Ebene am Leben. „Ziviler Widerstand sollte in den von ISIS bedrohten Gebieten fortgesetzt werden“, sagte Nofel. „Nur SyrierInnen können Syrien befreien.“
Übersetzung: Eva Liefhold