Oberlandesgericht contra Pazifisten

von Maren Witthoeft
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Stuttgart, 19. April. Der Freispruch für sieben Mitglieder der Friedensbewegung, den das Stuttgarter Amtsgericht unter Vorsitz von Richter Rainer Wolf im Oktober vergangenen Jahres gesprochen hatte (vgl. FriedensForum 6/96), ist gekippt. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen den Freispruch Revision eingelegt, der nun das Oberlandesgericht Stuttgart stattgegeben hat. Der Fall wird an eine/n andere/n Richter/in des Stuttgarter Amtsgerichts zurückverwiesen.

Zur Erinnerung: Die sieben Angeklagten waren an Heiligabend 1992 auf das Gelände des EUCOM, der europäischen Kommandozentrale der US-Streitkräfte für Europa, den Mittelmeerraum und den Mittleren Osten, eingedrungen, nachdem sie den Zaun mit Bolzenschneidern durchtrennt hatten. Mit ihrer Aktion wollten sie auf die militärischen Funktionen aufmerksam machen, die dem EUCOM unterliegen. Von hier aus werden die militärischen Operationen der US-Streitkräfte geplant und gelenkt, so etwa der Übergriff auf Libyen 1986 und der Nachschub für die Aktion "Wüstensturm" am Golf 1991. Darüber hinaus unterliegt dem EUCOM die Einsatzplanung der in Europa stationierten US-Atomwaffen. Die Angeklagten hatten sich in ihren Einlassungen vor dem Amtsgericht u.a. auf völkerrechtliche Grundsätze berufen, die über Art. 25 Teil des Grundgesetzes sind. Auch das Amtsgericht begründete den Freispruch mit der Anerkennung übergeordneter Rechtfertigungsgründe und hielt das Handeln der Angeklagten aufgrund eines Defensivnotstandes nach 228 BGB für gerechtfertigt. Richter Wolf stützte sich in seinem Urteil v.a. auf ein eigens für diesen Prozeß eingeholtes Gutachten des Hamburger Völkerrechtlers Professor Norman Paech sowie auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen. Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Revision damit, daß die in 228 BGB vorausgesetzte Notstandslage erfordere, "daß die drohende Gefahr gerade von der beschädigten oder zerstörten Sache ausging." Vom Zaun, der die Kommandozentrale weiträumig umgibt, gehe jedoch keine Gefahr aus und damit sei das Unmittelbarkeitsprinzip nicht erfüllt. Der Verteidiger, der Münchner Anwalt Frank Niepel, hatte nochmals betont, daß es den Angeklagten nicht um den Zaun gehe und "auch nicht um die Demonstration irgendeiner Meinung", daß sie vielmehr mit ihrer Aktion auf die tödliche Gefahr aufmerksam machen wollten, die vom EUCOM ausgehe. Sie hätten das denkbar schonendste Mittel gewählt, um auf ihre Ziele aufmerksam zu machen und einen Dialog über die Fragen der Atomwaffenstationierung in Politik, Justiz und Gesellschaft zu erzwingen. Das Oberlandesgericht ging auf die von den Angeklagten und der Verteidigung vorgetragenen Argumente mit keinem Wort ein und gab der Revision statt. Der vom Amtsgericht formulierte "erweiterte Defensivnotstand" sei nicht erfüllt. Zudem sei die "latente Gefahr" eines Atomkrieges keine "gegenwärtige Gefahr" und deshalb ein Eingreifen zur Gefahrenabwehr nicht zu rechtfertigen.

Die Hoffnung der Angeklagten, es käme zu einer sog. Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVG), wurde enttäuscht. Jetzt geht das Verfahren um die bereits über fünf Jahre zurückliegende Aktion zurück ans Amtsgericht und wird von dort die Mühlen der Justiz durchlaufen, denn das Ziel der Angeklagten bleibt: Vorlage vor das BVG, "um dessen skandalöse Rechtsprechung zu Massenvernichtungswaffen", so der Mitangeklagte Dr. Wolfgang Sternstein, "zu korrigieren".

Einer der Angeklagten stellte dem Gericht die Frage, ob sie denn freigesprochen worden wären, hätten sie die zentralen Computeranlagen im Befehlsbunker des EUCOM "abgerüstet", von denen aus der Einsatz von Atomwaffen im Ernstfall gesteuert würde, da hier der offensichtliche Zusammenhang zwischen Tatziel und Gefahrenquelle unmittelbarer erkennbar sei? Die Frage blieb unbeantwortet.

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Maren Witthoeft ist freie Journalistin und lebt in Stuttgart.