Ziviler Friedensdienst

Ohne Zivilgesellschaft kein Frieden

von Endy HagenChristina Sell

Im folgenden Beitrag beschreiben die Autorinnen die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) in Afghanistan. Der ZFD ist ein Instrument der zivilen Konfliktbearbeitung, das 1999 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung geschaffen wurde. Vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verwaltet, entsenden insgesamt neun deutsche Organisationen – acht nichtstaatliche und die GIZ als staatlicher Träger – Fachkräfte in Krisen- und Konfliktgebiete. Die GIZ ist der einzige Träger, der (seit 2004) in Afghanistan tätig ist. (1)

Dass Frieden sich aus dem Inneren einer Gesellschaft entwickeln muss und nicht von außen erzwungen werden kann, ist in Afghanistan genauso offensichtlich wie in anderen Konflikt- und Postkonfliktregionen. Grundvoraussetzung ist eine friedenswillige und friedensfähige Zivilgesellschaft, die als Korrektiv gegenüber dem Staat wirken kann und sich für Menschenrechte und Versöhnung starkmacht.

Wer ist eigentlich die „afghanische Zivilgesellschaft“?
Doch was bedeutet Zivilgesellschaft in Afghanistan, einem Land, das auf mehr als 30 Jahre Krieg zurückblickt und dessen Zukunft nach Abzug der internationalen Truppen 2014 ungewiss ist? Fragt man Said Mehran, Leiter der Abteilung für Menschenrechtsbildung der Afghanistan Independent Human Rights Commission in Kabul, schüttelt er nur den Kopf: „Es gibt viele NROs in Afghanistan, aber die Zivilgesellschaft bleibt schwach.“

Tatsächlich ist die Zahl der Nichtregierungsorganisationen (NROs) in Afghanistan groß. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle NROs, als organisierte Form zivilgesellschaftlichen Engagements, uneigennützig Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen. Oftmals richten sie ihre Aktivitäten an den Vorstellungen der internationalen Geldgeber aus. Daraus entsteht eine Abhängigkeit, die das Fortbestehen vieler Initiativen nach 2014 infrage stellt. Zugleich lässt sich eine Geber-Konkurrenz beobachten, die innerafghanische Kooperationen und strategische Partnerschaften behindert.

Auch ist die sogenannte afghanische Zivilgesellschaft nicht repräsentativ für die afghanische Bevölkerung. Ihre führenden Mitglieder stammen in der Regel aus der Kabuler Ober- und Mittelschicht, eine Reihe von ihnen haben vor 2001 viele Jahre im Ausland verbracht. Ihr Leben und Lebensstil haben mit dem der meisten Afghaninnen und Afghanen kaum etwas zu tun. Gleichwohl ist die verfasste afghanische Zivilgesellschaft derzeit das einzige mögliche Korrektiv zu einer Regierungspolitik, die die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung und deren Rechte allzu oft missachtet oder ignoriert. (2) Die informellen lokalen Strukturen sind allzu oft entweder selbst in interethnische oder andere Machtkämpfe verwickelt oder sie verfügen nicht über ausreichende Bildung und Unterstützung, um nach außen wirksam werden zu können.

Der ZFD in Afghanistan – was kann er leisten?
Der ZFD mit seiner Expertise für gesellschaftliche Transformationsprozesse unterstützt seine afghanischen Partner dabei, innergesellschaftliche Prozesse der Friedensförderung auf lokaler, regionaler sowie nationaler Ebene zu initiieren. Die hohe Machtdistanz, die der Einflussnahme von Bürgerinnen und Bürgern auf politische Strukturen im Wege steht, kann nur erfolgreich überwunden werden, wenn zivilgesellschaftliches Engagement gezielt gefördert wird. Die Stärkung und Ausbildung formaler wie nonformaler Strukturen der Konfliktbearbeitung trägt zur Verbreitung partizipativer Ansätze sowie zur Stärkung lokaler Rechtssicherheit bei.

So werden SozialarbeiterInnen, GemeinderätInnen, VertreterInnen der ländlichen Bevölkerung, Mullahs und Stadtteilälteste, sowie Polizei- und Justizangestellte in Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung sowie rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Themen fortgebildet. Frauen werden gezielt gefördert, um die ihnen zustehende Rolle in gesellschaftlichen und friedensbildenden Prozessen einzunehmen. Die Maßnahmen finden ebenso in den Städten wie, in Abhängigkeit von der Sicherheitslage, in den verschiedenen Distrikten statt. Viele Gebiete sind aufgrund anhaltender Kämpfe auch für AfghanInnen nur unter Schwierigkeiten zugänglich.

Alle Projekte – gleich, ob sie auf die Reduzierung konkreter Gewalt, die Befähigung zur gewaltfreien Bearbeitung von Konflikten oder die Förderung von Menschen- und Frauenrechten fokussieren, sind orientiert an den Bedürfnissen und dem Verständnis der Zielgruppen. In einem wechselseitigen Lernprozess zwischen ZFD-Fachkräften, Partnerorganisationen und Zielgruppen geht es hier oft um kulturelle Übersetzung und um die Aneignung und kulturrelevante Adaption von Werten. Dabei kommt den ZFD-Fachkräften oft die Funktion eines Rollenmodells zu. Ihr Verhalten wird beobachtet. Was für positiv erachtet wird, wird übernommen; anderes rundheraus abgelehnt; manches wird modifiziert, damit es in den afghanischen Kontext passt. Hier spielt die lange Abgeschlossenheit des Landes eine Rolle, die eine Begegnung mit dem „Anderen“ verhindert hat. Anders als indische oder westliche Fernsehsendungen, die in Afghanistan gezeigt werden, ermöglicht die langfristige Anwesenheit der ZFD-Fachkräfte im Land nicht nur das Kennenlernen, sondern auch das kritische unmittelbare Hinterfragen und Überprüfen eigener wie fremder Positionen – nicht zuletzt seitens der Fachkraft selbst.

Finanziert durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), arbeitet der ZFD in Afghanistan schwerpunktmäßig in den Bereichen friedensfördernde Medienarbeit und konfliktsensibler Journalismus, Friedenspädagogik sowie Förderung von Frauen- und Menschenrechten. Seine Partner sind afghanische Nichtregierungsorganisationen, aber auch das Staatsfernsehen RTA, das National Centre for Policy Research an der Universität Kabul, Lehrerausbildungszentren und die Afghanische Menschenrechtskommission.

Über den Abzug hinaus denken
Der Entwicklungsprozess geht langsam vor sich und muss weit über den Abzug internationaler Truppen hinaus gedacht werden. Oft erweitern Umwege die Ortskenntnis. Viele Afghanen und Afghaninnen sind misstrauisch gegenüber Fremdem. Zu Recht möchten sie nicht von den Werten und Normen Anderer vereinnahmt werden. Auch gibt es für Versöhnungsprozesse und die Aufarbeitung der Vergangenheit angesichts anhaltender Kämpfe oft wenig Raum. In den Provinzen behindern nepotistische Machtstrukturen demokratischen Wandel. Rechtssicherheit ist in vielen Regionen nicht gegeben. Der Kampf um regionale Vorherrschaft ist eine der Hauptursachen für die Destabilisierung des Landes. Diese zeigt sich in steigender Kriminalität, Menschenrechtsverletzungen, Ressourcenkonflikten und kurzzeitigen Ausbrüchen bewaffneter Gewalt. Das durch tradierte Vorurteile und Ängste bedingte Misstrauen zwischen den Ethnien führt zu gegenseitigen Anfeindungen und Schuldzuweisungen. Anhaltende Kriegserfahrung und Unsicherheit haben eine von Gewalt geprägte und traumatisierte Bevölkerung hervorgebracht.

Gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb ist das Interesse der Bevölkerung an gewaltfreien Strategien der Konfliktbearbeitung groß. Sie möchten teilnehmen an der Gestaltung ihrer Gesellschaft, nach ihren Werten und in ihrem Tempo. Und gleichwohl und gerade deshalb stärkt der ZFD die Fähigkeiten seiner afghanischen Partner, innergesellschaftliche Dialoge aktiv zu gestalten und Versöhnungsprozesse zu begleiten. Er unterstützt seine Partner beim Aufbau tragfähiger zivilgesellschaftlicher Strukturen, die perspektivisch die Interessen und die Rechte der Zivilbevölkerung vertreten und schützen können, Rechtssicherheit gewährleisten und damit zur Friedenskonsolidierung beitragen. Funktionierende Informations- und Kommunikationsstrukturen z.B. sind eine wesentliche Voraussetzung für die gewaltfreie Bearbeitung von Konflikten.

Die Einflussnahme zivilgesellschaftlicher Akteure und Gruppen auf die afghanische Regierung und ihre Politik ist zu diesem Zeitpunkt noch gering. Auch die Möglichkeiten des ZFD sind begrenzt. Doch angesichts einer Erstarkung radikal-islamischer Kräfte kommt zivilgesellschaftlichen Akteuren in Afghanistan eine besondere Bedeutung zu. Nur sie können einen gesellschaftlichen Rückschritt verhindern, der die vielen Teilerfolge der letzten zehn Jahre infrage stellt, und den Weg zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden in Afghanistan ebnen. Sie gilt es, zu unterstützen.

Anmerkungen
1 Siehe http://www.giz.de/themen/de/36377.htm und http://www.ziviler-friedensdienst.org/

2 Top Afghans Tied to ’90s Carnage, Researchers Say”, New York Times, 22.07.2012, http://www.nytimes.com/2012/07/23/world/asia/key-afghans-tied-to-mass-ki...

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Endy Hagen, Trainerin für gewaltfreie Konfliktbearbeitung und interkulturelles Lernen, seit 2009 für den ZFD der GIZ in Afghanistan tätig.
Christina Sell, Politologin, seit 2011 für den ZFD der GIZ in Kabul als Beraterin für Peacebuilding und Menschenrechtsbildung bei der Afghanistan Independent Human Rights Commission tätig.