Ostermärsch 1989

von Gert Samuel

Sind Aktionen, Demonstrationen, Kundgebungen wie die Ostermärsche der Friedensbewegung angesichts beginnender atomarer Abrüstung und fortlaufender Verhandlungen der Großmächte nicht überholt? Laufen nicht gerade die Organisatorinnen der Ostermärsche Gefahr, sich in der hoffnungsfrohen und erwartungsgeladenen Gegenwart als unverbesserliche Miesmacher zu isolieren?

In der Tat klagen die Aufrüstungsfanatiker über das Gespenst Gorbatschowscher Abrüstungsangebote und nun sogar einseitiger Abrüstungsankündigungen. Da sie in solchen Kategorien wie "Punkte-Sammeln im Propaganda-Krieg" denken und handeln, empfinden sie sich zunehmend mit schlechten Karten in der Hinterhand. Die umworbene eigene Öffentlichkeit sehen sie zur Gegenseite überlaufen. Der Minister für die Fortsetzung der Tiefflüge, Scholz, bejammert ein "schwächer werdendes Bedrohungsbewußtsein" ("Die Welt", 25.11.1988) in der Bevölkerung. Der oberste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Wellershoff, ist besorgt über die Einstellung der Bürgerinnen:
Zunehmend gehe die Einsicht verloren, für die Verteidigung Opfer brinen und Lasten auf sich nehmen zu müssen ("Süddeutsche Zeitung", 13.12.1988). Der Richtlinien-Bestimg¬mer bundesdeutscher Politik, Helmut Kohl, forderte die Bürgerinnen auf, sich mit "ihren Soldaten zu identifizieren" ("Die Welt", 14.12.1988) Und schließlich macht ein neuer Begriff die Runde: "Akzeptanzkrise" der Sicherheitspolitik.
Magazine wie "stern" und "Der Spiegel" veröffentlichten um die Jahreswende Ergebnisse von Umfragen, die ergaben: Die Mehrheit der Bevölkerung (laut Emnid: 75 Prozent) nimmt die "Bedrohung aus dem Osten" nicht mehr ernst, ist (laut Allensbach: 68 Prozent) nicht länger bereit, mehr Geld für die Rüstungs auszugeben, wünscht sich (ebenfalls laut Allensbach: 79 Prozent) den Abzug aller Atomwaffen aus Europa. Dazu, und das geht an die Substanz, hat es 1988 so viele Kriegsdienstverweigerer gegeben wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik: über 77.000. Im "Spiegel" vom 2.1.1989 ist zu lesen:
"Die Hoffnung auf Abrüstung ist im vergangenen Jahr übermächtig geworden .... Zumindest in der Bundesrepublik hat sich in den letzten Monaten ein revolutionärer Bewußtseinswandel vollzogen."

Vor diesem Hintergrund erscheint es den Aufrüstungsbefürwortern opportun, ihre Bestrebungen in neue Gewänder zu hüllen: "Modernisierung", ''NATO-Gesamtkonzept", "Minimum von Atomwaffen", "Mindestmaß an Tiefflügen", "gemeinsame bundesdeutsch-französische Brigade"... Wohin die Reise nicht gehen darf, brachte Kanzler Kohl auf der 30. Kommandeurstagung der Bundeswehr im Dezember 1988 auf folgenden Nenner: Er sei dagegen, bei der Sicherheitspolitik "Strömungen des Zeitgeistes" nachzugeben ("Frankfurter Rundschau", 14.12.1988).
Strömen die Ostermarschiererlnnen nun mit oder gegen irgendeinen Zeitgeist? Reicht heute ein Abwarten auf Erfolge der sowjetischen Abrüstungsinitiativen (Genfer Verhandlungen über strategische Waffen und Raketenabwehrsysteme; Verhandlungen über Atomwaffentests und chemische Waffen; neue Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa)? Rüstungsabbau als "One-Man¬-Show", nach Art, wie sie die NATO verlangt? Abrüstung wird auch in Zukunft nicht vom Himmel fallen, wird uns nicht neben Schokoladenhasen und gefärbtem Ei ins Osternest gelegt. Ebenso wenig wird sie als Produkt eines "Zeitgeistes" in die politische Landschaft eintreten. Wo, bitte schön, bleiben nun angesichts der vielen Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland die eigenen Beiträge der Bundesregierung (z.B. klares Nein zur "Modernisierung", Senken der Rüstungsausgaben, Stopp aller Tiefflüge, Verzicht auf die Militärachse Bonn - Paris...)? Bewegung für Frieden durch Abrüstung bleibt - in welcher Form auch immer - erforderlich.
Die Ostermärsche - als eine im positiven Sinn traditionelle Aktivität der Friedensbewegung auf örtlicher und regionaler Ebene - helfen, die Argumentations- und Akzeptanznöte der Aufrüstungsbefürworter zu vergrößern. Dann können solche Alpträume wie die des Herrn Scholz Wirklichkeit werden: "Machen wir uns keine Illusionen, heute sind es die Tiefflüge, morgen sind es die Manöver und übermorgen wird die gesamte Bundeswehr in Frage gestellt werden." (Scholz auf dem wehrpolitischen Kongreß der CSU in München laut "Süddeutsche Zeitung", 24.10.1988).
Ganz ungeschoren von den sich ändernden Zeiten bleiben jedoch auch die Ostermärsche nicht. Immer weniger wird es ausreichend sein, hauptsächlich anstehende Aufrüstungsmaßnahmen abzulehnen; viel stärker wird es künftig gerade darum gehen, Abrüstungsforderungen im Zusammenhang mit der Lösung globaler Probleme zu entwickeln. Von den Ostermärschen sollten auch Impulse für eine alternative Politik der Abrüstung, der Zusammenarbeit, der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit ausgehen.
Einzelheiten über die Ostermärsche 1989 bei der bundesweiten Informationsstelle: Ostermarschbüro, Lersner¬str. 13, 6000 Frankfurt/Main, Telefon: 069/550866.
 

Ausgabe

Rubrik

Initiativen

Themen

Mitarbeiter des Komitees für Fruieden, Abrüstung und Zusammenarbeit