Krieg und Frieden in Deutschland zu Wahlkampfzeiten 2002

Politik und Lüge

von Klaus VackWolf-Dieter Narr
Hintergrund
Hintergrund

In den Juli- und Augusttagen wurden aus den Kreisen der Bundesregierung bisher nicht gehörte Töne gegen kriegerische Lösungen laut. Spätestens seit dem 11. September vergangenen Jahres wird der Krieg gegen Saddam Hussein und den Irak dauernd in der Hinterhand der Bush-Administration gehalten. Bush junior scheint der von Bush senior 1991 inszenierte 2. Golfkrieg "unvollendet". Der Irak stellt darum eine dauernde Herausforderung der absoluten Macht- und "Moralvorstellung" der USA dar. Dieser lang avisierte Krieg der USA wird nun plötzlich in Form einer Führungskraft anzeigenden "Chefsache" vom Bundeskanzler persönlich in Frage gestellt. Jedenfalls soweit eine militärische bundesdeutsche Beteiligung dafür in Frage käme und von George W. Bush gefordert wäre. Andere Regierungsmitglieder, so der 1999 beim Kosovo besonders kriegsbejahende Außenminister Joschka Fischer, folgen dem Kanzler. Von einer "bedingungslosen Solidarität" mit der Regierung der USA, dies das geflügelte Wort des Kanzlers seit dem 11.9.2001, ist deutscherseits auch beim Möchtegernkanzler Stoiber und seinen Kreisen nicht mehr die Rede. Nun wird zum mindesten die Bedingung gestellt, der Sicherheitsrat müsse einem eventuellen Krieg das Legitimationsgewand der UNO umgeworfen haben. Alberne Kommentatoren, die von historisch falschen Parallelen leben, reden besorgt oder vergnügt von den Gefahren oder Chancen eines neuen "deutschen Sonderwegs".

Auch wenn die derzeit regierende "politische Klasse" in den USA mit ihrer Bush-Trommel besonders ungeschickt und supermachteinfältig ihre "Arroganz der Macht" (so der ehemalige Senator William Fulbright) ausübt, auch wenn der bundesdeutsche Wahlkampf mit dem üblichen Täuschungsgetöse rumpelt, sympathisch ist es schon, dass es heute in der Bundesrepublik Deutschland, der angeblichen Berliner Republik, nicht opportun ist, um mit einem veralteten Bild zu reden, mit dem Säbel zu rasseln. Es ist gar noch nicht so lange her, da intervenierte die Bundesregierung "humanitär" getönt, im Nato-inszenierten Krieg gegen Ex-Jugoslawien militärisch kräftig mit. Da rüstete die Bundesrepublik im Gute-Staaten-gegen-Schurken-Staaten-Verbund gegen alles, was terroristisch-dekliniert-werden-kann kräftig mit auf, auch ideologisch. Da erklärte der Bundeskanzler mit Führungsgesicht den Krieg gegen die früher gehätschelten Taliban in Afghanistan zur "Chefsache" und wolle partout nicht zulassen, dass während des Ramadan eine Feuerpause eintrete. Zurück in der Weltpolitik, so kündete er, werde die Bundesrepublik auch ihren militärischen Beitrag zur Stabilisierung der Welt leisten (er vergaß hinzuzufügen, einer stabilisierenden Sicherung "unserer" westlichen, Nato-festen Wohlstandsinteressen). Jetzt diese (neuen) Töne, da möchte man Schillers Lied "An die Freude" in Beethovens Vertonung am Schluss der 9. Symphonie abwandeln: Freunde schöner Friedensfunken, Götter aus Pazifikum, wir betreten friedenstrunken, Himmlische dein Heiligtum.

Schon heben sie wieder an, die Merker und die Hoffer. Die Merker, wie manche Kommentatoren in der meist nur dem Scheine nach außerhalb des Feuilletons seriösen "Frankfurter Allgemeinen", raunen dunkel warnend vor dem neudeutschen "Sonderweg". Ist, so fragen sie scheinbesorgt, eine Schrödersche Kehre zu gewärtigen? Und dann eine Spannung über dem Atlantik, die auch ökonomisch gewittrig werden könnte? Die Hoffer aber, manche davon in der "Frankfurter Rundschau" zitiert (s. FR 11.8.2002, S.1, "Nach Schröders starken Worten erwarten Kriegsgegner jetzt auch Taten"), wähnen schon, man könne, dürfe, solle, die SchröderFischers beim Wort nehmen. Von Kanzler, Außenminister und Co. sei deshalb hier und heute zu verlangen, sich den möglicherweise kriegenden USA von Golf-Panzern bis zum Geld vorab strengstens zu verweigern, ja mit Saddam Hussein um der Bürger des Irak willen kräftig Handel zu treiben.

Ein wenig in die Jahre gekommen und ein winziges Stück erfahren reibt sich unsereins verwundert die Augen. Ohne die geringste Spur Zynismus: kann man mitten im Kampf um die positionellen Fleischtöpfe Berlins wie Schröder und andere annehmen, dass eine hauchzarte "Kehre" in Richtung Vermeidung eines Krieges, der fern allen ansonsten "realpolitischen" Interessen der Bundesrepublik geführt werden könnte, sich bei den Wählerinnen und Wählern auszahlte? Weil diese an des Kanzlers Mund hängen, als Perle daraus nur das Gold der Wahrheit oder, mit einem verräterischen Wiedermodewort gesprochen, der Authentizität? Was müsste sich in Wahlkämpfen, in den Wahlkämpfern, in ihrem Kampfesgetöse und in den Wahlen abspielen, dass solche Kanzler- und andere Kalküle aufgingen? Oder anders gefragt: wieviel Eigen- und Fremdtäuschung erträgt eine repräsentative Demokratie, ohne dass das, was in ihr Politik genannt wird, vollends verkommt? Sind nicht Wahlkämpfe, die solche Manöver erfolgreich erscheinen lassen und Wahlen, die diesen Kämpfen und ihren Positionserhaltungs-Programmen folgen, im Kürzel: Schröder vs. Stoiber, so faul, dass mehr als nur etwas faul ist im Staate BRD und im Verfassungssystem repräsentative Demokratie heute?

Damit man uns nicht missverstehe: wir behaupten nicht, dass die Schröders (um das Chefkürzel der autistischen Annahme des Chefs gemäß als Kürzel für die gesamte positionshohe "politische Klasse" zu nehmen) bewusst lügen. Sie lügen allenfalls "authentisch". Sie scheinen selbst an ihre Einsatzformeln der "Macht" zu glauben. Anders könnten sie nicht, wie eine wohlgefällige, ihrerseits verräterische Qualifikationsformel lautet: "glaubwürdig" auftreten und wirken.

Wir behaupten allerdings, dass solche verbalen "Friedensredereien" allenfalls Kleinwenden wären. Sachlich beträchtlich wären sie, wenn sie mehr als opportunistische, im vorliegenden Falle wahlkampfsituationsabhängige Größen darstellten. Schröders "Friedensschalmeien" aber sind bestens- wie schlimmstenfalls zugleich Selbst- und Fremdtäuschungen. Wie kommt es, dass solche Täuschungen so gut funktionieren, dass sie immer neue, ähnlich läufige Täuschungen nach sich locken? Was ist am System der Wahlen, dem zentralen Demokratie produzierenden Mechanismus repräsentativer Demokratie, geradezu systematisch falsch? So, dass die Wahlen als konkurrierende Opportunismen mit leicht verschiedenem Akzent stattfinden können, ohne dass schlechterdings alle, die sich selbst ein wenig ernst nehmen, gute Kandidaten eingeschlossen, davonlaufen?

Das Thema "Politik und Lügen" ist aufregend. Hannah Arendt hat es nachdenkenswert und anregend am Beispiel der US-Regierung während des Vietnamkriegs behandelt. Die Veröffentlichung der "Pentagon Papers" durch den "whistleblower", den Alarm-Schlager Daniel Elsberg, der das kriegshergerichtete Lügen im Vietnamkrieg durch die Regierung der Vereinigten Staaten nicht mehr aushielt, bildete den Anlass. Wir bedenken diesen theoretisch-moralpolitisch emphatisch negativen, realistisch gesprochen vielfältig positiven Zusammenhang auf etwas niedriger Stufe mit weniger, durchaus angebrachtem Pathos. Wir nennen deshalb den Zusammenhang von Politik und Täuschung. Wir siedeln ihn an im großen Thema struktureller und aktueller politischer Korruption im Rahmen gegenwärtiger Politik. (Zu etlichen, an dieser Stelle nicht berührbaren Aspekten, siehe Wolf-Dieter Narr/Roland Roth/Klaus Vack: Politische Korruption - Korrupte Politik - Am Beispiel: "System Kohl", Köln 2000.)

In Sachen Wahlen, Wahlkampf, Parteien, Wählende und repräsentative Demokratie dürfte der Hauptgrund für den durchgehenden Schein-Charakter und die Fülle wechselseitig "glaubwürdiger" Täuschungen in übergroßen Abgehobenheiten (= Abstraktionen) und darin begründeten Wirklichkeitsverlusten bestehen. Die Entwirklichung, wie Hannah Arendt dieses Phänomen nennt, macht die politische und darum pseudopolitische Situation en gros und en detail aus. Kaum wahrnehmbare und höchst seltene kleine Ausnahmen bestätigen die Regel.

In der Abgehobenheit der Gewählten (der zuerst Um-ihre-Wahl-Kämpfenden) von den Wählenden, wissen beide (die Führer und das Volk) nahezu nichts voneinander, außer abstrakt Meinungsbefragtes und die negative Weisheit der Wahlkämpfenden: rühre kräftig in Vorurteilen, riskiere nichts, entspreche den augenblicklichen Stimmungen. Letztere legen die aktuelle "Anti-Kriegs-Koalition" oder, zutreffender, "Kriegsvorbehaltskoalition", ebenso nahe, wie die Demonstration, die BRD von unerwünschten AusländerInnen möglichst frei zu halten. Just die Anzeige der Bundesregierung, in der sie Anfang Juli ganzseitig über "ihr" gelungenes "Zuwanderungsgesetz" informiert, ist so gehalten, dass die Vorurteile des bundesdeutschen "Volks ohne weiter mit anderen zu teilenden Wohlstandsraum" gestärkt, nicht, dass sie geschwächt werden. Noch über den gesetzesförmigen, anscheinhaft rechtsstaatlichen Diskriminierungscharakter des Zuwanderungsgesetzes hinaus wird in der Anzeige festgestellt, es würden keine zusätzlichen Migranten aufgenommen. In Sachen Asyl würde alles getan, die Asylsuchenden fernzuhalten bzw. wie seither abzuschieben. Was können die Wähler von den Parteien und ihrem Spitzenpersonal, vom Funktionieren heutiger Politik wissen, wenn sie nirgends beteiligt werden und die Medien allem oberflächlichen Korruptionsgerede zum Trotz personen- und parteienfixiert sind, weil ihnen diese Oberflächenpolitik selbst entspricht?

Die Abgehobenheit der Gewählten von den Wählenden mit wechselweise verdummenden Folgen ist eingebettet in die Abgehobenheit der (staatlichen) Politik gegenüber der sich weiter globalisierenden Ökonomie. Dort dominieren transnationale Unternehmen in der Lebendfalle der Weltmarkt- /Weltmachtkonkurrenz. Weil dem so ist, ist die "Macht" der regulierenden Politiker weitgehend eine Medienmacht. Die Medien stellen sie her, wuchern mit ihnen und lassen sie fallen, wenn der Hof der Positionen nicht mehr strahlt. Vorwiegend ist die "politische Klasse" mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols in Form der Politik innerer (und ´äußerer`) "Sicherheit" und der scharfkantig regulierenden Deregulierung in der Lage, das herrschende Privilegiengetümmel funktionstüchtig zu erhalten; die Grundrechtscharta heißt dann: Freiheit des Kapitals, Freiheit der Waren, Freiheit der Dienstleistungen, Freiheit der auch bildungspolitisch flexibel und mobil kapitalzuhanden gemachten Arbeit. Es ist geradezu ein Witz, ein schlechter nebenbei, kein sexuell, aber ein menschenrechtsschlüpfriger, wenn die Parteien und ihre Kanzlerkandidaten wahlkämpferisch verschärft so tun, als könnten sie den Arbeitsmarkt "steuern". Sie können keinen einzigen neuen Arbeitsplatz schaffen. Es sei denn, sie träten selbst ab und träten ein in die Reihe der Pensionäre. Sie können allenfalls Arbeitslose und mit lausiger Arbeit Versehene hartzreich zusätzlich diskriminieren und solche Diskriminierungen politisch legitimieren. Selbst die FDP, sagt man, hat eine Witzfigur präsent gestellt. Sie soll den Namen Guido Westerwelle tragen. Welch schlechtes Schauspiel und welche schlechten Schauspieler, die selbst das nicht erkennen. Und so spielen sie Theater, das Theater ihres Ehrgeizes, ihres blinden Strebens heut und morgen ...

Darum wäre es längst an der Zeit, äußersten Zeit - und dies zumal angesichts des von niemandem in Frage gestellten europäischen Demokratiedefizits -, nüchtern und klar und engagiert in eine Verfassungsdiskussion zu gehen. Not-Wendig wäre es längst. Nicht nur Europa, auch alle europäischen nationalen Als-Ob-Demokratien brauchen eine (neue) Verfassung weit über einen geschriebenen Text hinaus.

Statt dessen betören uns parteilich-parteiische und also in ihrer Intelligenz of-fenkundig gespaltene Intellektuelle. Sie behaupten beispielsweise einfältig - so in einer halbseitigen FR-Anzeige vom 3. August 2002 - wer die alte als die neue Regierung und damit deren Parteien wähle, wähle die "Zukunftsfähigkeit" Deutschlands. Welch eine gegenwartsversessene perspektivlose Borniertheit des darum zukunftsunfähigen Blicks, um diesen Unbegriff leicht abzuwandeln. Da raunen Gazetten, Talkshows und gar Friedensbewegte über Schröder-Fischersche Wandlungen aus Kriegssauli zu Pazipauli.

Wie, so ächzen wir schuldbewusst ob unserer allzu verkürzten analytischen An-deutungen, wie kann man nur, können wir mitsamt vielen anderen die BRD mitten in Europa gedankentüchtig, das heißt bürger-, das heißt demokratie- und das heißt zuguterletzt fremdenfähig machen? Nur wenn mehr anfangen, wechselseitig strittig gegeneinander, jedoch ganz und gar gewaltfrei, den dichten Nebel der Täuschungen und seine fortdauernde, wahlkämpferisch verstärkte Produktion so nachhaltig zu lichten wie möglich, können wir auch den notwendigen Druck von unten und von außerhalb der Parteien neu entfalten. Wider täuscherische Identifikationen mit Parteien- und albernem Personengeplänkel, also mit eigenen, selbstbestimmten politischen Aktivitäten. Institutionelle Neuerungen sind unabdingbar. Das sind die Innovationen, von denen niemand redet. Sie verlangten, das blind machende herrschende Interessendickicht demokratisch verantwortlich neu zu organisieren. Dann bestünde auch eine Chance, Kriege hinfort nicht nur um des Wahl-Scheins willen zu vermeiden. Dann würden problemangemessene pazifistische Konflikttraktate mehr Druck erhalten. Mit Wahlkampfgel à la SchröderFischer werden Kriege nicht vermieden. Man kommt dem Abbau von Konfliktursachen so nicht näher. Das Gel verschwindet aus den Haaren, sobald die Wäsche der Normalität wirkt, eine andere Zutat meinungsberaten sich anbietet.

Dass kriegerisches Posieren im Wahlkampf gegenwärtig nicht zählt, ist erfreulich. Nur, das Unterlassen einer solchen Schröderfischerpose schon als möglichen Politikwandel zu verstehen, das wäre ein arges Missverständnis. Dann ließen sich potentielle Wählerinnen und Wähler vom Schaustellercharakter selbst täuschen, zu dem dieser Gernegroßkanzler und all die vielen Kandidaten allenfalls in der Lage sind. In Berlin oder London, in Paris oder sogar in Washington D.C., wo der Präsident der größten Militärmacht aller Zeiten amtssitzt, zeichnen sich mediencharismatisch aufgepäppelte Politikspitzensportler nicht dadurch aus, dass sie verantwortlich, das heißt zurechenbar und kontrollierbar die Probleme dieser Zeit mitgestalten. Dass sie also über Macht im Sinne von Machen-können verfügten. Nein, das was Angst bereitet, besteht darin, dass sie weithin nur so tun als ob. Sie können gar nicht anders. Darum ist es höchste Zeit, dass auch die Wählenden aufhören, so zu tun, als bedeuteten diese Wahlen etwas anderes als bestenfalls den Austausch des Spitzenpersonals, ohne erhebliche sonstige politische Effekte. Die politische Misere bleibt. Durch unser Verhalten, nicht nur und schon gar nicht primär bei Wahlen, auf eine Veränderung der Organisation der staatlichen Politik zu drängen, darin bestünde der wichtigste Beitrag, den Gruppen und Personen aller Art auch in diesen finsteren Zeiten leisten könnten, sollten, müssten. Der Abschied von allen möglichen Selbst- und Fremdtäuschungen und Täuschungsbereitschaften ist dafür die erste Voraussetzung.

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Wolf-Dieter Narr ist Hochschullehrer, Mitbegründer und langjähriger Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie