Populismus

Populismus – Ein Gespenst geht um

von Dr. Florian Hartleb
Schwerpunkt
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Ein Gespenst geht um in der Welt. Es trägt aber nicht mehr, wie von Karl Marx vorhergesagt, den Namen Kommunismus, sondern Populismus. (1) Das gilt spätestens seit dem Jahr 2016, als es zu verblüffenden, auf den ersten Blick nicht direkt aufeinander bezogenen Ereignissen in verschiedenen Weltregionen kam: die Wahl des US-Präsidenten Donald Trump und seines Pendant aus dem Osten, des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte, das Brexit-Referendum, die Wahlerfolge zahlreicher radikal rechtspopulistischer Parteien in Europa. Die Erfolge setzen sich fort: Im linkspopulistisch geprägten Lateinamerika gab es in Brasilien einen Rechtsruck: Jair Bolsonora amtiert nach einem rassistisch geführten Wahlkampf seit Januar 2019 als Präsident. Selbst hierzulande – in einem Land, das wegen der „Schatten der Vergangenheit“ lange als immun gegenüber der rechtspopulistischen Herausforderung galt und sich damit von seinen Nachbarn unterschied – gibt es mit der Alternative für Deutschland (AfD) eine Partei, die in den Bundestag und in alle Landtage einzog. In anderen Worten: Politik „trumpetisiert“ sich in Zeiten der Empörung, getragen auf den „sozial-medialen“ Säulen von Echokammern und Filterblasen. (2) Es ist viel vom „angry white man“ und von „Wutbürgern“ die Rede.
Populismus, der selbst in der Wissenschaft als crossregionales, sogar globales Phänomen gilt (3), wirkt als fast inflationär verwendetes Zauberwort, wenn es um das offenbar gestörte Verhältnis zwischen BürgerInnen und Eliten oder weiter gefasst um die Krise der liberalen Demokratie geht. Am Ende steht die so simpel wirkende Frage, die seit Mitte der 1980er Jahre in politischen, journalistischen und akademischen Debatten unverändert scheint: Was ist Populismus? (4)
Populismus (vom lateinischen populus = das Volk; das Suffix -ismus deutet auf eine übersteigerte Beschäftigung hin) ist dabei anders als die geistigen Großströmungen wie Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus weniger das Kind einer historischen Genealogie oder geistig-ideengeschichtlichen Fortentwicklung. PopulistInnen versprechen, den „Volkswillen“ unverfälscht wiederzugeben. Sie schreiben Werte wie Tugend und Anständigkeit den „einfachen Leuten“, den „Menschen auf der Straße“ zu. Mit Emotionen, Manipulationen und mitunter auch Ressentiments wirken PopulistInnen nicht nur auf ModernisierungsverliererInnen. Sie sprechen durch den Rekurs auf das homogen konstruierte „Volk“ oder durch Personalisierung auch entpolitisierte Bevölkerungsschichten (die schweigende oder zum Schweigen verdammte Mehrheit) an. Dabei wird, quasi als Lebenselixier, ein Gegensatz zu „denen-da-oben” konstruiert. Das ist bei Bewegungen nicht unüblich. Auch die Friedensbewegung strebte mit einem Betroffenheitsthema eine direkte Mobilisierung des Publikums an, ähnlich die „Wir-sind-das-Volk“-Rufe von 1989, die wiederum drei Jahrzehnte später von der Pegida-Bewegung in Dresden instrumentalisiert wurden.
Wichtig beim Populismus ist, einen Popanz aufzubauen, in exklusiver Stoßrichtung. Zwei  Aspekte erscheinen als zentral:
•    vertikal als allgemeines Merkmal des Populismus: die Abgrenzung gegen die politische Klasse (Institutionen, „Altparteien“). Sie kommt in einer Stimmung des „Wir“ gegen „die-da-oben“ zum Ausdruck.
•    horizontal: die Abgrenzung gegen „die-da-draußen“ mit der Kreation von Feindbildern, etwa MigrantInnen, insbesondere Flüchtlingen.
Oftmals wird ein Unbehagen mit der herrschenden Politik konstatiert, gerade auch mit polittechnokratischen Modellen wie der Europäischen Union (EU). Der Populismus gibt vor, dieses Defizit unter anderem mit der Fiktion konkreter Feindbilder zu beseitigen und dadurch das Gemeinwohl des „Volkes“ zu vertreten. Er mobilisiert Gegen-Gefühle, die unter bestimmten Voraussetzungen auch zu Intoleranz, Fremdenhass oder Verfassungsbrüchen geführt werden können. Immer wieder wird der westeuropäische Populismus als „Extremismus light“ oder als Vorbote, Indikator oder Synonym für Extremismus oder gar Faschismus aufgefasst. (5) Es gibt unter den neuen RechtspopulistInnen Menschen mit einem rechtsextremistischen oder rassistischen Weltbild, doch die Bewegung als Ganzes einfach als faschistisch und rassistisch zu kennzeichnen, greift zu kurz.

Die populistische Logik lässt sich wie folgt illustrieren: (6)

Wir Unsere Leute, das „Volk“

Die-da-oben

Die-da-draußen
echt, gut, tüchtig, basisdemokratisch, freiheitsliebend, homogen, durch ein gemeinsames Interesse geeint, Rebellion gegen die tradierten Formen (Elitenbildung, Berufspolitikertum etc.), Gruppe der subjektiv Benachteiligten (etwa Modernisierungsverlierer) sauber, untadelig, ordnungsliebend, patriotisch, Verbindung mit dem „heartland“, national, protektionistisch, nostalgisch, subjektiv entmündigt von den Eliten, gegen die Formen von governance, „schweigende Mehrheit“

„das Establishment“: Typus der Karriere- und Berufspolitiker, korrupt, arrogant, intransparent, klientelistisch, von Lobbyinteressen gesteuert, elitär-abgehoben, pseudo-bürokratisch, machtversessen, undemokratisch

fremdartig, einer ethnischen oder nationalen Minderheit zugehörig, anderer kultureller Hintergrund, „Sozialschmarotzer“, postmodernistisch, globalistisch, turbokapitalistisch, kosmopolitisch

Populismus ist ein ambivalentes Phänomen. Wer als „Populist“ bezeichnet wird, gleich von welcher Partei, gilt (seltener) im positiven Sinne als jemand, der die Probleme der „kleinen Leute“ versteht, sie artikuliert und direkt mit dem Volk kommuniziert, (häufiger) im negativen Sinn als einer, der dem Volk nach dem Mund redet und dem Druck der Straße nachgibt. Donald Trump ist nicht das einzige Beispiel: Die behauptete „Politik des kleinen Mannes“ apostrophieren häufig paradoxerweise schwerreiche Figuren, RepräsentantInnen des big business. Normativ gilt der Populismus gerade im europäischen Kontext als negativ, was ihm nicht immer gerecht wird:

 

 

Negativfunktionen

Positivfunktionen

Schüren von Vorurteilen (gegen die Eliten im Sinne von „wir gegen die da oben“; gegen das Repräsentativsystem etc.) Stachel im Fleisch des Establishments (gegen die Abschottungstendenzen innerhalb der Eliten; gegen das „Kartell der Mittelmäßigkeit“; gegen die tradierten Netzwerke der Berufspolitiker)
Ausgrenzung bestimmter Gruppen Anprangern realer Missstände („Reinigungseffekt“ im Zuge des grassierenden Klientelismus)
Geringschätzung politischer Institutionen und des Establishments Einbeziehung weiter, entpolitisierter Bevölkerungskreise (auch Unterschichten, „schweigende Mehrheit“; Landbevölkerung)
Rückwärtsgewandtheit (heartland) Stärkere Identifizierung mit Politik (auch mit Mythen und Symbolen)
Fixierung auf eine Person (caudillo, charismatischer Anführer); dabei als Populismus an der Macht Nähe zu Klientelismus und Nepotismus Hinwirken auf Elitenzirkulation und Rechenschaftspflicht von Personen (inkl. Fehlverhalten)

Gemeinwohlbestimmung a priori (mit der Konstruktion des homogenen Volkes)

Politik der demagogischen Simplifizierung und sozialen Gratifikationen

Diskussion um Mitwirkungsmöglichkeiten im politischen Entscheidungsprozess

Politik der Komplexitätsreduzierung (weniger Technokratie)

Postdemokratisches Zeitalter?
Mit Fug und Recht lässt sich derzeit von einem populistischen Moment sprechen. Das muss aber nicht unbedingt heißen, dass wir gerade ein postdemokratisches Zeitalter erleben. Fest steht aber, dass Populismus eine beständige Herausforderung der Demokratie bleiben wird. Ihm zu begegnen, erfordert mehr Kreativität, als ständig eine Bedrohungskulisse zu errichten und messerscharf Demokratiefeindschaft zu diagnostizieren. Beschwört man zu oft nostalgisch die guten, alten Zeiten (heartland) einer überschaubaren Welt, geht man dem Populismus nämlich geradezu auf den Leim und verstärkt seine bereits jetzt bemerkenswerte Wirkung, die nicht einfach als Anti- oder Symbolpolitik oder Systemfeindschaft per se abzutun ist. In einer multipolaren Welt kommt es offenbar zu neuen Politikformen jenseits der merkwürdig übersichtlichen Dichotomie, die wir im Kalten Krieg vorfanden.

Im 21. Jahrhundert entwickeln sich globale Märkte, transnationale Beziehungen von Volkswirtschaften. Sie beschwören durch Ungerechtigkeiten im Kapitalismus neue Versuche herauf, eine bessere Welt zu schaffen. Das Beispiel China zeigt offenbar, dass sich kommunistische Ideologie mit Kapitalismus verbinden lässt, unter Einschluss der Digitalisierung, die etwa in der Errichtung eines sozialen Bonitätssystems ihre Wirkung entfaltet. Im 21. Jahrhundert scheint zwar die globale Vernetzung etwa durch Internet und die damit verbundene Fixierung auf den westlichen Lebensstil auch die Ausbreitung der Demokratie stetig voranzubringen. Dennoch scheint sich das Verhältnis zwischen „Volk“ und Elite neu auszutarieren, das auch die als stabil geltenden westlichen repräsentativen Systeme unter Druck setzt. Das zeigt etwa der ungarische Premierminister Viktor Orbán, der bei einer Rede im Jahr 2014 offen davon sprach, einen „illiberalen Staat“ aufbauen zu wollen, der sich nicht am Westen, sondern an China oder Singapur orientiert. (7)

Dort wirkt ein eisiges Klima des Individualismus und Egoismus in der Leistungsgesellschaft, in der immer mehr Staaten am westlichen Wohlstandkuchen teilhaben wollen, etwa in der Europäischen Union. Der Verlust der Planbarkeit des eigenen Lebens ist zu einer Schlüsselerfahrung auch in westlichen Gesellschaften geworden. Sie beschäftigen weite Teile der Bevölkerung, obwohl oder gerade weil die schlimmsten Auswüchse von Gewalt und sozialem Elend in den westlichen Gesellschaften weitgehend eingedämmt sind. Auch bei Kriegen wie in Syrien oder in der Ostukraine gibt es wenig Bewegung „von unten“: Eine Friedensbewegung, die Hunderttausende auf die Straße bringt, scheint ein nicht wiederholbarer Teil bundesdeutscher Geschichte zu sein – trotz Facebook, Twitter & Co. Es geht aber vielen Menschen offenbar um mehr, den Verlust der eigenen Würde: „Identität kann zur Spaltung, aber auch zur Einigung benutzt werden.“ (8)

Anmerkungen
1 Interessanterweise hat das bereits der erste Sammelband zum Thema, Ghița
Ionesco/Ernest Gellner, Ernest (Hrsg.): Populism. Its Meanings and Characteristics, London 1969.
2 Florian Hartleb: Die Stunde der Populisten. Wie sich unsere Politik trumpetisiert und was wir dagegen tun können, Schwalbach i. Taunus 2017.
3 Vgl. Christobál Rovira Kaltwasser//Paul Taggart/Paulina Ochoa Espejo (Hrsg..): The Oxford Handbook of Populism, Oxford 2017; Carlos de la Torre (Hrsg.): Routledge Handbook of Global Populism, New York 2019
4 So Hans-Jürgen Puhle: Was ist Populismus?, in: Helmut Dubiel (Hrsg.): Populismus und Aufklärung, Frankfurt/M. 1986, S. 12-32; Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?, Berlin 2016
5 Vgl. Matthew Goodwin: The Right Response: Understanding and Countering Populist Extremism in Europe, Chatham House Report, London 2011.
6 Auf Grundlage von Martin Reisigl: Zur kommunikativen Dimension des Rechtspopulismus, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hrsg.): Populismus. Herausforderung oder Gefahr für die Demokratie, Wien 2012, S. 141-162.
7 Vgl. Viktor Orbáns Rede auf der 25. Freien Sommeruniversität in Băile Tușnad (Rumänien) am 26. Juli 2014, in deutscher Übersetzung,
https://pusztaranger.wordpress.com/2014/08/01/viktor-orbans-rede-auf-der... (abgerufen am 2. Februar 2019).
8 Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg 2019, S. 213.

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Dr. Florian Hartleb, geb. 1979, ist ein international tätiger Politikwissenschaftler und -berater, der in Tallinn/Estland lebt. Er hat 2004 zum Thema “Rechts- und Linkspopulismus” promoviert. 2017 erschien von ihm das Buch “Die Stunde der Populisten” (Wochenschau-Verlag), 2018 das Buch “Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter” (Hoffmann und Campe).