Türkei

Regierung wusste von Putschplänen

von Memo Sahin
Krisen und Kriege
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Abdulkadir Selvi ist Journalist und das Sprachrohr der türkischen Regierung in den Medien. Er verfügt über sehr gute Kontakte zur AKP und zu Erdogan. Alle Vorhaben der Regierung werden als erstes von ihm der Öffentlichkeit gemeldet. Er ist in dieser Funktion ein Wegbereiter für die Politik der regierenden AKP.

Jahrelang hat er für Yeni Safak gearbeitet, für ein Blatt, das als inoffizielles Organ der AKP gilt. Nachdem die Dogan-Medien (Hürriyet, CNN-Türk und viele mehr) von der AKP unter Druck gesetzt wurden und politisch auf die Seite der AKP wechselten, kam Selvi als Oberaufseher zu Hürriyet.

Selvi gab am 15. September in seiner Kolumne bei Hürriyet zu, dass der Geheimdienst der Türkei (MIT) von den Putschplänen schon sechs Monate vorher, nämlich am 17. Februar 2016, erfahren habe. Die Putschisten sollen über ein Kommunikationsprogramm namens Bylock kommuniziert haben. Nachdem die Gülenisten die Putschpläne strukturiert hatten, sollen sie zu einem anderen Programm -Eagle- übergegangen sein. Danach soll MIT die Spuren der Putschisten verloren haben! (Hürriyet, 15.9.16)

Genau dies war meine These, als ich vom Putsch erfahren habe und die Bilder der mit Panzern durch die Straßen von Ankara im Schritttempo schlendernden Soldaten sah. Mit einem Artikel für die in Deutschland erscheinende kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika skizzierte ich ein Szenario und behauptete, dass die Regierung von den Putschplänen wusste, ihre eigene Leute in den Reihen der Putschisten platzierte und händereibend auf die Gelegenheit wartete.

Denn, wie sonst konnte erklärt werden, dass fast die ganze Mannschaft der Regierung samt dem allmächtigen Präsidenten vor dem Putsch untertauchten und nicht in Ankara, sondern andernorts in Hotels bzw. auf Privatreisen waren? Wie kann es sein, dass alle Armeechefs (Heer, Luftwaffe und Marine) zusammen auf einer Hochzeit waren? Und wie kann es sein, dass der Geheimdienstchef fünf Stunden vor dem Putsch zum Hauptquartier des Generalstabs ging und sich dort vier Stunden aufhielt? Wie kann erklärt werden, dass sich die mit Panzern und schwerem Kriegsgerät ausgestatteten Putschisten den Verkehrspolizisten und AKP-Anhängern ergaben?

Man könnte die Liste der Fragen fortsetzen. Zwei der wichtigsten folgen noch. Hat die Regierung etwa die Namenslisten der festzunehmenden Zehntausende Menschen in der Putschnacht erstellt? Oder haben die Putschisten eine Namensliste ihrer AnhängerInnen in Armee, Polizei, Justiz, im Bildungswesen, in Universitäten und Medien der Regierung ausgehändigt!?

Diese unbeantworteten Fragen und die späte Offenlegung von Selvi verdeutlichen, dass die Regierung früh genug von den Putschplänen wusste, sich darauf vorbereitete und den willkommenen Anlass abwartete.

Entlassungen und Festnahmen

Nun komme ich zur Teilbilanz der „Säuberungen“ nach dem Putsch, die der Journalist Ali Bayramoglu in der regierungstreuen Yeni Safak am 14. September veröffentlicht hat. Teilbilanz, weil niemand außer der Regierung die genauen Zahlen der Willkür kennt:

  • 20.000 Verhaftungen (Das Türkei-Büro der Friedrich-Nauman-Stiftung sprach von 40.000);
  • 60.000 entlassene BeamtInnen;
  • 100.000 suspendierte Angestellte und Bedienstete aus dem Öffentlichen Dienst.

Ich versuche diese Zahlen zu ergänzen:

  • 2.300 entlassene ProfessorInnen und DozentInnen, mehrheitlich Linke und Liberale, die im Januar 2016 eine Petition zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage unterschrieben haben;
  • 60.000 entlassene LehrerInnen, darunter 14.000 gewerkschaftlich bei Egitim-Sen organisierte kurdische LehrerInnen, die als UnterstützerInnen der PKK deklariert wurden;
  • 130 geschlossene oder unter staatlicher Aufsicht gestellte Sender und Zeitungen, darunter der kurdische Sender Gün-TV und die kurdischen Tageszeitungen Özgür Gündem und Azadiya, Welat wegen Unterstützung der PKK;
  • weit über 100 festgenommene, zum Teil verhaftete JournalistInnen und Intellektuelle, darunter Persönlichkeiten wie Ahmet Altan, Necmiye Altay und Asli Erdogan;
  • etwa 4.300 geschlossene, beschlagnahmte oder unter staatlicher Aufsicht gestellte Firmen, Holdings und Einrichtungen;
  • 40.000 Festnahmen, darunter tausende kurdische AktivistInnen, auch gewählte BürgermeisterInnen. Da aufgrund der neuen Festnahmen und Verhaftungen kein Platz mehr in den Gefängnissen war, wurden per Erlass 38.000 Kriminelle, Mafiosi, Drogendealer und Mörder aus den Gefängnissen entlassen;
  • weit über 80.000 entzogene Pässe;
  • 28 unter staatlicher Aufsicht gestellte Kommunen, von denen 24 der Unterstützung der PKK bezichtigt werden.

Nach dieser Aufzählung über das Ausmaß der „Säuberungen“ Erdogans stellen sich weitere zentrale Fragen. Was haben die kurdischen Kommunen, BürgermeisterInnen, ParteifunktionärInnen, JournalistInnen, Zeitungen und Sender mit der islamistischen Gülen-Bewegung zu tun? Welche Verbindungen zu den Putschisten kann man Menschen wie Ahmet Altan, Necmiye Altay und Asli Erdogan unterstellen? Was haben die entlassenen 14.000 kurdischen LehrerInnen mit den Gülenisten gemeinsam?

Es war schließlich die AKP, die zehn Jahre lang mit allen Mitteln die Gülen-Bewegung unterstützte und mit Milliarden Türkische Lira die Schulen, Medien und Holdings der Gülenisten ausstattete und ihre AnhängerInnen in den höchsten Etagen der Bürokratie platzierte. Hand in Hand regierten sie von 2002 bis 2012 das Land.

Mit diesen letzten Machenschaften installiert der Emir der Internationale der Moslem-Brüderschaft mit rasanter Geschwindigkeit sein Sultanat. Er verfolgt nicht nur Gülenisten, sondern die linksgerichteten, demokratisch gesinnten, säkular eingestellten Menschen und Gruppen. Auch Shakespeare, Brecht und Dario Fo sind Opfer der Tyrannei: Weil sie keine Türken sind, dürfen sie nicht mehr die türkischen Bühnen betreten.

Wer heute nichts gegen die herrschende Willkür tut, darüber hinaus das Regime in der Türkei aufpoliert und die Machthaber hofiert, macht sich mitschuldig. Nicht nur gegenüber der Gesellschaft in der Türkei und in Kurdistan, sondern auch im Hinblick auf die eigenen Werte, insbesondere auf die Menschenrechte!

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