Rekrutierungen durch den IS

Religiöse Pflicht, Abenteuer oder Reichtum

von Christine Schweitzer

Viele Brüder ... sehen die Idee der Da’wa [Einladung, Ruf] darin, dass Kandidaten, die lediglich eine Dschihadi-Kassette oder einen motivierenden Vortrag etc. hören, plötzlich aufstehen und rufen oder mit Überzeugung sagen, ‚wir wollen eine Armee sein und gegen Amerika in den Kampf ziehen‘, ohne die verschiedenen Stufen zu bedenken, die der Kandidat durchlaufen muss.“ (1) So heißt es in einem Handbuch, das Al-Qaida in englischer Sprache für die Anwerbung neuer Rekruten geschrieben hatte und auf das der Islamische Staat anscheinend gerne zurückgreift. Allerdings setzt dieser mehr auf das Internet und wendet sich auch mehr an Frauen (2). Mit den zunehmenden Verlusten durch die Bombardierungen hat er in der jüngsten Zeit seine Ansprüche weit heruntergeschraubt und spricht verstärkt „Heimkinder, Obdachlose und unbegleitete jugendliche Flüchtlinge“ an, so eine Sozialarbeiterin (3).

Die Stärke des IS wird von KennerInnen der Region, Geheimdiensten und journalistischen Quellen höchst unterschiedlich eingeschätzt – inzwischen wird von mindestens 10-15.000 Mann in Irak und bis zu 50.000 in Syrien ausgegangen, wovon geschätzt 20.000 bis 25.000 aus dem Ausland stammen (4); die US-Geheimdienste sprechen sogar von 30.000 (5). Diese Zahlen übertreffen  inzwischen die aus Afghanistan in den 1980er Jahren, wo bis zu 20.000 ausländische Kämpfer mitgewirkt haben. Darauf weist das in London ansässige International Centre for the Study of Radicalization and Political Violence hin, das genauere Zahlen (mit Stand vom Januar 2015 allerdings), nach Ländern aufgeschlüsselt, zusammengestellt hat (6). Ihnen zufolge führten Anfang des Jahres in Europa Frankreich mit 1.200 Kämpfern, gefolgt von Großbritannien und Deutschland mit jeweils 500-600 (aus beiden Ländern sind es inzwischen über 700 (7) und Belgien mit 440 die Liste der Herkunftsländer an. Mehrere Hundert verzeichnen u.a. auch die Westbalkanländer (Bosnien, Kosovo). Aus dem Raum der ehemaligen Sowjetunion (u.a. Tschetschenien, Tadschikistan, Usbekistan (8) kommen ca. 3.000. Aber die größte Zahl bleibt mit 11.000 weiterhin die von Kämpfern aus dem Nahen Osten, u.a. aus Libyen, Libanon usw. Doch auch in weit entfernten Ländern wie Indonesien (9), Australien und China rekrutiert der IS. Angesichts der aufgeregten Debatte dort  sind die Zahlen aus den USA erstaunlich gering – das ICSR spricht lediglich von 100 Rekrutierten (10).

In jüngster Zeit ist die Zahl der Ausreisen aus einigen Ländern (Belgien, Großbritannien) gesunken. In Deutschland sei dieser Trend allerdings noch nicht so erkennbar (11). Hier wird inzwischen von bis zu 740 Ausreisenden nach Syrien und Irak gesprochen, von denen 120 getötet worden seien (Stand: September). 399 von ihnen besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft. 114 waren Leute, die zum Islam konvertiert sind. Ein eindeutiges soziales Profil der KämpferInnen ist über diese Zahlen hinaus nicht ausmachbar – zu ihnen gehören sowohl sehr gut gebildete Menschen (88 mit Abitur oder Fachhochschulreife und 80 Studierende) wie Arbeitslose und Menschen mit krimineller Vergangenheit (fast die Hälfte der Ausgereisten ist zuvor durch Straftaten aufgefallen). 234 Menschen sind wieder zurück, davon sitzen 23 in Haft.

Angesichts der notorischen Frauenfeindlichkeit des IS und ähnlicher Milizen  mag die recht hohe Zahl von Frauen überraschen – 21% der aus Deutschland Ausgereisten sind der gleichen Quelle zufolge Frauen. Allerdings beteiligen sich nur wenige von ihnen an Kampfhandlungen. Die meisten gehen als UnterstützerInnen oder in Hoffnung, einen Kämpfer heiraten zu können.

Ich glaube, dass die gesamte Gesellschaft schuldig ist“
Es gibt einige Untersuchungen dazu, wie die Anwerbung der überwiegend jungen KämpferInnen vor sich geht. Im September 2015 wurde eine Studie zu Herkunft und Hintergrund derjenigen, die bis 30.6. ausgereist sind, erstellt von Verfassungsschutz, BKA und Hessischem Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus, bekannt (12). Ihr zufolge spielt das Internet bei der Anwerbung besonders in der Frühphase (nämlich bei 30%) eine Rolle, aber nicht die so überwältigende, wie die Medien oft meinen. Wesentlicher seien Kontakte zu Freunden (37%) und in Moscheen (33%) gewesen.

Aus einem Interview der Tagesschau mit einer Islamlehrerin:

Es geht nicht um einzelne Berufs- oder Personengruppen im Umfeld dieser jungen Menschen. Das Problem ist viel komplexer. Die Betroffenen sind in einem Land aufgewachsen, in dem sie sich - überspitzt dargestellt - nicht richtig zu Hause fühlen, in dem sie vielleicht diskriminiert werden, weil sie eben nicht so heißen wie jeder "eingeborene" Deutsche, weil sie eine andere Religion haben, die jetzt gerade auch noch absolut im Fokus steht. Und darüber hinaus werden sie zu Hause eventuell auch noch mit Werten erzogen, die nicht in diese Zeit passen.

Aber wie sich diese Gesamtsituation auf jeden Einzelnen auswirkt, hängt natürlich von individuellen Faktoren ab: Ausgrenzungserfahrungen, Familienstruktur, soziales Umfeld, Bildungsgrad - all' das spielt eine Rolle. Darum ist es schwierig, eine pauschale Ursache zu finden. Ich glaube, dass die gesamte Gesellschaft schuldig ist.“ (13)

Eine neue Untersuchung des erwähnten ICSR hat RückkehrerInnen aus Syrien und Irak befragt und dabei neben vier Gründen, warum Menschen dem IS wieder den Rücken kehren, auch einige Erkenntnisse zur Motivation gewonnen. Sie schreiben:

Das Hervorstechendste ist der Konflikt in Syrien und – insbesondere die Grausamkeiten, die von der Assad-Regierung begangen wurde, von denen viele der Nicht-SyrerInnen durch Prediger gehört und in Videos dokumentiert gesehen haben. Sie nehmen den Konflikt oft in religiösen Kategorien wahr und glaubten, dass die (sunnitischen) Muslime in Syrien von Genozid bedroht seien. … Dies trug dazu bei, ein starkes Gefühl der Verpflichtung basierend auf humanitären Instinkten und ihrer (sunnitisch) muslimischen Identität zu schaffen.
Eine zweite Narrative bezieht sich auf Glauben und Ideologie. Viele, die den IS wieder verlassen haben, waren überzeugt, dass der IS einen perfekten islamischen Staat darstelle, den jeder Muslim unterstützen und zu dessen Gelingen er beitragen muss. In ihren Augen bot er die Möglichkeit, in Übereinstimmung mit dem muslimischen Sharia-Gesetz zu leben und für eine heilige Sache zu kämpfen. …
Die dritte Narrative bezog sich auf persönliche und materielle Bedürfnisse. Einige der Deserteure erwähnten Versprechen von Essen, Luxusgütern, Autos und der Bezahlung ihrer Schulden. Andere sagten, dass sie von Vorstellungen von Abenteuer, Brüderlichkeit, Kampf und der Chance, ein Held zu werden, angezogen wurden
.“ (14)

Einschränkung von Bürgerrechten
Die Konzepte, wie man verhindern könne, dass westliche Jugendliche sich dem IS anschließen, reichen von sozialarbeiterischen Ansätzen in der Jugendarbeit bis hin zu bürgerrechtlich höchst problematischen Vorschlägen wie Entziehung des Personalausweises und Überwachung. Letztere werden teilweise mit der Sorge begründet, dass Rückkehrer hier Anschläge begehen könnten, wie es in Belgien geschehen ist (15). Besonders in Großbritannien sind Sicherheitsmaßnahmen, die schon nach dem 11. September geschaffen wurden, inzwischen drastisch ausgeweitet worden, was zu großer Unruhe unter der muslimischen Bevölkerung geführt hat. So wurden nicht nur Überwachungskameras in Stadtteilen mit hoher muslimischer Bevölkerungszahl installiert, sondern inzwischen ist jede/r in Verdacht, die oder der sich mit dem Thema Terrorismus beschäftigt. Eine Hochschullehrerin aus England erzählte der Autorin erst kürzlich, dass ein Student in der Universitätsbibliothek festgenommen und befragt wurde, weil er ein Buch über Terrorismus gelesen habe. Sie rät inzwischen ihren Studierenden ab, das Thema IS in Bachelor- oder Master-Arbeiten zu behandeln, um nicht in das Visier von Ermittlern zu geraten. Es bleibt nur zu hoffen, dass es in Deutschland nicht auch eines Tages so weit kommt.

Eine wichtige Forderung in diesem Zusammenhang sollte auch sein, Menschen, die den IS wieder verlassen wollen, den Weg zurück offen zu halten. Die strafrechtliche Keule oder gar Wiedereinreiseverbote sind hier der falsche Weg – im Vordergrund sollten Unterstützungsmaßnahmen und Hilfe bei der Reintegration stehen. Sofern eine strafrechtliche Verfolgung aufgrund der in Syrien oder Irak begangenen Verbrechen notwendig ist, sollte auch sie den Gedanken an Resozialisierung in den Vordergrund stellen. Eine wichtige Lehre könnte dabei der Friedensprozess in Nordirland sein: Dort waren es inhaftierte Kämpfer der IRA, die eine wichtige Rolle dabei spielten, ihre Gesinnungsgenossen zur Beendigung des Kampfes zu bewegen (16).

 

Anmerkungen

1 A Course in the Art of Recruiting. Collected and Organized by Abu Amru Al Qa'idy, das im Internet frei verfügbar ist: https://archive.org/details/ACourseInTheArtOfRecruiting-RevisedJuly2010

2  Engel, Pamela (2015) Here's the manual that Al Qaeda and now ISIS use to brainwash people online. Business Insider. http://uk.businessinsider.com/the-manual-al-qaeda-and-now-isis-use-to-br...

3 www.welt.de/politik/ausland/article142217606/Die-neuen-IS-K

4 Die unterschiedlichen Zahlen erklären sich teilweise daraus, dass manche die Gesamtzahl der in den Konflikt Ausgereisten berechnen, also auch jene, die inzwischen gefallen sind oder das Land wieder verlassen haben, und andere die geschätzte gegenwärtige Zahl der dort anwesenden Kämpfern. Der zweite Unterschied ist, dass manche allein den IS betrachten, andere alle, die in den verschiedenen Milizen in Syrien und Irak kämpfen. Das ISCR schreibt, dass geschätzt 5-10% der Ausländer tot sind und weitere 10-30% das Konfliktgebiet wieder verlassen haben. S. http://icsr.info/2015/01/foreign-fighter-total-syriairaq-now-exceeds-200...

5 Tausende ausländische Kämpfer schließen sich IS an. Spiegel Online 27.9.2015, http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-30-000-auslaendi...

6 http://icsr.info/2015/01/foreign-fighter-total-syriairaq-now-exceeds-200...

7 http://www.nytimes.com/2015/10/20/world/europe/david-cameron-britain-mus...

8 Siehe auch: Halbach, Uwe (2015) Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, SWP Aktuell 85, Oktober 2015

9 Ende 2014 schon über 500. Siehe http://www.huffingtonpost.com/2015/07/10/isis-indonesia-recruitment_n_77...

10 Siehe auch: http://www.fr-online.de/terrorgruppe-islamischer-staat/rekrutierung-die-...

11 Süddeutsche Zeitung 24.9.2015, „Klug, kriminell, großer Freundeskreis“, S. 5

12 Süddeutsche a.a.O.

13 Deutsche Jugendliche als IS-Kämpfer: Aus dem Klassenzimmer in den Dschihad. 25.9.2014 http://www.tagesschau.de/inland/interview-is-kaempfer-101.html

14 Victims, Perpetrators, Assets: The Narratives of Islamic State Defectors. http://icsr.info/2015/10/icsr-report-victims-perpetrators-assets-narratives-islamic-state-defectors/ Übersetzung: CS

15 Daniel Bbyman, Jeremy Shapiro (2014) Be Afraid. Be A Little Afraid: The Threat of Terrorism from Western Foreign Fighters in Syria and Iraq. Foreign Policy at BROOKINGS, POLICY PAPER Number 34, November 2014, http://www.brookings.edu/~/media/research/files/papers/2014/11/western-f...

16 Fitzduff, Nial und Williams, Sue (2007) Cumulative Impact Case Study. How did Northern Ireland Move Towards Peace? Reflecting Peace Processes, http://www.cdainc.com

(Auf alle Links letztmalig am 24.10. zugegriffen)

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt

Themen

Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.