Kein Ruhmesblatt für das Bundesverfassungsgericht

Richtervorlage zu Atomwaffen abgewiesen

von Wolfgang Sternstein
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Liebe Freundinnen und Freunde der EUCOMmunity,

eine kurze Information über den Ausgang der Verhandlung vor dem AG Stuttgart am 20.4.99. Verhandelt wurde meine Teilnahme an zwei Entzäunungsaktionen (1996 und 1997), von denen die erste zur Richtervorlage von Amtsrichter Wolf geführt hatte. Mein Versuch, die Richterin für eine erneute Vorlage ans BVerfG zu gewinnen, da die erste Vorlage möglicherweise wegen "handwerklicher Fehler" gescheitert sei, schlug fehl.

Ergebnis: 140 Tagessätze à 30 DM (4.200 DM), plus Gerichtskosten in noch unbestimmter Höhe. Einbezogen wurden außerdem 40 Tagessätze für zwei Aktionen in den Jahren 1992 und 1995 (Sieben Geißlein). Da ich nicht zahlen kann und will, sind das 140 Tage Knast.

Das Grundgesetz wird fünfzig Jahre alt. Grund zum Feiern, gewiss. Doch wenn die Festreden: "... hat sich bewährt ... beste Verfassung, die Deutschland je hatte ... können stolz ..." verklungen sind, ist es an der Zeit, einen Blick auf die Realität zu werfen.

Politologen pflegen zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit zu unterscheiden. Wie steht es damit in der Bundesrepublik? Dem Grundgesetz lag bei seiner Entstehung der Imperativ zugrunde: Nie wieder Diktatur, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz! Daraus wurde in der Tat eine Verfassung, die aus der deutschen Katastrophe Lehren gezogen hat. Doch was ist daraus geworden in den fünfzig Jahren ihres Bestehens? - Die Substanz dieser Verfassung wurde durch zahlreiche Änderungen ausgehöhlt. Heute sieht sie aus wie ein Schweizer Käse. Zum Beispiel Asylrecht, Brief- und Telefongeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit usw. usf. Und die Verfassungswirklichkeit hat sich noch weiter vom ohnehin schon depravierten Verfassungstext entfernt.
 

Da gibt es z.B. die Verfassungsnorm des Art. 100, Abs. 2:

"Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Artikel 25), so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen."

Da ist ein Amtsrichter, der nicht nur zweifelt, der vielmehr überzeugt ist, dass Atomwaffen gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßen und folglich das Handeln des Angeklagten und seiner Mitstreiterinnen gerechtfertigt ist (siehe Friedensforum 4/98, S. 5). Deshalb hatte er auch sieben Angeklagte in einem früheren Verfahren freigesprochen. Seine Auffassung stimmt mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshof (IGH) vom 8. Juli 1996 weitgehend überein. Der IGH hatte den Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen für generell, drei von vierzehn Richtern hatten ihn für absolut völkerrechtswidrig erklärt. Der IGH sieht sich lediglich außerstande, definitiv zu entscheiden, "ob die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen in einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stünde, rechtmäßig oder unrechtmäßig sein würde".

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts lehnt die Vorlage ab. Mit welcher Begründung? Wir dürfen gespannt sein. - Mit der Begründung, der Richter hätte überzeugt sein müssen, dass das Handeln des Angeklagten gerechtfertigt war, weil gegen die Verletzung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts gerichtet. Und was steht im Grundgesetz? "Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft ...". Die acht Verfassungsrichterinnen und -richter des Zweiten Senats schämen sich nicht, den Wortlaut der Verfassung derart zu verbiegen, dass das Gegenteil dessen, was dasteht, herauskommt. Hat der Richter auch nur Zweifel, ob das Handeln des Angeklagten und seiner Mitstreiter gerechtfertigt war, muss er vorlegen. Er hat gar keine Wahl.

Der Rest der Begründung des Zweiten Senats bewegt sich auf demselben Niveau. Dem Amtsrichter, der bis zum Hals in der Bearbeitung von Strafsachen steckt, wird vorgeworfen, er habe die wissenschaftliche Literatur nicht ausreichend beigezogen. Als ob das Bundesverfassungsgericht nicht über die nötige Expertise verfügte! Zudem wird in den der Richtervorlage beigefügten Akten auf alle Rechtsfragen, deren Erörterung das Gericht vermisst (z.B. 34 StGB) ausführlich eingegangen. Man muss dem Senat den Vorwurf machen, er hat die beigefügten Akten nicht zur Kenntnis genommen. Jedenfalls findet sich im Ablehnungsbeschluss davon keine Spur.
Schließlich wird dem Angeklagten unfriedliches Verhalten vorgeworfen. Ihm wird eine Tat vorgeworfen, die er gar nicht begangen hat, für die er jedoch juristisch haftet: Das Sprühen von Parolen auf die Wand des Hauptquartiers des EUCOM. Dabei war die sechste Entzäunungsaktion, wie alle anderen, nach dem Zeugnis aller Beteiligten, einschließlich Polizei und amerikanischen Soldaten, völlig friedlich verlaufen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war dabei. Ich bin der "Angeklagte".

Die Richtervorlage war - das sieht selbst der juristische Laie - zulässig. Wenn der Zweite Senat sie dennoch für unzulässig erklärt, dann wird er dafür, so können wir vermuten, seine Gründe gehabt haben. Solche Gründe gibt es in der Tat. Das Rechtsgutachten des IGH steht in eklatantem Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Massenvernichtungswaffen in den achtziger Jahren (ausführlich dargestellt in: Pax Christi, Hrsg.: Atomwaffen abschaffen! S. 21-85, die Richtervorlage S. 87-93). Der Zweite Senat hat sich vor der Verpflichtung gedrückt, seine Rechtsprechung im Lichte der vom IGH festgestellten Völkerrechtslage zu korrigieren. Aufgrund dieser Rechtslage hätte das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung auferlegen müssen, die in Art. VI Nichtverbreitungsvertrag eingegangene Verpflichtung, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle" zu erfüllen. Der IGH hat diese seit dreißig Jahren bestehende Verpflichtung in seinem Gutachten noch einmal mit einstimmigem Richtervotum angemahnt.

Schließlich hätte das Bundesverfassungsgericht klarstellen müssen, dass das neue Nato-Konzept, das Ende April auf dem Nato-Gipfel in Washington beschlossen werden soll und u.a. den Ersteinsatz von Atomwaffen vorsieht, mit den vom IGH-Gutachten gezogenen engen Grenzen für den Einsatz von Atomwaffen nicht vereinbar ist. Es hätte klarstellen müssen, dass die Bundesregierung diesem Teil des Konzepts nicht zustimmen darf.

Mein Eindruck: Die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts haben verzweifelt nach einem Vorwand gesucht, um sich vor der Aufgabe zu drücken, dem Völkerrecht auch innerstaatlich Geltung zu verschaffen. Sie haben ihn gefunden.

Mein Fazit: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellt sich im Kampf zwischen Macht und Recht auf die Seite der Macht.
 

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Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie „Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit“ berichtet er ausführlich über den „Kampf um Wyhl“.