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Riskante Zukunft
vonDie Sicht auf Krankheit und Behinderung ist in modernen Gesellschaften wie der unsrigen vor allem biowissenschaftlich geprägt. Forschung, Förderpolitik und industrielle Investitionen modifizieren das Wissen, die Technologien, die Einsatzgebiete aber auch die gesellschaftlichen Denkgewohnheiten, die den Körper und seine Krankheiten betreffen.
Vor drei Jahrzehnten war die Humangenetik noch eine Disziplin unter vielen. Sie verfügte über eine Theorie der Vererbung, die sich vor allem auf die Chromosomen im Zellkern bezog. Ihr Handlungs- und Vorhersageradius umfasste die sog. "klassischen Erbkrankheiten", die mit der Anzahl, Form und Gestalt der Chromosomen in Verbindung gebracht werden. Genau das ist mit dem klassischen, genetischen Methodenrepertoire zugänglich: Stammbaum-Analysen, Zählen und Begutachten von Chromosomen. Die Humangenetiker wiesen genetische Ursachen für so beschriebene Behinderungen nach, errechneten dafür "Risiken" innerhalb von Familien und vergaben fachmännische Ratschläge zum Fortpflanzungsverhalten. Sicher gab es den Willen, auch andere Erkrankungen oder Verhalten wie Kriminalität, Schizophrenie und sexuelle Normverstöße zu erklären. Doch die humangenetische Praxis und ihr Angebot im Gesundheitswesen waren damals beschränkt.
Dennoch: "Risiken" zu kalkulieren, Wahrscheinlichkeiten auf die Zukunft zuzurechnen, ihre Zufälle, ihr Unglück und ihre nicht gewussten Möglichkeiten zu überwinden, kurz: die Zeit zu beherrschen, war der Humangenetik von Beginn an eigen. Ebenso der Wille, der allgemeinen "Gesundheit" zu dienen. Die Existenz kranker und behinderter Menschen soll deshalb vermieden werden. Allein die Mittel und Technologien setzten Grenzen.
Die Medizin mit ihren unterschiedlichen Fachgebieten war noch anatomisch und am Symptom der Krankheit orientiert, was nicht heißt, dass es in dieser Zeit nicht auch Kategorien gab, die vom individuellen Empfinden der PatientInnen absahen, Laborparameter und Messergebnisse in den Mittelpunkt stellten. Medizin wurde als Wissenschaft von "Krankheit" und "Gesundheit" verstanden. Sie war der Ursachenforschung unter der Haut verpflichtet. Ihr eigentliches Objekt war bereits die "Gesundheit", nicht die erfahrungsbezogene Heilkunst am Kranken.
Universalisierte "Risiken"
Ende der 70er Jahren wurden Techniken entwickelt, die Analysen am Genom und sogar Neukombinationen von "Genen" versprachen. Kleine Gruppen von Experten nutzen diese neue Art der "Problembeschreibung" und Analyse-Techniken. Allmählich überschwemmte eine Art molekularer Schneeball-Effekt die verschiedenen medizinischen Fächer. Heute ist die Krebsforschung molekularbiologisch, ebenso die Neurologie, die Immunologie und die Genetik. Und dies bedeutet, dass nahezu alle Krankheiten einer gestörten Genstruktur und Regulation zugeschrieben werden. Andere Erklärungen geraten zunehmend in Vergessenheit, werden nicht mehr verfolgt und vor allem nicht mehr finanziert. Das Symptom der Krankheit wird zur Nebensache. Das (genetische) Informationsmodell wird zum Kern des Krankheitsbegriffs und Körperentwurfes. Das Objekt der Medizin, die "Gesundheit", wirft ihre Schatten noch weiter voraus, in eine Zukunft, die auf der Basis molekulargenetischer Vorannahmen gezielt gestaltet wird. Die Vorhersage wird zum eigentlichen und universellen Geschäft der Medizin. Ist einmal ein Abweichen von der Normalform der Genstruktur und Regulation erfasst, so ist, unabhängig von der Frage, ob jemand krank ist oder nicht, Handlung gefordert. Die Figur des "Noch-nicht-Kranken", des genetischen Risikoträgers, der in naher oder ferner Zukunft nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsberechnung und der molekularen Ursachenerklärung erkranken wird, entsteht. Das naturwissenschaftlich gedeckte "Krankheits-Risiko" wird allgegenwärtig- nicht nur im Labor und klinischer Studie.
Auch die Angebote des Gesundheitswesens bleiben von diesen Entwicklungen nicht verschont. Auf dem Boden humangenetischer Risikokalkulationen und forschender Medizin entfaltet das neue molekulare Theorie-Methoden-Paket der Molekularbiologie Wirkungen, in Arztpraxen, in Kliniken, im Arzt-Patient-Verhältnis bis hin zum individuellen Körperempfinden, zur Lebensplanung und eigenen Zukunftshoffnungen.
Molekulares Risikomanagement "zukünftiger Generationen"
Die Zukunft wird also immer entscheidungsabhängiger und von Experten bestimmt. Wie aber kommt man mit einer solchen Zukunft zurecht, über die nichts Sicheres, aber doch Wahrscheinliches zu sagen ist? Hier spielen die "Risiken" der Behinderung und Krankheit "zukünftiger Generationen" eine besondere Rolle. Die "Moral stärkt sich daran, dass man ja nicht nur an sich selbst denkt, sondern gerade an die anderen, ja sogar an die noch nicht Lebenden." (Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin/New York 1991, 5) Anders als bei chemischen Unfällen oder atomaren Halbwertzeiten, lassen sich solche "Risiken" vollständig individualisieren. Ob der eigene Nachwuchs krank oder gesund ist, wird zu einer Frage rationaler Abwägung von Frauen.
Bestes Beispiel für die Dynamik, die eine Orientierung am "Risiko" und am molekularen Wissen entfalten kann, ist das Angebot der Schwangerenvorsorge. Reihenuntersuchungen per Ultraschall oder biochemischer Testverfahren sollen seit Jahren Entwicklungsstörungen und Hinweise auf Behinderungen beim Ungeborenen ermitteln. Das Alter der Schwangeren -über 35 Jahre- gilt allgemein als problematisch. Ein engmaschiges "Risikoraster" wird seit zwei Jahrzehnten über aller schwangeren Frauen gelegt. Jede Abweichung vom Ideal - bildlicher Darstellungen, biochemischer Parameter, vorbildlicher Lebensführung oder optimalem Reproduktionsalter - führt zu mehr Diagnostik. Insgesamt gelten 70% aller Frauen mittlerweile als "Risikoschwangere". Die Leistungen der Vorsorge sind in den letzten 20 Jahren um 500% gestiegen. Daraus entstehen Entscheidungsnotwendigkeiten: das Wissen "ermöglicht" Vermeidung von Kindern mit körperlichen und geistigen Gebrechen. Bislang bezieht sich dies auf Chromosomenstörungen, zumindest was den Endpunkt des Diagnoseparcours anbelangt, die Untersuchung von Fruchtwasser oder Plazentagewebe.
Die Folgen sind auch jetzt schon dramatisch: die gesamte Schwangerschaft ist vollständig medizinisiert. Die Frau ist zur Patientin geworden. Sie ist nicht mehr Subjekt der Schwangerschaft, nicht einmal mehr Objekt der medizinischen Handlungen. Alle Aufmerksamkeit gilt der Leibesfrucht, die zum "Embryo" oder "Fötus" geworden ist, und dessen medizinische Kontrolle und Bewertung als Perfektionieren der Fruchtbarkeit eines "Paares" gedacht wird, einseitig ausgetragen an der, zugleich immer unsichtbarer werdenden Frau.
Die Einübung in diese Sicht hat Spuren im eigenen Empfinden hinterlassen. Das Risikomanagement sorgt für kontinuierliche Verunsicherung von Frauen. Aber nicht nur das. Frauen werden zunehmend verantwortlich für den Lebensweg ihrer Kinder, deren Zukunft immer mehr eine Frage der "Entscheidung" über "Zumutbarkeiten" wird. Probleme, die zuvor nur sozial und nur in der Gegenwart zu bewältigen waren, scheinen "abwählbar" zu werden - insbesondere Krankheit und Behinderung.
Die Dynamik der Vorhersagepolitik
In die Schwangerenvorsorge werden zunehmend auch neue Techniken der Vorhersage integriert. Mehr als 100 Gen-Tests stehen heute in bundesdeutschen Laboratorien zur Verfügung - mehrheitlich für die pränatale Diagnostik. Die meisten DNA-Analysen weisen sog. monogene Erkrankungen nach, die im Modell der Molekularbiologie nur von einem "Gen" verursacht werden. Chorea Huntington ("Veitstanz"), bestimmte Bluterkrankungen wie die Thalassämie gehören dazu. Meist kommen diese Leiden recht selten vor. Nur für manche Bevölkerungen werden statistische Häufungen errechnet: die Thalassämie in jüdischen Gemeinden und beispielsweise auf Zypern; in Westeuropa die Cystische Fibrose (CF), eine Stoffwechselerkrankung, die mit der Verschleimung von Lungen und Bronchien einhergeht. Die neue Generation der Gen-Tests erweitert die Risiko-Kalkulationen und das Wissen über das, was in der Schwangerschaft "schief gehen könnte". Die "Befürchtungen" nehmen rapide zu und damit das "Risiko", das auf die Entscheidungen von Frauen zugerechnet wird - und den Abbruch der Schwangerschaft bei Qualitätsmängeln des Ungeborenen betrifft.
Treten Erkrankungen häufiger auf, dann "lohnen" sich -volkswirtschaftlich und bevölkerungspolitisch - auch Screenings (Reihenuntersuchungen), um Träger/innen solcher genetischer Normabweichungen dingfest zu machen. "Aus dem Ergebnis lasse sich ein Wissensgewinn ableiten, mit Konsequenzen für Familienplanung, Partnerwahl und pränatale Diagnostik ..." (Henn/Schroeder-Kurth, in: Deutsches Ärzteblatt 96, Hf. 23, 11.06.1999, S. A 1555) Mit anderen Worten: "gesunde" Erwachsene sollen sich testen lassen und möglichst "Fortpflanzungsentscheidungen" im Vorfeld der Empfängnis fällen. Wer Träger/in verdächtiger "Gene" ist, soll auf Kinder verzichten oder sich eine/n genetisch einwandfreie/n Partner/in suchen. Frauen werden angehalten, sich einer engmaschigen medizinischen Kontrolle während der Schwangerschaft zu unterziehen.
Breit angelegte "Partnerscreenings" gibt es bereits: auf Cystische Fibrose (CF) und Thalassämie in Zypern, in vielen jüdischen Gemeinden, in Griechenland, in der Türkei, in Italien und Großbritannien. Über eine Million Menschen haben an Reihenuntersuchungen für die Tay-Sachs-Krankheit teilgenommen. Und das National Institute of Health hat in den USA 1997 empfohlen, dass die Krankenversicherungen das flächendeckende Anlageträgerscreening auf CF für alle Paare mit Kinderwunsch als Vorsorgeleistung bezahlt werden. In Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden liegen Stellungnahmen öffentlicher Gremien vor, die genetische Massentestungen als akzeptabel bezeichnen. (ebd.)
Erste Pilotstudien mit Gentests für sog. Zivilisationserkrankungen, die mittlerweile auch molekulargenetisch beschrieben werden, sind angelaufen. Die Deutsche Krebshilfe fördert den genetischen Nachweis von Brust-und Eierstockkrebs an 12 Universitäten im gesamten Bundesgebiet. Nun gilt die Bereitschaft, früher und häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt an Brustkrebs zu erkranken, als z.T. genetisch bedingt. Firmen vermarkten solche Tests privat (USA), Studien mit gesunden und erkrankten Frauen sollen die Effektivität und Aussagekraft solcher Instrumente beweisen (die Krebshilfe in Deutschland). Je mehr Frauen in die Studien getrieben werden, desto fragwürdiger wird das neue Vorhersageinstrument. Und auch die therapeutischen Konsequenzen sind wenig hilfreich: engmaschige Krebsvorsorge mit Mammographien, die verdächtigt werden, den Krebs zu erzeugen, den sie nachweisen sollen und die vorbeugende Brustentfernung werden angeraten.
Was zuvor als "Gefahr" angesehen wurde und auf Ursachen außerhalb der eigenen Kontrolle verwies, wird auch im Bereich der Massenerkrankungen unserer Gegenwart in den Risikobereich verschoben. Dies betrifft nicht allein die Versuche, "zukünftige Generationen" möglichst krankheits- und behinderungsfrei zu gestalten. Auch die eigene Erkrankung wird als individuell vermeidbar entworfen - und muss dann auch als individuell verantwortet gelten. Wer um seine genetische Ausstattung weiß, kann und soll sich an der Prognose und nicht an seinem körperlichen Empfinden orientieren. Nur wer die eigene Lebensführung darauf hin orientiert, wer die Angebote medizinischer Kontrolle und vorausschauender Eingriffe wahrnimmt, kann noch krank werden, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, diese selbst verschuldet zu haben. Krankheit wird zunehmend zum Delikt, zum Fehlverhalten.
Es sollte nicht verwundern, dass gerade der Brustkrebs-Gentest das Pilotprojekt der neuen Vorhersage-Techniken ist. Ähnlich wie in der Schwangerenvorsorge trifft dieses Verfahren im medizinischen System auf eine ausgebaute Struktur. Die Gynäkologie ist wie kaum ein anderer Bereich seit Jahrzehnten damit beschäftigt, nicht vorrangig Kranke zu behandeln, sondern ein per Definition gefährdetes Geschlecht: die Frauen.
Die Wahrscheinlichkeitskalküle der Wissenschaft sagen wenig bis nichts darüber aus, ob ein Individuum tatsächlich erkranken wird. Sie zeigen statistische Risiken an. Diese Berechnungen schaffen definierte Gruppen: Familien mit hoher Erkrankungsrate und Bevölkerungen mit statistischen Häufungen für bestimmte Leiden. Damit wird schon die bloße Zugehörigkeit zu diesen Populationen Grund für medizinische Beobachtung und Kontrolle. Und: diese Gruppen werden schnell zur "Gefahr" für "gesunde Mehrheiten" stilisiert. Soziale Ausgrenzungen auf dem Boden solcher "kollektiven Risiken" sind die Folge.
Ein Perpetuum mobile
Das engmaschiges Netz aus privaten und universitären Laboratorien, der Genomics-Industrie und der fördernden Forschungspolitik, kennt keine Zweifel. Die Zukunft wird gemacht, auf der Basis der biowissenschaftlichen Vorannahmen "entwickelt" und gezielt gestaltet. Die weltweite Forschung am menschlichen Erbmolekül erwirtschaftet immer neue Tests. DNA-Analysen für bestimmte Darmkrebs-Erkrankungen und eine Form der Altersdemenz gibt es schon. Tests auf Diabetes, Arterienerkrankungen, Osteoporose und andere Leiden werden folgen.
Durch die "Synthese von molekulargenetischer Analytik und Computertechnologie, die 1996 mit der Entwicklung des "DNA-Chip" begann, wird nun absehbar, dass sich die zum Beispiel aus einer Blutprobe simultan untersuchbaren genetischen Parameter vervielfachen und gleichzeitig die Kosten für das Verfahren drastisch sinken. Damit wird es voraussichtlich binnen weniger Jahre technisch möglich, ein für die Kostenträger attraktives flächendeckendes genetisches Screening zur Verfügung zu stellen, ..." (Henn/Schröder-Kurth, in: Deutsches Ärzteblatt 96, Hf. 23, 11.06.1999, S. A 1556) prognostizieren die Humangenetiker/in Henn und Schröder-Kurth. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft will genau dieser Bioinformatik und Chiptechnologie einen hohen Stellenwert in der Forschungsförderung einräumen.
Was mit der Erfassung klassischer Erbkrankheiten auf der Ebene der DNA begann, heute auch Krebs, Diabetes u.a.m. betrifft, weitet sich auch in den Bereich der psychischen Störungen, Reaktionen auf Umweltgifte oder Medikamente und des Verhaltens aus. So entstehen "Therapieversager-Gruppen"; verschiedene Kollektive von Umwelt- und Schadstoffempfindlichen; Gruppen von Menschen, die psychisch an der Art und Weise erkranken, wie das gesellschaftliche Zusammenleben organisiert ist. Diese verschiedenen Kategorien von "Noch-nicht-Kranken" oder genetischen "RisikoträgerInnen" können lebensbegleitend einem medizinischen Regime unterworfen werden.
Mit der Chiptechnologie sind solche Klassifikationen ganzer Bevölkerungen in greifbare Nähe gerückt.
Ein Chip der Firma Affymetrix kann bereits 6.000 Gene analysieren, so die Behauptung. (FR 17.7.99) Die britische Biotech-Firma Genostic Pharma aus Cambridge hat gerade eine 700-seitige Patentschrift abgeliefert. Inhalt ihres Antrages ist ein Chip, der 16 verschiedene genetische Informationen sammeln können soll, über Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden, Atemwegserkrankungen oder Kopfschmerzen, aber auch über Impotenz, Verhalten und psychische Störungen. (New Scientist 11.3.2000) Man muss (und sollte) diesen Nachweisverfahren misstrauen. Doch die Tatsache, dass genetische Vorhersagen naturwissenschaftlich gedeckt sind, kann selbst den heute noch absurd klingenden Angeboten gesellschaftliches Renommee verschaffen. Und die Logik, durch Prognose und frühes Eingreifen "Gesundheit" sichern und "Krankheit" vermeiden zu können, ist bereits bis ins Alltägliche hinein selbstverständlich.
Träger-Screening beim Erwachsenen, pränatale Reihenuntersuchungen, massenhafte Diagnose bei Neugeborenen, Tests beim "Noch-nicht-Kranken" für spät auftretende Leiden wie Chorea Huntington, oder für Risikoeinschätzung von Krebs, Alzheimer gelten z.T. als "normales Leistungsangebot" der Krankenkassen, oder sie werden "nur" risikobehafteten Kollektiven angeboten, oder im Vorfeld des Gesundheitswesens gerade klinisch erprobt. Die Identifizierung von genetisch beschriebenen Empfindlichkeiten und Verhaltensabweichungen macht lediglich deutlich, wie undeutlich die Konturen zwischen Krankheit und Normalität werden.
Gefahren des Amts- und Expertenwissens
All das wird auch sozial- und gesundheitspolitische Folgen haben. Die Firma Adnagen, eine Initiative des Fraunhofer-Instituts und selbständig gewordener Professoren aus Hannover, offeriert in ihrem Angebotskatalog Gen-Analysen für eine "zuverlässige Differenzierung zwischen low- und high-risk-Populationen" sowie "die Identifizierung von individuellen Anfälligkeiten gegenüber Umweltchemikalien." Dass sich Arbeitgeber, insbesondere in schadstoffreichen Produktionsbereichen, für diese Vorhersage-Instrumente interessierten, dürfte unstrittig sein. Private Versicherer wollen nicht ausschließen, dass die genetischen Klassifizierungen auch zum eigenen Vorteil genutzt werden. Wenn die Ergebnisse solcher Tests aussagekräftiger würden, so ein Vorstandsmitglied der Allianz Lebensversicherungs AG, und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung wachse, dann verlangten die Versicherungen perspektivisch DNA-Analysen beim Vertragsabschluss. Das britische Gesundheitsministerium hat in dieser Hinsicht Zeichen gesetzt. Es plant, Gentests für die Versicherer freizugeben. "Dies würde es privaten Versicherern erlauben, Menschen mit "schwacher Genstruktur" vielfach erhöhte Beiträge abzuverlangen." (FR 21.3.2000)
Aber nicht nur für die private Versicherungswirtschaft ist die Gen-Diagnostik relevant. In der Sozialversicherung gibt es Regeln, die beispielsweise eine "Mitwirkungspflicht der Versicherten" bei ihrer eigenen Gesunderhaltung festlegen. Wer mögliches, genetisches Wissen verweigert, seine Lebensführung nicht darauf abstellt, die "Präventionsangebote" nicht nutzen will, dem droht der selektive Leistungsausschluss.
Oder: Bei genügender Menge an Zukunftswissen, könnten sich Menschen mit "guten Risiken" zusammentun und eine eigene Versicherung gründen mit entsprechend "guten" Konditionen. Der Versicherungsfachmann Oliver Schöffski kennt die Marktmechanismen und befürchtet, dass sich über die Logik der Versicherer - aber auch der NachfragerInnen - die Gesellschaft aufteilen könnte in Individuen, die keinen Versicherungsschutz mehr bekommen und solche, die selbst nicht mehr "versicherungswillig" sind. (FR 7.3.2000) Das Solidarprinzip könnte in eine völlige Schieflage geraten. Und prinzipiell gilt: der Datenhunger der Versicherer ist unstillbar. Auch gesetzliche Krankenversicherer könnten Personen ohne gravierende genetische Makel zu günstigeren Tarifen verwalten, jene mit nachgewiesenem "Risiko" aber zu wesentlich schlechteren Konditionen.
Hier spätestens zeigen sich die gesellschaftlichen Konsequenzen des allerorten mobilisierten Amts- und Expertenwissens. In einer so dominierten Welt gibt es weder Platz für Kranke und Menschen mit Behinderungen, noch für genetische "Normabweichler". Auch Tagträumerei und uneinsichtiger Gegenwartsbezug soll der Supernorm "Gesundheit" weichen. "Risiko" als Weltwahrnehmung und die Vorstellung von einer kalkulierbaren "Zukunft", die durch molekulares Wissen, aber auch durch eigene Entscheidung und Disziplinierung vollständig beherrschbar zu werden scheint, führt selbst in eine "riskante Zukunft".