Schlängelt sich die BoA zum Kern der Probleme?

von Andreas Buro

Die von unterschiedlichen Ansätzen betriebene Kampagne "Bundesrepublik ohne Armee" (BoA) hat erneut viele Fragen aufgeworfen. Sind nicht zuvörderst die Militärpakte aufzulösen, oder werden nicht gerade diese Pakte benötigt, um das deutsche Militär in Schach zu halten? Andere befürchten, eine Neutralisierung der deutschen Staaten oder ihr Austritt aus den Pakten führe zu einer Re-Nationalisierung. Kontrovers wird diskutiert, ob BoA nicht zu kurz griffe, es ginge schließlich um die Entmilitarisierung des gesamten Gebietes von BRD und DDR.
Freilich gibt es auch die Sorge, eine Defensivierung könne eine neue Runde der Aufrüstung einleiten. Diskutiert wird auch, ob das vereinte Deutschland nicht aus der EG ausscheiden solle, was allerdings wieder die Frage der Re-Nationalisierung deutscher Politik aufwürfe, oder ob nicht die EG nach Osten auszuweiten sei, um schließlich Europa bis zu den Grenzen der UdSSR zu umfassen.
Solche Kontroversen beruhen zum Teil auf unterschiedlichen Einschätzungen der gegenwärtigen Situation und Tendenzen. Ich will deshalb zunächst meine Situationsbeurteilung vorstellen, ehe ich auf Forderungen eingehe und Vorschläge unterbreite.

Einschätzungen zur historischen Situation und ihrer Tendenzen

  1. Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums in Europa ist irreversibel. Zumindest DDR, Polen, CSSR und Ungarn wenden sich dem kapitalistischen Gesellschaftssystem zu und orientieren sich an Westeuropa. Auch eine konservativ bis reaktionäre Wende in der UdSSR könnte daran, wie repressiv sie auch nach innen sein mag,nichts ändern. Auch sie müßte an Kooperation mit Westeuropa interessiert sein.
  2. Westeuropa steht ein "Come-back" zu einer, wenn nicht gar der führenden Weltmacht bevor. Freilich nicht von heute auf morgen und nicht ohne Schwierigkeiten. Ursächlich hierfür sind die großen wirtschaftlichen Expansionsmöglichkeiten in den RGW-Bereich, sobald dieser, was gegenwärtig geschieht, seine Eigenständigkeit als bürokratisch-etatistische Gesellschaftsformation aufgibt. Zum zweiten ist Westeuropa nicht länger auf den amerikanischen Militärschutz angewiesen und gewinnt dadurch erheblich an politischer Unabhängigkeit.
  3. Die Aufstiegsmöglichkeit zur Globalmacht beruht vor allem freilich auf der ökonomischen Konkurrenzfähigkeit. Sie hat die weitere Integration Westeuropas zur Voraussetzung. Hier steht also nicht Re-Nationalisierung auf der Tagesordnung, sondern die Auflösung der Souveränität der Nationalstaaten zugunsten einer westeuropäischen Staatswerdung. Die Gründe hierfür sind nicht ideologischer Art, sondern handfest ökonomischer. Ihnen kann die BRD sich nicht über einen Sonderweg entziehen. Der nationale Konflikt innerhalb der EG geht "nur noch" um den Platz, den die Staaten innerhalb der EG-Hierarchie einnehmen. Die BRD (plus DDR) greift nach der Hegemonialposition. Der Vergleich mit dem Schlagwort "Viertes Reich" erscheint mir trotzdem absurd.
  4. Mit der Staatswerdung Westeuropas verstärkt sich die Tendenz, sich alle Insignien der Großmachtrolle anzueignen. Globale Interessen werden immer ungenierter geäußert, und selbstverständlich gehört dazu der Status als eigenständige Militärgroßmacht. Die NATO bleibt unter solchen Vorzeichen nicht länger Hegemonialinstrument der USA, sondern wird eher zur Institution der Abgleichung von Interessen über den Atlantik hinweg. Wenn auch überflüssige Rüstung aus der europäischen Ost-West-Konfrontation fortzuräumen ist, so steht doch Abrüstung insgesamt im herrschenden Verständnis nicht auf der Tagesordnung.
  5. EG-Westeuropa versucht, die europäischen EGW-Länder - für die UdSSR läßt sich das nicht so prognostizieren - per Assoziationsvertrag weltarbeitsteilig an sich zu binden. Eine baldige Aufnahme als EG-Vollmitglieder erwarte ich nicht (Ausnahme DDR), da die westeuropäische Staatswerdung nicht behindert werden soll.
  6. Zur Beschwichtigung der Öffentlichkeit wird ein vorwiegend westeuropäisch dominiertes "System gemeinsamer Sicherheit" angeboten werden, aus dem die Sowjetunion möglichst draußen gehalten wird. In Wirklichkeit wäre dies eine Ausdehnung der westlichen militärischen Einflußsphäre nach Osten.
  7. Das ökonomisch expansive Westeuropa ist nicht an Grenzverschiebungen interessiert - auch nicht die herrschenden Kräfte in der BRD. Das Interesse gilt der unbeschränkten ökonomischen Durchlässigkeit der Grenzen. Dabei dürfte gute Zusammenarbeit auch mit undemokratischen "Entwicklungsdiktaturen" durchaus denkbar sein, wenn nur die wirtschaftspolitischen Bedingungen stimmen. Nicht nur die Türkei zeigt, welche Gemeinsamkeiten möglich sein dürften.
  8. Die bevorstehenden Schübe in der EG-Integration werden mit Entdemokratisierung und Sozialabbau verbunden sein. Selbstverständlich werden Belastungen so weit wie möglich nach außen zu den schwächeren Gliedern in der Arbeitsteilung weitergegeben. Effektivierung aller Ressourcen für den globalen Konkurrenzkampf und zur Akkumulation für die großen Investitionsmöglichkeiten ist angesagt.

Einige Forderungen und ihre Folgen
Die Forderung nach Auflösung der NATO oder nach Austritt hat ihre Brisanz verloren. Der westeuropäische Militäraufbau würde nur beschleunigt werden.
Wir können aber auch nicht dafür eintreten, daß US- und sowjetische Truppen stationiert bleiben, um militärische Alleingänge der Deutschen zu unterbinden. Das wäre die Verlängerung der Nachkriegszeit und könnte zu deftigen nationalistischen Ressentiments führen.
Sollte die BRD aus der EG austreten, so schickte man die Deutschen auf einen Sonderweg der Re-Nationalisierung und Remilitarisierung, selbst wenn Deutschland neutral würde.
Ich kann keine Kraft erkennen, welche die westeuropäische Integrationsdynamik lahmlegen könnte. Opposition von links wird sich deshalb auf die Gestaltung dieses Prozesses konzentrieren müssen. Friedensarbeit muß sich nicht zuletzt auf positiven Frieden beziehen, ohne dabei den Sicherheitsaspekt außer acht zu lassen. Sie muß jedoch politische Sicherheitslösungen anstreben. Eine solche könnte die Installierung eines supranationalen Regimes für Gemeinsame Sicherheit in Europa unter Beteiligung aller KSZE-Staaten mit Einschluß der UdSSR und der USA sein. Das von ihm zu entwickelnde System kollektiver Sicherheit müßte den europäischen Entmilitarisierungsprozeß organisieren. Truppen, die zur Abrüstung vorgesehen sind, könnten ihm sogleich unterstellt und auf diese Weise aus dem Zusammenhang der Militärpakte herausgelöst werden.
Dabei kann das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit eine wichtige Rolle als Prinzip des Vorgehens bei Abrüstungsschritten spielen. Zuerst wären demgemäß die bedrohlichsten, weil angriffsfähigsten Militärformationen aufzulösen.
Ein weiteres KSZE-Regime wäre für die ständige Konfliktbearbeitung und die Auslotung von Kooperationsmöglichkeiten in Europa anzustreben. Die Vereinbarung von Verhaltensregeln, die Durchsetzung von Gleichberechtigung der ja nicht gleich starken Staaten und ökonomischen Potentiale, die Entwicklung von europäisch gemeinsamen Projekten, z.B. im Umweltschutz, wären von hier auf den Weg zu bringen.
Zu hoffen ist, daß die KSZE-Regime einen Gegenpart zu der so überaus starken EG sein können, sind doch in ihnen auch viele Nicht-EG-Staaten vertreten, die ihre besonderen Interessen gewahrt sehen möchten.
Solche Institutionen werden allerdings nur wirksam, soweit anti-hegemoniale Kräfte in den KSZE-Ländern für zivile, demokratisierende Ziele mobilisieren. An diesem Punkt hat die Kampagne BoA ihren politischen Stellenwert. Es geht darum, der stärksten Macht Europas die militärische Komponente zu entziehen. Dabei ist nicht allein mit anti-hegemonialen Argumenten zu arbeiten, sondern auch mit anti-militaristischen. Sie weisen bereits über die deutsche Militärfrage hinaus auf die westeuropäische. Die BoA-Kampagne, die von Beginn an mit anti-militaristischen Kampagnen und Bemühungen in anderen europäischen Ländern verbunden war, ist gleichzeitig als ein Ansatz gegen die westeuropäische Militärmacht zu verstehen. Gelänge es, nicht zuletzt mit Hilfe der Befürchtungen vor deutscher Vorherrschaft in ganz Europa, den deutschen Militärbaustein herauszubrechen, so wäre damit ein gewichtiger Baustein für ein ziviles oder doch wesentlich zivileres Europa gewonnen. Dies zu erreichen, wäre nicht alles, was die sozialen Bewegungen wünschen, aber es wäre sicher sehr viel.

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