Sanctuary City – eine Perspektive für deutsche Kommunen?

Sichere Zufluchtsstädte für Illegalisierte

von Tatjana Giese
Schwerpunkt
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Tatjana Giese

Spätestens der lange Sommer der Migration 2015 hat gezeigt, dass die Mobilität der Menschen und die Kontrollmechanismen der europäischen Staaten in starkem Widerspruch zueinanderstehen. Ein Resultat aus dem Widerspruch zwischen menschlicher Mobilität und der Abschottung Europas ist die Entstehung prekärer Aufenthaltssituationen und die Schaffung aufenthaltsrechtlicher ‚Illegalität‘. (1)

Der Lebensalltag von Illegalisierten und Migrant*innen in prekären Aufenthaltssituationen findet meist in Städten statt und ist häufig von Exklusionen, Abhängigkeiten und Unsicherheiten geprägt. Die politische Praxis der Illegalisierung und die damit einhergehende ständige Angst vor Abschiebungen zwingt sie dazu, im öffentlichen Raum weitestgehend unsichtbar zu werden. Es sind daher insbesondere die Kommunen, die in ein Spannungs- und Konfliktfeld zwischen der Durchsetzung nationaler Interessen, ihrer eigenen Verwaltungshoheit und zunehmenden zivilgesellschaftlichen Protesten für einen solidarischen und humanitären Umgang mit hier lebenden Geflüchteten und Migrant*innen rücken. (2).
Unter Betroffenen und ihren Unterstützer*innen formiert sich zunehmend Widerstand. In deutschen Städten gründen sich vermehrt Initiativen, die ihre ‚Stadt-Mitbürger*innen‘ vor den restriktiven und menschenunwürdigen Praktiken des europäischen Grenzregimes und der Bundesregierung schützen möchten und sich für mehr Willkommen und gesellschaftliche Teilhabechancen einsetzen. Sie orientieren sich dabei u.a. an dem aus den USA stammendem Konzept der Sanctuary City.

Als Sanctuary Cities werden gemeinhin Städte bezeichnet, die sich selbst dazu verpflichten, (illegalisierten) Migrant*innen Zuflucht zu bieten, sie durch unterschiedliche Praktiken vor Ausweisung zu schützen und ihnen einen gleichberechtigten Zugang zu kommunalen Leistungen und zivilgesellschaftlicher Unterstützung zu gewähren. Die Idee dahinter ist, alle Bewohner*innen einer Stadt als Stadtbürger*innen anzuerkennen und zwar unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status. Jede Person, die faktisch in der Stadt lebt, soll auch Zugang zu den gleichen Leistungen haben sowie die gleichen Rechte genießen. Bislang existieren Sanctuary Cities nur in den USA, Kanada und Großbritannien. Neben humanitären Ansprüchen steht auch immer eine sicherheits- und ordnungspolitische Funktion im Mittelpunkt. Das Konzept soll u.a. helfen, Risiken des städtischen Zusammenlebens zu verringern (3).

1. No Deportation
Niemand soll aus der Stadt abgeschoben werden. Alle Menschen, die in der Stadt leben, sollen ein Recht auf Bleiben und Teilhabe haben.
2. Don’t Ask Don’t Tell
Mitarbeitenden lokaler Behörden sowie der Polizei ist es untersagt, nach Aufenthaltspapieren zu fragen.
3. Access without Fear
Alle Bewohner*innen einer Stadt sollen Zugang zu Behörden und Teilhabe an kommunalen Dienstleistungen und polizeilichen Services haben, ohne Angst haben zu müssen, aufgegriffen und abgeschoben zu werden.
4. Municipal ID-Cards
In einigen US-amerikanischen Städten wurden sogenannte Municipal ID-Cards (städtische Ausweise) eingeführt, die ähnlich wie ein Personalausweis funktionieren.  

Sanctuary Cities als Option für Deutschland?
Kommunen bilden in Deutschland im Wesentlichen einen Teil der Verwaltungsorganisation der Länder und verfügen über keine eigenen Gesetzgebungskompetenzen. Demnach können Kommunen in Deutschland keine rechtsverbindlichen Verordnungen in Ergänzung zum Bundes- oder Landesrecht erlassen.  Bezüglich der Umsetzung von Don’t Ask Don’t Tell gibt es z.B. einige rechtliche Hürden, wie die im Aufenthaltsgesetz festgeschriebene Übermittlungspflicht. Ebenso ist die Polizei in Deutschland keine Angelegenheit der Kommunen, so dass kommunale Behörden der Polizei gegenüber nicht weisungsbefugt sind.

Möglichkeiten für die Einführung von Don’t Ask Don’t Tell bestehen jedoch z.B. im Bildungsbereich, wo bereits im Jahr 2011 die Übermittlungspflicht abgeschafft wurde. Auch in der medizinischen Versorgung funktioniert das Prinzip mancherorts bereits, wie z.B. beim Medinetz Hannover oder der Medizinischen Flüchtlingshilfe Göttingen, wo es den anonymen Krankenschein für alle Personen gibt, die nicht versichert sind.

Die Ausgestaltung eines Sanctuary City-Konzepts ist sehr variabel, wodurch sich auch für deutsche Kommunen die Chance eröffnet, verschiedene Ansätze auszuloten. Eine Sanctuary City kann dabei mehr sein als der Schutz der illegalisierten Bevölkerung durch Don’t Ask Don’t Tell. So können Kommunen z.B. durch den Erlass von (vorerst) symbolpolitischen Verordnungen ein Zeichen setzen und Druck auf die Landes- oder Bundesebene ausüben, geltende Gesetze entsprechend der Ideen eines solidarischen Miteinanders zu verändern.

Die Bewegung ‚Solidarity Cities‘
In etwa 20 deutschen Städten gibt es bereits ‚Solidarity City‘-Initiativen. Ihre Forderungen sind die gleichen: keine Abschiebungen, keine (willkürlichen) Kontrollen von Aufenthaltspapieren, ein städtischer Ausweis für alle und angstfreier Zugang zu Behörden und Teilhabe an sämtlichen städtischen Dienstleistungen. Ihr primäres Ziel besteht jedoch nicht darin, dass der Verwaltungsapparat der Stadt irgendetwas erklärt, sondern „den Alltag in der Stadt so zu gestalten, dass er für alle Menschen einen möglichst reibungslosen Aufenthalt ermöglicht und das Miteinander aller Stadtbürger_innen perspektivisch von Solidarität geprägt wird“ (Interviewzitat Eberhard Jungfer, Aktivist, 2019). Praktisch organisieren die Initiativen öffentlichkeitswirksame Kampagnen und Demonstrationen, verhindern Abschiebungen durch friedliche Blockaden und haben die Idee des Bürger*innen-Asyls ins Leben gerufen.

Ausblick
Die Idee der Sanctuary City bietet trotz vorhandener struktureller und rechtlicher Schwierigkeiten eine Perspektive für Kommunen, im Rahmen ihrer gesetzlichen und strukturellen Möglichkeiten eigene Wege zu gestalten, um illegalisierte Migrant*innen und Geflüchtete zu schützen oder allgemein den Diskurs über Geflüchtete und Migrant*innen in prekären Aufenthaltssituationen zu verändern. Ein friedliches städtisches Zusammenleben fördern, gleichberechtige Teilhabechancen für alle entwickeln und nationale Exklusionspraktiken, die häufig konträr zu den tatsächlichen Lebensrealitäten in den Städten stehen, aufbrechen, sollten als Ziele im Fokus stehen. Bereits existierende Sanctuary Cities können dabei eine Orientierungshilfe bieten. Lokale Netzwerke und Bündnisse aus verschiedenen Akteur*innen der Zivilgesellschaft, der Stadtverwaltung, der Politik und der Betroffenen, wie sie derzeit an vielen Orten in Deutschland entstehen, sind der Schlüssel, um ein solidarisches Miteinander und das Recht auf Stadt für Alle zu leben und voranzutreiben. Nur so kann der Druck auf die Politik erhöht werden.

Literatur
Lebuhn, Henrik (2012): Bürgerschaft und Grenzpolitik in den Städten Europas. Perspektiven auf die Stadt als Grenzraum. In: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt. Nr. 126/ 127, S. 350-362
Scherr, Albert/ Hofmann, Rebecca (2016): Sanctuary Cities. Eine Perspektive für deutsche Kommunalpolitik? In: Kritische Justiz 49 (1), S. 86–97
Interview von Vera Hanewinkel mit Eberhard Jungfer und Janine Schmittgen, Aktivist*innen aus Osnabrück, 2019: https://solidarity-city.eu/de/2019/01/31/staedte-der-solidaritaet-ein-in...

Anmerkung
1 Menschen, die ohne Erlaubnis nach Europa einreisen oder ohne gültigen Aufenthaltstitel in den Staaten der europäischen Union leben, werden von der europäischen und den nationalen Politiken ‚illegalisiert‘. Der Begriff ‚illegalisiert‘ verdeutlicht, dass Legalität und Illegalität keine menschlichen Attribute sind, sondern das Resultat rechtlicher und sozialer Kategorisierung sowie politischer Handlungen.
2 vgl. Scherr/ Hofmann 2016, Lebuhn 2012.
3 vgl. Scherr/ Hoffmann 2016.

Dieser Artikel ist eine Kurzfassung eines Artikels, den das Eine Welt Netz NRW e.V. im Dezember 2019 in der Broschüre „Zivile Seenotrettung und wie wir sie überflüssig machen“ herausgegeben hat. Diese finden Sie unter https://eine-welt-netz-nrw.de/themen/fluchtmigration/seenot-rettung/ Sie kann kostenlos oder gegen eine kleine Spende bestellt oder heruntergeladen werden.

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Tatjana Giese hat Internationale Migration und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück studiert und arbeitet beim Eine Welt Netz NRW e.V.