Atomkrieg

„Sieg ist möglich“

von Otmar Steinbicker
Schwerpunkt
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Der Aufsatz „Sieg ist möglich“ von Colin S. Gray und Keith Payne erschien im Sommer 1980 in der renommierten außenpolitischen US-Zeitschrift „Foreign Policy“. Von 1982 bis 1987 war  der Autor Colin S. Gray Mitglied im Allgemeinen Beratungskomitee über Rüstungskontrolle und Abrüstung (General Advisory Committee on Arms Control and Disarmament) unter Präsident Ronald Reagan. In der Atomkriegsdebatte Anfang der 1980er Jahre wurde der Aufsatz zumeist unter dem Aspekt behandelt, wieweit das Denken an einen Atomkrieg in den USA bereits vorangeschritten sei. Teilweise wurden auch die Pershing-II-Raketen als mögliche Erstschlagwaffen für eine solche Kriegsplanung angesehen. Was es damals noch nicht gab, war ein wirksames Raketenabwehrsystem, das einen möglichen sowjetischen Zweitschlag hätte abfangen können. Der Aufbau eines solchen Systems war durch den ABM-Vertrag von 1972 verboten. Der ABM-Vertrag wurde 2002 von US-Präsident George W. Bush außer Kraft gesetzt, und unter der Bezeichnung „National Missile Defense“ (NMD) wurde ein Raketenschild aufgebaut, das anfliegende Interkontinentalraketen erkennen und zerstören soll. Landgestützte atomare Mittelstreckenraketen als mögliche Erstschlagwaffen wurden 1987 durch den INF-Vertrag verboten. Dieser Vertrag ist inzwischen gekündigt. Über eine Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen wird inzwischen diskutiert. Sollten sie stationiert werden, wird das im Aufsatz beschriebene Atomkriegsszenario denkbar. In der Konsequenz könnten Hoffnungen auf einen Sieg im Atomkrieg gedeihen und zugleich auf der Gegenseite gefährliche Reaktionen bei einem vermuteten Angriff auslösen. Wir drucken hier einen Auszug aus dem Text ab:

Wenn die atomare Macht der USA dazu dienen soll, den außenpolitischen Zielen der USA zu dienen, dann müssen die Vereinigten Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen. Dieses Erfordernis ist bedingt durch die Geographie der Ost-West-Beziehungen, durch den andauernden Rückstand des Westens an konventionellen und taktischen Atomstreitkräften und durch den Unterschied zwischen den Zielen einer auf Veränderung oder auf die Erhaltung des Status quo ausgerichteten Macht.

Die Strategieplanung der USA sollte die sowjetischen Ängste so weit wie möglich ausnutzen; sie sollte die möglichen sowjetischen Reaktionen ebenso umfassend in Betracht ziehen wie die Bereitschaft der Amerikaner, auf derartige Reaktionen hin zu handeln, und sie sollte für den Schutz des amerikanischen Territoriums sorgen. Eine solche Planung würde die Aussicht auf eine effektive Abschreckung und auf das Überleben eines Krieges erhöhen. ... Hinzu kommt, dass die amerikanische Regierung einfach der Tatsache nicht ins Auge sehen will, dass sie versuchen muss, die Freiheit zu einem offensiven Atomschlag und die Glaubwürdigkeit ihrer offensiven Atomkriegsdrohung mit dem Schutz amerikanischen Territoriums zu verbinden. ...

Die strategische Zielplanungsdoktrin der USA muss vom ersten bis zum letzten Schlag von einheitlichen politischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen ausgehen. Wenn sie nicht mit einer plausiblen Theorie verbunden ist, wie ein Krieg gewonnen werden oder zumindest ein akzeptables Ende des Krieges sichergestellt werden kann, dann bietet strategische Flexibilität den Vereinigten Staaten keine angemessene Basis für Verhandlungen vor oder während eines Konflikts, und ist damit eine Einladung, sich besiegen zu lassen. Kleine, vorhergeplante Schläge können nur dann sinnvoll sein, wenn die Vereinigten Staaten die strategische Überlegenheit besitzen – die Fähigkeit, einen Atomkrieg auf jeder Stufe der Gewaltanwendung mit einer reellen Aussicht darauf zu führen, dass die Sowjetunion besiegt wird und dass die USA selbst sich soweit erholen können, dass eine zufriedenstellende Nachkriegs-Weltordnung sichergestellt werden kann. ...

Es sollte kein Missverständnis darüber bestehen, dass das oberste Interesse der US-Strategie die Abschreckung ist. Jedoch existieren die Streitkräfte der USA nicht ausschließlich zu dem Zweck, eine nukleare Bedrohung oder einen Angriff der Sowjetunion gegen die Vereinigten Staaten selbst abzuschrecken. Sie sind vielmehr dazu vorgesehen, die amerikanische Außenpolitik zu unterstützen, wie es sich beispielsweise in der Zusicherung, Westeuropa vor Aggressionen zu schützen, zeigt. Solch eine Funktion erfordert amerikanische strategische Kräfte, die einen Präsidenten befähigen, den strategischen Ersteinsatz von Atomwaffen vorzunehmen, um Ziele, die gleichwohl politisch defensive sind, dennoch mit Zwangsmitteln durchzusetzen. ...

Die Verfechter einer flexiblen Zielplanung machen geltend, dass ein beschränkter Gebrauch nuklearer Waffen durch die USA den Beginn eines Eskalationsprozesses signalisieren würde, den die Sowjets angesichts der amerikanischen Drohung gegen sowjetische Städte und Industriegebiet lieber vermeiden würden. Es scheint jedoch inkonsequent zu sein, wenn behauptet wird, dass die amerikanische Drohung mit gesicherter Zerstörung die Russen davon abschrecken würde, sich nach einem begrenzten Atomschlag auf eine Eskalation einzulassen, dass dagegen die amerikanische Führung einen solchen Prozess trotz der sowjetischen Bedrohung in Gang setzen könnte. Was sollte die Basis solcher relativer Entschlossenheit der USA und solcher Unsicherheit der Sowjetunion sein angesichts strategischer Parität oder sowjetischer Überlegenheit?

Darüber hinaus würde der erwünschte Abschreckungseffekt wahrscheinlich davon abhängen, wie die Sowjetunion den atomaren Feldzug insgesamt einschätzt. Oder anders ausgedrückt: die sowjetische Führung wäre weniger von der amerikanischen Bereitwilligkeit, einen begrenzten Atomschlag zu führen, beeindruckt, als von einer glaubhaften amerikanischen Sieges-Strategie. Eine solche Theorie hätte das Ende des Sowjetstaates ins Auge zu fassen. Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen. ...

Ist erst einmal die Zerstörung des Sowjetstaats als Kriegsziel festgelegt, so sollten die Verteidigungsexperten einen optimalen Zielplan zur Erreichung des Erstrebten aufstellen. ...

Die Vereinigten Staaten sollten atomare Ziele danach auswählen, dass sie zwar zur Wiederherstellung der Abschreckung beitragen, aber dennoch den Sowjetstaat zerstören und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für ein Überleben der USA absichern, falls es zu einem totalen Einsatz käme. Die erste Priorität eines solchen Beschussplanes gälte sowjetischen Militärkräften jeglicher Art; an zweiter Stelle stünde die politische, militärische und wirtschaftliche Leitungs- und Kontrollstruktur der UdSSR. Erfolgreiche Schläge gegen Ziele der militärischen und politischen Leitungs- und Kontrollstruktur würden die sowjetische Fähigkeit vermindern, militärische Macht nach außen einzusetzen und die politische Autorität im Inland aufrecht zu erhalten. Dennoch kann es nicht das Interesse der Vereinigten Staaten sein, gegenwärtig eine offensive Atomstrategie anzuwenden – gleichgültig, wie abschreckend sie aus sowjetischer Perspektive erschiene – wenn im Gegenzug das amerikanische Territorium für sowjetische Vergeltungsschläge völlig offenläge.

Schläge gegen die UdSSR sollten gezielt gegen die Evakuierungsbunker der höchsten politischen und administrativen Führung, einschließlich des KGB, geführt werden, gegen unentbehrliche Kommunikationszentren der Kommunistischen Partei, des Militärs und der Regierung; und gegen viele wirtschaftliche, politische und militärische Dokumentationszentren. Schon eine nur begrenzte Zerstörung einiger dieser Ziele und eine weitreichende Isolierung eines Großteils der Schlüsselkader, die überleben, könnte für das Land revolutionäre Folgen haben. ...

Strategen können keine schmerzlosen Konflikte bieten oder garantieren, dass die von ihnen bevorzugte Strategie und Doktrin eine sehr viel größere Abschreckung böte als die bisher von den USA vertretenen Pläne. Aber sie können immerhin für sich in Anspruch nehmen, dass eine intelligente amerikanische Offensivstrategie, in Verbindung mit Heimatverteidigung, die US-Verluste auf etwa 20 Millionen Menschen reduzieren würde. Dies würde strategische Drohungen der USA glaubwürdiger machen.  ...

Eine Kombination von offensivem Entwaffnungsschlag, Zivilschutz und einem Abwehrsystem gegen ballistische Raketen bzw. Luftabwehr müssten die US-Verluste so niedrig halten, dass ein nationales Überleben und Wiederaufbau möglich sind.

Gleichgültig wie ernst eine sowjetische Herausforderung auch sein mag, ein amerikanischer Präsident kann einfach nicht mit einem Atomschlag drohen und ihn auch auslösen, wenn dabei ein Verlust von 100 Millionen Amerikanern und mehr zu befürchten wäre Es gibt einen Unterschied zwischen einer Doktrin, die nur begrenzt rationale Leitlinie sein kann, falls Abschreckung versagt, und einer Doktrin, die ein Präsident verantwortungsbewusst für klare politische Zwecke einsetzen kann. Die existierenden Anhaltspunkte über die möglichen Konsequenzen von atomaren Auseinandersetzungen legen die Annahme nahe, dass in einem Atomkrieg die Strategie eine Rolle spielen dürfte. Die Möglichkeit der Entwicklung einer Strategie für den Atomkrieg zu ignorieren, bedeutet, dass man sich für die Alternative einer atomaren Apokalypse entscheidet, falls die Abschreckung versagt. Die gegenwärtige amerikanische Abschreckungs-Politik hat den grundlegenden Fehler, dass sie nicht für die Verteidigung amerikanischen Territoriums sorgt.

Es ist unwahrscheinlich, dass ein Atomkrieg ein in sich sinnloses und fatales Ereignis darstellt. Vielmehr wird er wahrscheinlich geführt werden, um die Sowjetunion zur Aufgabe eines gerade erzielten Vorteils zu zwingen. Ein Präsident muss die Möglichkeit haben, einen Krieg nicht nur zu beenden, sondern ihn zu seinem Vorteil zu beenden.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de