Sierra Leone zwischen Krieg und Frieden

von Anne Jung

Sierra Leone belegt zwei Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges Platz 175 von 175 Plätzen auf der Weltrangliste der ärmsten Länder. Heute sind 70 % der Bevölkerung Analphabeten, die Kindersterblichkeit ist die höchste auf der Welt. Mindestens 75.000 Menschen der 5 Millionen zählenden Bevölkerung wurden während des 11-jährigen Bürgerkrieges zwischen der RUF und der sierra-leonischen Armee getötet. Über 20.000 Handamputierte leben heute in Sierra Leone - ihnen wurden durch die Rebellenbewegung RUF (Revolutionary United Front) die Hände abgehackt.

Im Juli 2002 nahm die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) ihre Arbeit auf. Nach südafrikanischem Vorbild und auf Drängen der UN eingesetzt, soll sie die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges dokumentieren und damit zur Versöhnung beitragen. Die Arbeit der Kommission wird jedoch ihrem Namen nicht gerecht. Anders als in Südafrika hatte die Kommission in Sierra Leone nur vier Monate Zeit, durch das Land zu reisen und sich die Aussagen von allen am Konflikt beteiligten Parteien anzuhören.

Durch die Gewährung der Generalamnestie war der Anreiz nicht sehr groß, sich den Fragen der Kommission zu stellen. Die wenigen, die erschienen, redeten sich meistens heraus: "Ich habe Fehler gemacht. Ich wurde gezwungen, meinem Land schlechtes anzutun. Nehmt mich wieder in eure Gemeinschaft auf" - so einer der Angeklagten. Als Ritual für den letzten Anhörungstag legen sich die Täter vor den traditionellen Führern auf den Boden und bitten die Gemeinde um Verzeihung. Und die Gemeindeführer antworten: "Wir werden dir vergeben, aber du musst ab sofort gutes, richtiges Benehmen zeigen und Verantwortung für den Friedensprozess übernehmen." Angesichts des geschehenen Unrechts von "richtigem Benehmen" zu sprechen grenzt an Zynismus. Zu dem Versöhnungsritual ist keines der Opfer, die zuvor ausgesagt hatten, erschienen.

Die täterzentrierten Anhörungen der TRC stehen im deutlichen Gegensatz zu den gänzlich fehlenden Strukturen zur Unterstützung der Opfer. Aber wenn die Opferinteressen Beachtung fänden, sie Unterstützung bekämen, spräche das doch für die Regierung. Der Eindruck drängt sich auf, dass in Sierra Leone "Versöhnung" um jeden Preis erreicht werden soll. Die Opfer wurden in den Anhörungen nicht gefragt, ob sie sich versöhnen, geschweige denn vergeben wollen. "Die traditionellen Führer", so die Anwältin Jasmin Yuso-Sheriff, "eignen sich nicht als Stellvertreter für die Opfer in den Gemeinden. Viele sind ins Exil gegangen und haben die Verbrechen nicht erlebt. Es mangelt ihnen schlicht an Einfühlungsvermögen." Yuso-Sheriff forderte schon vor Beginn der Anhörungen die bessere Berücksichtigung der Opferinteressen. Für die Kommission Grund genug, Yuso-Sheriff aus dem Gremium zu verbannen. Sie ist nicht die einzige Kritikerin der TRC. Bei der Eröffnung im Juni 2003 verwahrte sich die südafrikanische TRC-Mitarbeiterin Yasmin Souka gegen die Äußerungen des Vorsitzenden Bischof Humper, der verkündete, das Ziel der TRC sei es, "zu vergessen und zu vergeben". Verzeihen ist eine individuelle Angelegenheit - so lautete eine der wichtigsten Grundsätze der südafrikanischen TRC. Opfer und Täter wurden hier - wenn das Opfer dies wünschte - zusammengeführt. Das Opfer war frei in der Entscheidung, ob es verzeihen kann und will oder nicht. Oft wurde der Täter unmittelbar mit dem Geschehenen konfrontiert: "Hat mein Mann etwas gesagt, bevor er erschossen wurde? Wie hat er geschaut? Was hast du in dem Moment gefühlt, als du ihn erschossen hast?" Diese Begegnung ist in Sierra Leone eindeutig ausgeschlossen. Die Südafrikanerin Zandile Nhlengetwa ist sich nicht sicher, ob das Ergebnis in Sierra Leone "anstelle von Heilung nicht eher eine erneute Traumatisierung sein wird. Ich frage mich, wie tief eine solche Versöhnung gehen kann."

Besonders frustriert zeigte sich auch die von medico besuchte Assoziation der Hand-Amputierten über den Umgang mit den Tätern im Nachkriegs-Sierra Leone: Die Täter werden umgehend in eine neue Beschäftigung vermittelt, damit sie nicht wieder zu den Waffen greifen. Einige der Opfer haben sich sogar als Täter ausgegeben, um Unterstützung wie z.B. einen Ausbildungsplatz zu erhalten, während die eigentlichen Opfer bislang leer ausgingen.

Gleichzeitig betonen viele Vertreter der sierra-leonischen Zivilgesellschaft, dass sie diese und andere Ungerechtigkeiten bewusst in Kauf genommen haben, weil sie nach den unermesslichen Gräueltaten bereit waren, Frieden um jeden Preis zu akzeptieren: "Wir wussten, dass der Frieden nur durch absolute Unterwerfung unter die Forderungen der Täter zustande kommt. Für die Freiheit, nicht weiter vergewaltigt, vertrieben, verstümmelt und ermordet zu werden, müssen wir den Schmerz eines ungerechten Friedens ertragen." (Shellac Sonny-Davis, Mitarbeiterin der Truth- and Reconciliation Working-Group, die den Versöhnungsprozess kritisch begleitet).

Dennoch bleiben die Menschen nicht passiv, sondern entfalten eine Vielzahl von Aktivitäten. Sie kommen dabei freilich schnell an den Rand ihrer Möglichkeiten, wenn sie keine Chance sehen, sich selbst zu organisieren, um z.B. für Entschädigung zu kämpfen oder die Opfer des Krieges zu betreuen. Auch durch die Implementierung einer ausländischen Hilfsstruktur besteht die Gefahr, jede Form der Eigeninitiative zu ersticken. So schicken die internationalen Hilfswerke oft ihre eigenen Mitarbeiter in diese Länder, anstatt die oft mühsamere Kooperation mit lokalen Partnern zu suchen. Die vielen Schilder, von den großen Hilfswerken vor ihren Anwesen aufgestellt, dienen mittlerweile selbst den Einheimischen als Wegweiser.

Immer offenkundiger wird, dass für eine Nachkriegsordnung keine politischen Konzepte existieren. Eine länderübergreifende politische und ökonomische Aufarbeitung des Krieges ist für einen Versöhnungsprozess in Westafrika unabdingbar. Dazu fehlt jedoch der politische Wille. Viele Menschen haben auf die TRC als einen Prozess gesetzt, der etwas in Gang bringen kann, um den Überlebenden und den Gemeinden zu helfen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und Auseinandersetzungen um Versöhnung und Gerechtigkeit einzuleiten. Das muss auf einer Anerkennung des Leids und der entstandenen Schäden beruhen. Doch für die UN und die Regierung Sierra Leones ist die Kommission offenbar kein Prozess sondern ein Ereignis, das möglichst schnell und kostengünstig durchgeführt werden soll.
 

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Anne Jung ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. medico unterstützt Network Movement for Justice and Development in ihrem Kampf um soziale Gerechtigkeit. siehe: http://www.medico.de