Bundesverfassungsgericht folgt ausuferndem Gewaltbegriff des Bundesgerichtshofs beim Nötigungsparagraphen

Sitzblockadenurteil enttäuschend

von Martin Singe

Am 31.3.2011 titelte die Süddeutsche Zeitung: „Sitzblockaden grundsätzlich erlaubt“. Andere Zeitungen verlautbarten ähnliche Schlagzeilen. Auf den ersten Blick scheint das neue Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Sitzblockaden (1 BvR 388/05) ein Sieg der Friedensbewegung zu sein. Aber auf dem zweiten Blick ist das Urteil sehr enttäuschend!

Die 8-seitige Entscheidung des höchsten Gerichts bezieht sich auf die Sitzblockaden, die die Kampagne der Friedensbewegung „resist the war“ anlässlich des bevorstehenden Irak-Krieges 2002/2003 initiiert hatte. Kurz vor Kriegsbeginn kam es am 15.3.2003 (das Verfassungsgericht datiert die Aktion falsch auf den 15.3.2004) erneut zu einer Blockade vor der US-Airbase Frankfurt. Für die Blockaden am Haupttor erhielten Tausende der Demonstrierenden Ordnungswidrigkeiten-Verfahren. Diejenigen, die an den Nebentoren blockiert hatten, wurden mit Nötigungsverfahren verfolgt, da es dort zu Staus gekommen war, während die Polizei den Verkehr am Haupttor umgeleitet hatte. (Vgl. „Die resist-Prozesse“; Sonderheft des FriedensForums Nr. 3/2005; Beilage)

Im Fall der aktuellen Entscheidung hatte der Beschwerdeführer Verfassungsklage gegen seine Verurteilung durch das Landgericht Frankfurt eingelegt. Das Positive am Beschluss ist immerhin, dass das Demonstrationsrecht selbst in gewisser Weise gestärkt wird. Das Verfassungsgericht weist das Verfahren an das Landgericht zurück, weil dieses das Grundrecht der Versammlungsfreiheit bei der Verwerflichkeitsprüfung nicht hinreichend berücksichtigt habe: Das Landgericht „hat den Versammlungscharakter der Zusammenkunft ... mit verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint“. Beim Nötigungstatbestand § 240 StGB muss erstens der Gewalttatbestand erfüllt sein, zum zweiten muss die Tat als verwerflich gekennzeichnet werden. Das Landgericht habe viele Einzelumstände der Blockade nicht ausreichend gewertet und vor allem das Erregen von Aufmerksamkeit, das zum Kernsinn von Versammlungen gehöre, negativ angerechnet. Auch dürfe der Kommunikationszweck der Aktion nicht erst bei der Strafzumessung, sondern muss bei der Verwerflichkeitsprüfung eine Rolle spielen. Das Argument des Landgerichts, dass die von der Blockade mitbetroffenen US-Soldaten keinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen hätten, lässt das Verfassungsgericht nicht gelten. Vielmehr seien  diese „in die Organisation der kritisierten militärischen Intervention im Irak eingebunden“ gewesen.

Scharf kritisiert werden muss das Urteil aber hinsichtlich der Auslegung des Gewalttatbestandes des Nötigungsparagraphen, den das Verfassungsgericht mit dem Landgericht als verwirklicht ansieht. Obwohl das Verfassungsgericht 1995 selbst dem vergeistigten Gewaltbegriff eine Grenze vorgeschoben hatte (es müsse eine Kraftentfaltung vorliegen; eine psychische Einwirkung auf Andere reiche nicht), folgt es jetzt der sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Diese einem überspannten Juristenhirn entsprungene Rechtskonstruktion behauptet, dass bei einer Sitzblockade zwar der erste Fahrzeugführer psychisch genötigt werde, aber das 2. Auto bereits der Gewalteinwirkung des ersten Fahrzeugs ausgesetzt und somit physisch genötigt sei. Die Blockierenden würden das erste Auto als materielle Blockade nutzen und den ersten Fahrzeugführer so zur mittelbaren Täterschaft zwingen. Sie begingen somit die Straftat durch einen anderen. Der BGH hatte diese Zweite-Reihe-Rechtsprechung 1995 in Anschluss an die Verfassungsgerichtsentscheidung erfunden, um einem Gericht, das aus dem Ruder läuft (also dem Verfassungsgericht) die Grenzen aufzuzeigen – so der Erfinder dieser Rechtskonstruktion, die das einzige Ziel verfolgt, politische Demonstrationen weiterhin kriminalisieren zu können. Es bleibt die politische Forderung: Der unbestimmte Gewaltbegriff und die gummihafte Verwerflichkeitsklausel des Nötigungsparagraphen gehören abgeschafft.

P.S.: Übrigens hatte ein Richter, der seinerzeit nicht wegen Nötigung verurteilte, bei den Prozessen gegen „resist“ vorgeschlagen, man solle sich doch jeweils mit einigen Leuten aus der Hauptblockade lösen und sich vor das 2., und dann vor das 3. Auto setzen usw. – Mal schauen, was den Rechtsverdrehern dann noch einfällt...

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Hintergrund
Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".