Im März 1995 verließ die Operation der Vereinten Nationen in Somalia (UNOSOM) das Land.

Somalia - der mühsame Weg zum Frieden

von Wolfgang Heinrich
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Seitdem hat auch das Interesse der Medien an Somalia deutlich nach­gelassen. Selten erreichen Nachrichten aus Somalia die europäischen Medien, und wenn einmal berichtet wird, dann sind es in der Regel Mel­dungen über Kämpfe zwischen den Milizen der "warlords" oder Über­fälle auf ausländische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. So ist das allgemeine Bild von Somalia geprägt von Begriffen wie Zerstörung, Krieg, Chaos, Anarchie.

Die UNOSOM Operation wird zu Recht als eine im Wesentlichen gescheiterte Operation bezeichnet. Zwar ist es ge­lungen, die Hungerkatastrophe 1992 zu bewältigen, das eigentliche, politische Ziel jedoch, die Etablierung einer neuen Staatsregierung, wurde weit verfehlt. Noch immer ist Somalia ein Land ohne gesamtstaatliche Regierung, ohne eine gesamtstaatliche Verwaltung. Bislang noch nicht beantwortet ist die Frage, inwiefern die Art und Weise, wie die UN Operation in Somalia durchgeführt wurde, die bestehenden internen Kon­flikte verschärft und zu einer Verlänge­rung des anarchischen Zustands beige­tragen hat.

In der Berichterstattung über die UNO­SOM Operation - und auch danach - weitgehend unbemerkt blieb der Aufbau lokaler Verwaltungsstrukturen auf Di­strikt- und Regionalebene. Die Frie­denskonferenz in Addis Abeba 1993, an der auf Intervention von Nichtregie­rungsorganisationen (NRO) neben den "warlords" auch [lteste, Religionsführer, Klanführer, Vertreterinnen von Frauen­gruppen, Künstler und Intellektuelle als Vertreter/innen der Bevölkerungsteile, die sich nicht von den "warlords" ver­treten fühlten, teilnahmen, hatte zum Ergebnis, daß sich alle Fraktionen dar­auf einigten, eine neue, dezentrale Ver­waltungsstruktur aufzubauen. Dieser Beschluß wurde von der Politischen Abteilung von UNOSOM zusammen mit dem Horn von Afrika Programm (HAP) des schwedischen Life and Peace Institute (LPI) umgesetzt.

Seit August 1993 wurden von den Klanführern und lokalen Autoritäten in mehr als 60 Distrikten sogenannte "district councils" etabliert. In einem landesweiten Trainingsprogramm ver­mittelte das LPI/HAP über 1.500 Mit­gliedern der district councils Grundbe­griffe lokaler Verwaltungsarbeit.

Es muß an dieser Stelle darauf hinge­wiesen werden, daß hiermit ein völlig neues Verwaltungsprinzip in Somalia eingeführt wurde. Alle früheren Ver­waltungen waren hoch zentralisiert. Gouverneure und Verwaltungsbeamte in den Regionen und Distrikten erhielten ihre Anweisungen aus Mogadishu, sie waren "Transmissionsriemen" für die Umsetzung von Entscheidungen des politischen Zentrums. Das gesamte Verwaltungssystem wurde zentral fi­nanziert. Jetzt müssen die district coun­cils und die in einigen Regionen einge­richteten "regional councils" selbständig und eigenständig Entscheidungen fällen, Verantwortung übernehmen, das Zu­sammenleben der Menschen vor Ort or­ganisieren, Sicherheit gewährleisten und Frieden sichern und die lokalen Ver­waltungsstrukturen aus eigenen Mitteln finanzieren. Dieses alles unter den Be­dingungen einer völlig zerstörten Wirt­schaft, mit Unmengen interner Flücht­linge, die in einigen Regionen bis zu 60% der Bevölkerung ausmachen, und unter der ständigen Bedrohung der wei­terhin um die Macht in Mogadishu, sprich die Kontrolle der für den Fall der Bildung einer sogenannten Nationalen Regierung, erwarteten internationalen Hilfslieferungen kämpfenden "warlords". Die Ausgangsbedingungen sind denkbar schlecht.

Dennoch ist bislang das nach dem Ab­zug von UNOSOM von zahlreichen Ex­perten vorhergesagte Chaos ist nicht eingetreten. Im größten Teil des Landes ist ein weitgehend kriegsfreier Zustand hergestellt, Sicherheit ist - den Umstän­den entsprechend - gegeben. Vertre­ter/innen internationaler Hilfsorganisa­tionen schätzen, daß noch etwa 20% des Landes durch den Krieg zwischen den "warlords" so unsicher sind, daß dort keine Projekte durchgeführt werden können. Bei der Beurteilung der Lage in Somalia müssen die Ausgangsbedin­gungen beachtet werden.

Im März und April d. J. sprach ich wäh­rend einer mehrwöchigen Reise durch Somalia mit Vertreter/innen von 17 district councils, zahlreichen Frauen­gruppen, [ltesten, Kommandeuren der Polizeieinheiten und Richtern. Insge­samt ergibt sich ein hoffnungsvolles Bild. In den Distrikten und auf lokaler Ebene bemühen sich heute die councils, die Klanführer, die Religionsführer, Älteste und islamische Gerichte ge­meinsam darum, die Rückkehr zu einem normalen Leben zu organisieren. Dieses ist angesichts des ausgeprägten Indivi­dualismus der Somali kein einfaches Unterfangen. Es wird dadurch weiter er­schwert, daß den neu geschaffenen Verwaltungen weitgehend alles, was eine funktionierende Verwaltung aus­macht, fehlt. Es gibt keine Kommunika­tionsstrukturen, kaum Papier, keine Bü­roorganisation, Polizisten arbeiten seit dem Abzug von UNOSOM ohne Gehalt, Gerichte müssen ohne Aktenführung ar­beiten. Trotzdem haben es einige Re­gionen geschafft, ein Besteuerungssy­stem einzuführen und - wenn auch ge­ringe - Steuern zu erheben. In anderen Gegenden werden die Verwaltungen und die Polizei durch private Spenden unterhalten. In zahlreichen lokalen Frie­denskonferenzen bemühen sich lokale Autoritäten darum, Konflikte zwischen benachbarten Klans durch Verhandlun­gen zu lösen.

Der Aufbau lokaler Selbstverwaltungs­strukturen, die in der lokalen Bevölke­rung verankert sind, die traditionellen Autoritäten einbeziehen und der (sozialen) Kontrolle der lokalen Bevöl­kerung unterliegen, sind die Grundlage für Friedens- und Versöhnungsarbeit in Somalia. Hier werden die normalen, alltäglichen Konflikte um Zugang zu Wasser, Weidefläche, Handelsbezie­hungen oder Streitigkeiten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Klans verhandelt und häufig auf gewaltfreie Art gelöst. Die Angehörigen der district councils, mit denen ich im März und April 1996 sprechen konnte, betonten immer wieder, daß die Tatsache, daß die heutigen lokalen Verwaltungen unmit­telbare Verantwortung für das Leben und Überleben der Bevölkerung über­nehmen müssen, ein geändertes Selbstbewußtsein der councils und der lokalen Polizei bewirkt hat. Weiterhin führt die Tatsache, daß die lokale Bevölkerung die Mittel für den Unterhalt der Ver­waltungsstrukturen selbst aufbringen muß, zu einem gewandelten, kooperati­ven Verhältnis zwischen Verwaltung und Bevölkerung.

Diese neue Struktur ist, wie die Vertre­terin von Trocaire betont, noch im em­bryonalen Zustand. "Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, daß viele council Mitglieder keine Vorerfahrung in Verwaltungsarbeit haben, daß sie von Anfang an starke Konflikte zwischen den Klans bewältigen mußten und daß ihnen jede exekutive Kompetenz fehlt." Die Polizei arbeitet in fast allen Di­strikten ohne Bezahlung. "Darum", führt der amtierende Gouverneur der Region Nugal aus, "gibt es auch keine Loyalitätsbeziehung zwischen der Polizei und den district councils. Und trotzdem ar­beiten sie Hand in Hand, denn sie wis­sen, daß sie aufeinander angewiesen sind". Bei meinen Besuchen wurde ich in fast allen Orten aufgefordert "auch unsere Polizei" zu besuchen, eine Ein­stellung, die nicht nur in Afrika selten anzutreffen sein dürfte.

Diese Strukturen sind noch weit davon entfernt, dauerhaft tragfähig zu sein. Ih­nen fehlt in erster Linie "exekutive Kompetenz". Zur Durchsetzung von Be­schlüssen, etwa der Einführung einer Besteuerung, sind sie auf die freiwillige Mitarbeit der Bürger/innen angewiesen. Dieses funktioniert nur in dem Maße, wie die lokalen Verwaltungen "Gegenleistungen" für die erhobenen Steuern, etwa in Form sozialer Dienst­leistungen, erbringen können. Und hier liegt ein großes Problem und Konflikt­potential. Das Steueraufkommen ist zu gering, um notwendige öffentliche Ar­beiten organisieren zu können. "Zum Beispiel die Müllentsorgung in den Städten ist ein Problem. Als council möchten wir eine Müllentsorgungs­aktion organisieren. Aber wir haben keine Mittel für ein food for work Pro­gramm. Ohne Entlohnung können die Menschen so etwas aber nicht machen, denn sie müssen doch irgendwie die Nahrungsmittel für ihre Familien orga­nisieren. Und von den internationalen Organisationen bekommen wir keine Unterstützung." erläutert der Vorsit­zende des Finanzkommittees von Ga­rowe. Diakonia Schweden hat dem district council in Garowe Mittel für ein Projekt zur Ansiedlung von Kriegsver­triebenen zur Verfügung gestellt. "Das Projekt ist sehr gut durchgeführt wor­den" bestätigte Elsie Lundeborg von Diakonia Schweden.

So schwach die lokalen Verwaltungen auch sind, sie sind, so Sigurd Illing, Vertreter der Europäischen Kommission für Somalia, der einzige Ansatz für Entwicklungsförderung. Bis zur Etablie­rung einer "nationalen Regierung" wird es noch sehr lange dauern. Es ist ge­genwärtig nicht ratsam, in "nationale Versöhnungsmaßnahmen" oder "nationale Friedenskonferenzen" zu in­vestieren. Wichtig aber ist es, mit angepassten Maßnahmen die schon bestehen­den lokalen Selbstverwaltungen zu stär­ken und dort, wo noch keine bestehen, zu deren Bildung zu motivieren. Je qua­lifizierter und stärker diese dezentralen, lokal verankerten Selbstverwaltungs­strukturen sind wenn es zur Bildung ei­ner "nationalen Regierung" kommt, de­sto besser sind die Aussichten, das de­zentrale, partizipative Verwaltungssy­stem gegen zentralisierende Bestrebun­gen einer nationalen Regierung zu be­wahren. Nur wenn die lokalen Selbst­verwaltungen entsprechend gestärkt sind, werden sie ihren Anteil an Entscheidungskompetenz gegenüber einer nationalen Regierung aushandeln kön­nen.

Um die lokalen Selbstverwaltungen dauerhaft und tragfähig zu machen, benötigen sie sorgfältig angepasste Un­terstützung von außen. Da die internen wirtschaftlichen Chancen Somalias zurzeit gegen Null gehen, birgt jede Unter­stützung von außen ein sehr hohes Kon­fliktpotential. Es wäre falsch, die noch schwachen, lokalen Verwaltungen mit großen Mittelzuwendungen zu über­frachten. Der von der Europäischen Kommission verfolgte Ansatz, kleinere, lokal begrenzte Maßnahmen über NRO zu fördern und externe NRO zu ermuti­gen, mit den lokalen Autoritäten und Verwaltungen zusammenzuarbeiten, ist erfolgversprechend. Dort, wo NRO die Kooperation mit den lokalen Autoritäten und Verwaltungen gesucht haben, wur­den die Projekte auch in Konfliktsitua­tionen geschützt. Der district council von Gardo hat z.B. dafür gesorgt, daß das von der GTZ vor Monaten verlas­sene Gebäude nicht geplündert wurde, daß alle Projektfahrzeuge der GTZ nach wie vor auf dem Gelände stehen.

Nach dem kläglichen Scheitern der Ver­suche der internationalen Staatenge­meinschaft, die Kriegstreiber in Somalia zur Bildung einer "nationalen Allpar­teien Regierung" zu bewegen, hat in Somalia hat ein Prozess begonnen, der zu dem Aufbau einer neuen staatlichen Verwaltung "von unten" führen kann. Dieses ist ein langer, mühsamer Weg zum Frieden und nicht der "quick fix". Aber es ist die einzige Möglichkeit, zu einer dauerhaften, tragfähigen Lösung zu kommen.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Dr. Wolfgang Heinrich hat als Mitarbeiter europäischer Nichtregierungsorganisationen über 30 Jahre in und zu der Region am Horn von Afrika gearbeitet. Wissenschaftlich befasst er sich seit 1978 vor allem mit Äthiopien und Somalia.