Sonderfall Irak

von Peter Lock
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der Krieg gegen den Irak lenkt davon ab, dass wir uns derzeit in einer Phase der Weltentwicklung befinden, in der Kriege zum Auslaufmodell werden, jedenfalls jene Formen, für die durch das Völkerrecht im letzten Jahrhundert Regeln entwickelt wurden, um sie einzuhegen. Dies nicht etwa, weil ein weltweiter Trend zu weniger gewalttätiger Konfliktaustragung zu beobachten wäre. Die immanente Logik der viel zitierten "neuen Kriege", die als ein Element der Schattenglobalisierung fungieren, spricht für eine Diffusion kriegerischer Gewalt in "regulative Gewalt" zur Steuerung (wirtschafts-)krimineller transnationaler Netzwerke, die als Spiegel des neoliberalen Globalismus sich zur wahrscheinlich dynamischsten Sphäre der globalen Ökonomie entwickelt haben. Im Ergebnis kommt es zu einer Deterritorialisierung der kriegerischen Gewaltlogik und damit zur Auflösung des Erscheinungsbildes Krieg, während gleichzeitig in den weltweit wachsenden Zonen sozialer Apartheid Gewalt das dominante Mittel sozialer und wirtschaftlicher Regulation wird.

Es fällt schwer, der gegenwärtigen amerikanischen Politik ökonomische Interessen einer hegemonialen Gruppe zuzuordnen. Die Widersprüche der aktuellen präventiven Interventionspolitik deuten darauf, dass diese Politik von Überlegungen des innenpolitischen Machterhaltes getrieben wird. Kriege scheinen vorrangig eine manipulative innenpolitische Ressource in den USA zu sein, jedenfalls entbehrt der Irakkrieg einer kohärenten Kapitallogik. Aber die geopolitischen Konstellationen, in denen das amerikanische Heer seine Nützlichkeit für amerikanische Kriege und damit sein Budget langfristig sichern kann, sind dabei, sich rasch aufzulösen - als Folge der globalen Modernisierung. In raschem Tempo nimmt in weiten Teilen der Welt die Elastizität ab, massiven Störungen der wirtschaftlichen Zirkulation zu widerstehen. Es mag zynisch klingen, der Irak war einer der letzten Orte, an denen ein solcher Krieg inszeniert werden konnte. Das embargobedingte Lebensmittelprogramm der Vereinten Nationen hatte die irakische Gesellschaft geradezu ideal auf kriegsbedingte Störungen der zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln vorbereitet. Drei Monate Versorgung waren verfügbar und zum Teil bereits an die Endverbraucher verteilt, als die Kriegshandlungen begannen. Keine andere Gesellschaft in der Dritten Welt verfügt über eine vergleichbar hohe Elastizität des Überlebens bei massiven Störungen der Versorgung.

Urbanisierung und Zerstörung bäuerlicher Lebenswelten macht die Weltgesellschaft störungsanfälliger denn je. Die marginalisierten Massen in den Armutsgürteln der Megastädte der Welt dürften bei einer Unterbrechung ihrer fragilen Versorgungssysteme in kürzester Frist verhungern. Ländliche Fluchträume, in denen die Elastizität kleinbäuerlicher Wirtschaftsweise Überlebensmöglichkeiten bietet, gibt es kaum noch. Sie sind inzwischen weitgehend agrarindustriell strukturiert. Arme leben ein tägliches "just in time", über Reserven verfügen sie nicht. Die Zentren moderner Megastädte brechen bei Störung selbst nur der Stromversorgung als Überlebensraum in wenigen Tagen zusammen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Welt kaum noch über Räume verfügt, in denen eine konventionelle militärische Konfrontation denkbar ist, ohne das Überleben der Zivilbevölkerung als mittelbare Folge von Kampfhandlungen in kurzer Zeit aufs Spiel zu setzen.

Schattenglobalisierung transformiert Kriege
Die Merkmalsausprägungen gegenwärtiger Kriege werden zunehmend diffuser. Beginn und Ende markieren häufig keine wirklichen Zäsuren im Hinblick auf das Gewaltgeschehen. Das Gewaltniveau in einer Gesellschaft ist längst kein hinreichendes Merkmal für Krieg mehr. Das Kampfgeschehen trägt nicht selten erratische Züge. Humanitäre Hilfe als ein niedrigschwelliges Element der Einmischung wird vielfach in das Kriegsgeschehen integriert und die Neutralität der Hilfsorganisationen faktisch bereits als Zugangsvoraussetzung aufgehoben. Zudem gilt, dass sich die ökonomische Grammatik von Kriegen grundlegend gewandelt hat. Ein zentraler Befund neuerer Untersuchungen bewaffneter interner Konflikte lautet, dass kriegerische Gewalt zu erheblichen Teilen mit wirtschaftlichen Interessen erklärt werden kann, ja dass sogar langandauernde Kriege geradezu zu einer eigenständigen Produktionsweise mutieren, in der das kriegerische Geschehen von gewaltunternehmerischen Kalkülen bestimmt wird. Ein weiterer Befund ist, dass diese Kriegsökonomien nur funktionsfähig sind, wenn sie transnational vernetzt sind.

Im Sog neoliberaler Globalisierung verlieren Staaten in weiten Teilen der Welt zunehmend die Fähigkeit, Steuern zu erheben, und damit ihr ökonomisches Fundament. Im meist schleichenden Prozess der daraus folgenden Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols werden die Angehörigen des Staatsapparates zu einer ständigen Bedrohung für große Teile der Zivilgesellschaft, da sie sich ihr Auskommen, und manchmal mehr, unter illegaler Ausnutzung ihres Status beschaffen. Informalisierung und Kriminalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten bestimmen das Leben. An die Stelle einer einheitlichen staatlichen Rechtssphäre treten konkurrierende Identitätsideologien und füllen das Vakuum aus.

Verfolgt man typische kriegsökonomische Transaktionen auf ihrem Weg in die reguläre Ökonomie, so erschließen sich kriminelle Netzwerke, die weltweit agieren und deren Funktionslogik auf Gewalthandlungen bzw. deren glaubwürdiger Androhung beruht. Es ist daher analytisch ertragreich, bei der Untersuchung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse im Zeitalter von neoliberaler Globalisierung und Schattenglobalisierung mit der Kategorie "regulative Gewalt" zu arbeiten, um so besser die Gewaltlogiken entschlüsseln zu können, die für das dynamische Fungieren der Schattenglobalisierung konstitutiv sind. Als regulative Gewalt wird die Androhung und der Einsatz von physischer Gewalt zur Durchsetzung von ungleichen Tauschverhältnissen und Aneignung definiert.

Die Zusammenhänge zwischen den symbiotisch verknüpften Prozessen von Globalisierung und Schattenglobalisierung einerseits und Erscheinungsformen gesellschaftlicher Gewalt andererseits machen es notwendig, Gewalt, die sich unter anderem in Mordraten und Straftaten unter Anwendung von Schusswaffen ausdrückt, auf den Mikroebenen sehr viel genauer, auch international vergleichend zu untersuchen. Es gilt, den Anteil "regulativer Gewalt" an der Gesamtheit der Tötungsdelikte und anderer krimineller Gewalttaten zu bestimmen. Denn in Megastädten des Südens werden jährlich mehr Menschen Opfer von Schusswaffen als in manchen bewaffneten Konflikten, die von der Politikwissenschaft als Kriege registriert werden.

Zur Funktionslogik wirtschaftskrimineller Netzwerke gehört es auch, dass sie die Existenz der regulären Märkte nicht gefährden dürfen, denn nur wenn das Einschleusen in sie gelingt, können diese Netzwerke die Erträge ihres kriminellen Tuns realisieren. Dies macht die angesprochene Symbiose der beiden Globalisierungsprozesse aus, in die letztlich noch der brutalste Warlord irgendwie eingebunden ist. Was als nicht endende Kriege erscheint, ist möglicherweise ein systemisches Merkmal. Warlords oder besser Gewaltunternehmer unterliegen der Logik transnationaler krimineller Netzwerke. Territoriale politische Ziele müssen dieser Logik untergeordnet bleiben. Wir haben es mit einer Diffusion der kriegerischen Gewalt in die transnationalen Operationsräume krimineller Netzwerke zu tun. Sie transformiert sich in "regulative Gewalt". Kriege verlieren damit ihr Schlachtfeld, sie werden entterritorialisiert. Das viel zitierte Konstrukt "neue Kriege" ist dieser Hypothese zufolge nur eine transitorische Erscheinung auf dem Wege der weitgehenden Diffusion kriegerischer Gewalt, die nunmehr als regulative Gewalt fungiert, weitgehend gebunden an die Logik transnationaler wirtschaftskrimineller Netzwerke, die sich im Kontext des neoliberalen Globalismus ausbreiten.

Hier schließt sich der Kreis, denn wegen der Risiken einer modernen Kriegsmaschinerie bei dem Versuch in apokalyptischen sozialen Räumen der Schattenglobalisierung zu agieren, werden Interessen der USA immer stärker offen und verdeckt mit Hilfe von lokalen Gewaltunternehmern z.B. Warlords und indirekt durch den Einsatz privater Militärfirmen durchgesetzt. Dies ist umso leichter möglich, als mit der Formel "Krieg gegen den Terror" perspektivisch eine vollständige Entrechtlichung außenpolitischen Handelns (vgl.: Guantanomo) "legitimiert" wird. Die Undurchsichtigkeit von Gewaltstrukturen wird daher weiter zunehmen. Umso wichtiger ist es, unsere Analyse des Wandels von Krieg und Gewalt weiterzuentwickeln und von liebgewonnenen, aber nicht mehr tragfähigen Erklärungen zu befreien.

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Krisen und Kriege
Peter Lock ist freier Sozialwissenschaftler. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Globalisierung und bewaffnete Gewalt. Weiteres unter www.Peter-Lock.de