Soziale Gerechtigkeit statt "Innere Sicherheit"

von Ullrich Hahn
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Der liberale Staat des 19. Jahrhunderts begründete seine Daseinsberechtigung in der Gewährleistung von Sicherheit für die bürgerliche Gesellschaft, äußere Sicherheit durch militärische Rüstung, innere Sicherheit durch Polizei und Strafjustiz.

Für das Gros der Friedensbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde lediglich die gewaltsame Art der äußeren Sicherheit in Frage gestellt, kaum jemals die "physische Gewaltsamkeit" (Max Weber) auf der Innenseite des Staates.

Die weithin unangefochtene Legitimität staatlicher Gewalt zur Herstellung einer Friedensordnung im Inneren führte wohl auch zu den Vorstellungen einer Weltregierung mit Weltinnenpolitik und dem dann ethisch gebilligten weltweiten Einsatz von Streitkräften als Weltpolizei.

Eine weitergehende Kritik auch an den innerstaatlichen Gewaltmitteln wurde innerhalb der pazifistischen Bewegung nur von den anarchistisch geprägten Gruppen geübt.

Nur auf diesem historischen Hintergrund ist die Abstinenz zu erklären, die innerhalb eines Großteils der Friedensbewegung gegenüber dem Ausbau der mit der Herstellung innerer Sicherheit legitimierten staatlicher Gewaltmittel geübt wurde und wird.

Seit 1968 hat sich hier eine Entwicklung vollzogen, in der die Quantität der gesetzlichen Neuregelung die Qualität der Rechtsordnung grundlegend zu ändern droht.

Aus der kaum noch überschaubaren Vielzahl der Gesetzesänderungen zum Zweck der "inneren Sicherheit" seien genannt:

  •  Die Telefonüberwachung begann 1968 mit der Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses in Art. 10 GG und nahm durch die schrittweise Ausweitung des Katalogs in 100a StPO einen immer größeren Umfang an.

 

  •  Der Einsatz verdeckter Ermittler ist seit 1992 im "Gesetz gegen die organisierte Kriminalität" (OrgKG) in 110a StPO formal geregelt worden, wurde aber schon zuvor praktiziert.

 

  •  Ungeregelt ist weiterhin der Einsatz sogenannter "Vertrauenspersonen", die nicht der Polizei angehören, aber von ihr bezahlt werden, und nicht den Beschränkungen der beamteten verdeckten Ermittler unterliegen.

 

  •  Im Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 wurde mit der Änderung des Gesetzes zu Art. 10 GG die seit 1949 bestehende Grenze zwischen Polizei und Geheimdiensten verwischt, indem nunmehr auch geheimdienstlich ermittelte Erkenntnisse für die Polizei verwertet werden können.

 

  •  Der gleichfalls mit dem OrgKG 1992 zugelassene Einsatz technischer Mittel zur Aufzeichnung des nicht öffentlich gesprochenen Wortes ist am 04.05.1998 durch die Änderung von Art. 13 GG auf den Einsatz in privaten Wohnungen ausgeweitet worden. Schon zuvor hatten einige Bundesländer in ihren Polizeigesetzen solche Eingriffe zu präventiven Zwecken zugelassen.

 

  •  Ebenfalls in den Polizeigesetzen der Länder ist die Möglichkeit verdachtsunabhängiger Personenkontrollen eröffnet worden.

 

  •  Mit den entsprechenden Fortschritten in der Biomedizin wurde 1997 auch die DNA-Analyse im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen zugelassen, 81e StPO; 1998 außerdem die gesetzliche Grundlage für den Aufbau einer DNA-Identifizierungsdatei geschaffen, 81g StPO.

Begünstigt werden diese und weitere polizeiliche und strafprozessuale Eingriffe durch die Beschwörung eines neuen Feindes, der "organisierten Kriminalität" (OK).

Gerade weil diese OK nicht exakt definiert und von der traditionellen Kriminalität abgegrenzt werden kann, eignet sie sich zur Begründung einer Ausdehnung polizeilicher Kompetenzen.

Ihre Zunahme kann behauptet ohne belegt zu werden; gerade die Tatsache, daß bisher so wenige Hintermänner der OK überführt werden konnten, dient als Beweis ihrer Gefährlichkeit und die Notwendigkeit, zu weitergehenden geheimdienstlichen Methoden zu greifen, um den unsichtbaren Feind bekämpfen zu können. Je größer aber die Gefahr der so gezeichneten OK ist, desto eher wird versucht, auch die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in grundrechtlich verbriefte Freiheiten begreiflich zu machen.

Bei der Kritik an dieser Entwicklung geht es weniger um eine Diskussion der vielen einzelnen Gesetze zur "inneren Sicherheit", sondern vielmehr um grundsätzliche Fragen:

Wieviel Sicherheit verträgt die Freiheit?
Das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Ausschaltung der Lebensrisiken, ist in unserer Gesellschaft prinzipiell schrankenlos. Wo der Staat auf dieses Bedürfnis mit dem Versprechen nach Sicherheit antwortet, wird er dieses zwar nicht einlösen können, sich aber zur Befriedigung der Erwartung unbegrenzt Befugnisse verschaffen können.
 

Freiheit beinhaltet notgedrungen Risiken, aber auch Eigenverantwortung, die Ausgangspunkt für alternative Vorstellungen zur "inneren Sicherheit" sein kann.

Auf welcher Seite steht die Strafprozessordnung (StPO)?
In einer freiheitlichen Gesellschaft ist die StPO die magna charta des Verdächtigen und des Schuldigen. Sie setzt den staatlichen Verfolgungsorganen, d. h. der Macht, Grenzen des Rechts. Wird sie zu einem Kriminalitätsbekämpfungsgesetz umgestaltet, behält weder der Schuldige noch der Unschuldige Subjektqualität; sie werden zum Objekt staatlicher Kriminalpolitik.

"So wie wir urteilen, habe ich keine Chance", stand vor kurzem im Abschiedsbrief eines Strafrichters, gegen den wegen des Verdachts des Kindesmißbrauchs ermittelt wurde und der sich das Leben nahm.

Kann es "Waffengleichheit" zwischen Polizei und Straftätern geben?
Alle Ausweitungen heimlicher Ermittlungsmethoden werden damit begründet. Die Bekämpfung von Verbrechen mit verbrecherischen Methoden bedroht aber zuerst den Rechtsstaat, nicht den Verbrecher. Es ist besser, daß Ungerechtigkeiten geschehen, als daß sie auf eine ungerechte Weise behoben werden.

Das klassische polizeiliche Ermittlungsverfahren war konzentriert auf den oder die Verdächtigen und geprägt durch Offenheit des Vorgehens.

Das moderne Ermittlungsverfahren ist demgegenüber heimlich und breit gestreut (flächendeckende Speichelproben, vielfältige Datenabgleiche, Aufzeichnung einer ungeheuren Vielzahl von Telefonaten, um wenige oder gar keine Belege für den vorhandenen Verdacht zu sammeln).

Ob Heimlichkeit effektiver ist, darf bezweifelt werden, ist aber nicht einmal entscheidend: Es geht um ihre Vereinbarkeit mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

Welches Menschenbild ist handlungsleitend für das Streben nach "innerer Sicherheit"?
Ist unsere unterstellte Redlichkeit Geschäftsgrundlage der gesellschaftlichen Organisation oder ist jeder ein verkappter Terrorist, der jederzeit zur Sicherheit aller kontrolliert werden muss?

Selbst wenn die Vision Hobbes` von der Wolfsnatur des Menschen stimmen sollte, wollte ich ihn lieber nicht bis an die Zähne bewaffnen und mit polizeilichen Befugnissen ausstatten. Die Legitimierung staatlicher Amtsträger zur Ausübung von Gewalt setzt doch wohl in der Demokratie ein Vertrauen voraus, das ich umgekehrt als unbewaffneter Bürger auch für mich beanspruchen darf, ohne zunächst meine Unschuld und Ungefährlichkeit beweisen zu müssen.

Alternativen?
Können wir Alternativen zur "inneren Sicherheit" bieten? Zunächst die Gegenfragen: Müssen wir es tun?

Dort wo sich die staatlichen Eingriffsbefugnisse über das notwendige und menschenrechtlich zulässige Maß hinaus entwickelt haben, bedarf es keiner Alternativen, um ihre Streichung zu verlangen.

Darunter fallen z. B. die Geheimdienste, verdeckte Ermittler, Telefon- und Wohnraumüberwachung.
 

Andererseits gibt es sicher ein berechtigtes Grundbedürfnis der Menschen nach Sicherheit - im sozialen Bereich ebenso wie in Bezug auf die Freiheit von Furcht vor Straftaten.

Konzepte von Stadtteilarbeit, gewaltfreies Training zur Stärkung von Zivilcourage, Arbeit an den Ursachen von Kriminalität etc. werden die klassische polizeiliche Aufgabe zur Prävention und zur Aufklärung von Straftaten in absehbarer Zeit nicht ersetzen, wohl aber dazu beitragen, die Eigenverantwortung für die eigene Sicherheit und die der Nachbarn, der Gemeinde... wieder mehr zu erkennen und danach zu leben.
 

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Ullrich Hahn ist Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes, Deutscher Zweig.