Sozialer Un-Frieden

von Kathrin Vogler

Den Deutschen geht es gut. Besser als je zuvor, wenn man den Statistiken und dem Augenschein glauben darf. Die Straßen sind verstopft mit nagelneuen, Chrom glänzenden Limousinen. Computer, Video, DVD und Mobiltelefon gehören in fast jedemHaushalt dazu. Ein oder zwei Auslandsreisen jährlich erscheinen normal. Lifestyle-Illustrierten liegen Prospekte bei, deren Preisangaben eine Normalverdienerin schwindeln lassen.

Den Deutschen geht es schlecht. Im Osten, an der Küste undim Ruhrgebiet stagnieren die Arbeitslosenzahlen im Zweistelligen. Unter den SozialhilfeempfängerInnen stellen Kinder und Jugendliche die größte Gruppe. Über eine Million Kinder in Deutschland leben am Existenzminimum. Lehrerinnen und Sozialarbeiter stellen fest, dass immer mehr Kinder zuhause keine regelmäßigen Mahlzeiten erhalten. Kleiderkammern, Suppenküchen und Tafeln haben Hochkonjunktur, während in den Innenstädten immer mehr Läden leer stehen. Hunderttausende, darunterviele junge Leute, haben mehr Schulden, als sie von ihrem Einkommen abzahlen können.

Die aktuellen Sozial"reformen" der Bundesregierung verschärfen diese Widersprüche noch. Nur an der Oberfläche scheinen sie gerecht. Es ist nämlich ein Unterschied, ob eine Rentnerin mit 500 Euro im Monat als chronisch Kranke 1% ihres Jahreseinkommens für Zuzahlungen aufwenden muss - oder ob einem leitenden Angestellten mit 5000 Euro der gleiche Prozentsatz abgefordert wird. Bei der Rentnerin bedeutet es vielleicht, dass die monatliche Taxifahrt zu den Enkeln ausfallen muss - der Wohlhabende wird sich vielleicht beim nächsten Autokauf nach einem günstigeren Modell umsehen. Auch bei der Kinderbetreuung wird zu Gunsten der gut Verdienenden umverteilt. Die Kommunen bemessen die Beiträge für die Kindergärten nach dem Einkommen der Eltern. Wer viel verdient, zahlt auch viel - kann diese Kosten aber als Berufstätiger ab einer gewissen Höhe von der Steuer absetzen. Diese Möglichkeit haben Menschen mit niedrigerem oder ohne Einkommen nicht. Wer gut verdient, kann auch die Kosten einer Haushaltshilfe steuerlich geltend machen - wieder vorausgesetzt, sie übersteigen eine festgelegte Untergrenze. Normalverdienende, die ihre Putzfrau drei Stunden in der Woche schwarz beschäftigen, wollte der Finanzminister dagegen kriminalisieren.

Krankheit wird zum Pokerspiel: "Kann ich den Husten noch ein paar Tage selbst behandeln, damit ich erst im nächsten Quartal wieder zum Arzt muss?" Viele Leistungen, die früher die Krankenkassen zahlten, muss heute jedeR selbst bezahlen - vom homöopathischen Medikament bis zu Brillengläsern. Auch hier trifft es die Armen stärker, denn Optiker und Zahntechniker berechnen ihre Leistung nicht nach dem Einkommen der Kundschaft.

Die Tendenz lautet: Privatisierung. Nicht nur bei Post und Bahn, Energieversorgung und Abfallwirtschaft, sondern auch und gerade beim Sozialen. Die Kommunen, Kreise und Arbeits"agenturen" sind gehalten, auch soziale Angebote öffentlich auszuschreiben und an den jeweils günstigsten Anbieter zu vergeben. An Stelle gesellschaftlicher Gesamtverantwortung tritt das Outsourcing. An Stelle von Solidarität der wirtschaftlich Starken mit den Schwächeren tritt "Eigenverantwortung" und private Vorsorge. Oberste Maßgabe der Sozialpolitik ist die Entlastung der Arbeitseinkommen von den Sozialaufwendungen. Entlastet werden also vorwiegend die Unternehmer, die künftig weniger Sozialabgaben zu tragen haben, und Beschäftigte mit hohem Einkommen. Also diejenigen, denen es ohnehin gut geht, die auch in der Lage sind, selbst Vorsorge zu leisten. Belastet werden hingegen alle, die schon bislangam Ende des Monats nichts übrig hatten.

Spricht man mit Menschen in festen Erwerbsverhältnissen über den aktuellen Sozialabbau, erlebt man relativ oft, dass manche gar keine Vorstellung davon haben, unter welchen Bedingungen Arme in Deutschland leben und warum sich der arbeitslose Kollege mit Recht vor der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe fürchtet. Der Mythos von der existenzsichernden Sozialhilfe, immer wieder medienwirksam garniert mit Geschichten von "Faulheit und Schmarotzertum" verdeckt die armselige Wirklichkeit, dass die Sozialhilfe schon lange nicht mehr ein Leben in Würde und sozialer Teilhabe ermöglicht und sich deswegen die verschiedenen sozialen Gruppen kaum noch begegnen. So tief gespalten sind die Lebenswelten der "Etablierten" und der "Ausgegrenzten", der "Ins" und "Outs". Im allseitigen Bemühen um die "Neue Mitte" hat insbesondere die SPD die Menschen am Rand einfach abgehakt.

Hinter den Reformen steht ein Menschenbild, dem wir als Friedensbewegung mit allen unseren Möglichkeiten entgegentreten sollten: Der Mensch als sozial isoliertes, mit anderen Menschen um die besseren Lebensbedingungen hemmungslos konkurrierendes Wesen in einem Staat, der seine Aufgabe eher in einer Befriedung von oben durch Druck und Macht sieht als im solidarischen Ausgleich ungerechter Bedingungen. Welche politischen oder weltanschaulichen Ansichten uns im Einzelnen auch leiten mögen, allen ist gemeinsam, dass sie sich die Gesellschaft nur als eine solidarisch und gerecht organisierte auch friedlich vorstellen können. Ob im globalen Maßstab oder vor Ort: Gerechtigkeit und Frieden sind untrennbare Siamesische Zwillinge. Deswegen engagieren sichauch Friedensgruppen für Arbeitsplätze und gegen Sozialabbau.

Hier geht es nicht um abstrakte politische Debatten, sondern auch um unsere ureigenen Interessen. Es kann uns nicht egal sein, wenn der Mitstreiter aus der Friedensgruppe nichtnur seit Jahren keine qualifizierte Stelle findet, sondern nun dafür auch noch staatlich schikaniert wird. Wir müssen uns darum kümmern, wenn die engagierte Studentin nicht mehr zu unseren Treffen kommen kann, weil ihr Studiengebühren drohen, wenn sie zu "langsam" studiert. Und es trifft uns unmittelbar, wenn die Menschen, die Friedensarbeit finanziell fördern, kürzer treten müssen, um Geld für den Zahnarzt oder die Brille zurückzulegen.

Letzten Endes wissen wir ja auch, woher die Mittel für höhere Sozialausgaben kommen können. Wie viele Kindergartenplätze war noch gleich ein Eurofighter?
 

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