Friedensarbeit in der Bundeswehr

"Staatsbürger in Uniform"

von Mark-Aleksi Keller

"Wir geloben, der Bundesrepublik treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Aufgrund unserer persönlichen Gewissensentscheidung sehen wir uns an das Gelöbnis nur gebunden, wenn die Bundesrepublik und ihre Verbündeten keine Atom-, biologische sowie chemische Waffen einsetzen."
Tatort: Immendingen bei Tuttlingen
Tatzeit: 12. 11. 1985
Tatumstände: Öffentliches Gelöbnis und Feierstunde anläßlich des 30-jährigen Bestehens der Bundeswehr.

Tathergang:
Am 1. Oktober 1985 ist es wieder einmal soweit. Viele tausend junge Männer treten ihren Dienst bei der Bundeswehr an. Schon seit 30 Jahren im¬mer vierteljährlich die gleiche Prozedur.
Während die Reservisten laut gröhlend die Kasernen verlassen, beginnen für die Rekruten die ersten Wochen der Grundausbildung: Einkleidung, Einstellungsuntersuchung, Formalausbildung, Unterricht über Rechte und Pflichten des Soldaten, Schießausbildung usw. Der Höhepunkt des ersten Ausbildungsabschnitts steht bevor: Das feierliche Gelöbnis.
Doch dieses Mal gehen 20 Rekruten der 2. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 301 ans Immendingen einen anderen Weg. Sie, von denen viele im Frühjahr '85 noch die Schulbank drückten, lassen sich auch bei der Bundeswehr nicht einlullen. Schriftlich drücken sie die Zweifel und das Unbehagen aus, das auch viele ihrer Kameraden bedrückt, ein Einsatz von Massenvernichtungswaffen im Verteidigungsfall, wie es die NATO-Doktrin der "flexible response" vorsieht, könne das Verteidigen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der weitgehenden oder vollständigen Zerstörung überflüssig machen. Unbelastet von negativen Erfahrungen, den Informationen aus dem Soldatengesetz und ihrem Demokratie- und Grundgesetzverständnis folgend, richten sie ihre Erklärung über den Dienstweg an das Bundesverteidigungsministerium, ihren höchsten Dienstvorgesetzten. Doch ein anderes Rechtsverhältnis schlägt ihnen entgegen. Mit der Ablegung des feierlichen Gelöbnisses "erfülle der Soldat seine gesetzliche Dienstpflicht nach §9, Abs. 2 Soldatengesetz". Das Gelöbnis habe aber nur "deklaratorischen Charakter" und keine "grundlegende Bedeutung". Also nur eine althergebrachte Zeremonie für die Öffentlichkeit. Weiter heißt es, der Soldat zeige mit der Erklärung, daß er die "charakterlichen Voraussetzungen zur Eignung eines Soldaten nicht erfüllt" und er wird damit bis auf Widerruf mit einer Förderungs- und Beförderungssperre belegt. Im Klartext, finanzielle Nachteile in der Größenordnung von ca. 1000 DM (Dabei kann eine Gewissensentscheidung doch nicht einfach so widerrufen werden!)
Nach den langwierigen und psychisch sehr belastenden Einzelgesprächen mit Sicherheitsbeauftragten (MAD), bei denen sie "als Zeugen gegen mutmaßliche Anstifter" (Friedensbewegung, Kommunisten) vernommen werden, zeigen sich viele ernüchtert: "Wir haben nicht gewußt, in welches Wespennest wir treten". Über die politische Wirkung, die inzwischen neben Zeitung, Radio und Fernsehen auch Abgeordnete des Bundestages erreichte, zeigen sich alle überrascht. Zusätzlich wird von einigen befürchtet, durch einen Eintrag in die Akten später Probleme bei der geplanten Beamtenlaufbahn zu bekommen. Sie ziehen verständlicherweise ihre Erklärung zurück und werden natürlich mit der Aufhebung der finanziellen Nachteile belohnt.
Allen wird aber immer bewußter, daß das geflügelte Wort "Bürger in Uniform", das Konzept der "Inneren Führung" und die damit verbundenen Rechte und Pflichten mehr für die Öffentlichkeit gedacht sind als für die betroffenen Soldaten selbst.
Ein Soldat, der ankündigt, im Verteidigungsfall durch sein Verhalten die Bundesrepublik Deutschland vor der unwiederbringlichen Zerstörung zu schützen, wird fast wie ein Deserteur behandelt, sogar schon in "Friedenszeiten".
Nicht anders ergeht es ihrem direkten Vorgesetzten und Kompaniechef Major Carl-Alfred Fechner. Obwohl er sich vor und während des feierlichen Gelöbnisses im Manöver befand, er also keinen Einfluß auf die Rekruten haben konnte, wird ihm vorgeworfen, ursächlichen Anteil und Schuld an den Geschehnissen gehabt zu haben. Nicht zuletzt wegen eines umstrittenen Artikels im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" und seiner Tätigkeit im "Darmstädter Signal" (einer Gruppe von Soldaten, die sich gegen die NATO-Nachrüstung aussprechen), wird er zum 1. Januar 1986 aus offen¬sichtlich "politischen Gründen" von seiner Ehefrau und Kindern weit entfernt für sein letztes Dienstjahr nach Ulm zu einer Schreibtischtätigkeit verdonnert. Zu Unrecht, wie ein Gericht nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr urteilte.
Alle diese Erfahrungen lassen die Betroffenen aber nicht ruhen, auch in Zukunft für ihre Überzeugung einzutreten.
"Friedensarbeit in der Bundeswehr" und nicht nur durch die Bundeswehr setzt voraus, daß die Soldaten, die unter dem Schutz und für den Schutz des Grundgesetzes ihren Dienst verrichten, als mündige "Bürger in Uniform" betrachtet und auch so behandelt wer¬en. Keinem ist gedient, wenn aus einst kritischen Staatsbürgern durch den Wehrdienst willenlose Roboter werden, die den Befehlen ihrer Vorgesetzten kritiklos gehorchen. Die Zeiten sind vorbei, in denen die "Masse" gehorcht, wenn einer oder wenige befehlen.
Gerade zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger ist es notwendig, daß die Soldaten, die im Verteidigungsfall ihr Leben dafür riskieren sollen, auch am demokratisch-politischen Willensbildungsprozeß teilnehmen dürfen.
 

Ausgabe