Osteuropa

Stärkung der Zivilgesellschaft im Osten?

von Björn Kunter

Bei der Frage, ob und wie die Zivilgesellschaft in anderen Ländern und insbesondere in Russland und seiner Nachbarschaft unterstützt, gestärkt oder gar aufgebaut werden sollte, dominieren derzeit zwei entgegengesetzte Erzählungen.

In der Erzählung „Hilfe für die bedrängte Zivilgesellschaft“ wird gesehen, dass die autoritären Regime in Belarus, Azerbaijan, Russland und anderswo die politischen Freiheiten der 1990er Jahre immer weiter zurückschrauben und immer repressiver gegen politische Gegner vorgehen. Die Unterstützung der Opfer ist somit eine Frage der Solidarität, gerade für jene Gruppen, die zum Beispiel aus der Tschernobylsolidarität oder anderen Begegnungen heraus in den letzten Jahrzehnten Kontakte und Freundschaften über die Grenzen aufgebaut haben. In der „Destabilisierungs-Erzählung“ wird die Zivilgesellschaft in diesen Staaten dagegen vor allem als Marionette oder „nützliche Idioten“ gesehen. Deren Wunsch nach politischer Freiheit würde von Fädenziehern und Finanziers ausgenutzt, um sie zur Destabilisierung der herrschenden und Errichtung neuer vom Westen steuerbarer Regime zu nutzen oder zumindest Chaos zu stiften, um die Entstehung politischer Gegenpole zur Weltordnung unter Führung der USA zu verhindern. Nicht überraschend wird diese Sichtweise vor allem von den Regimen selbst verbreitet, doch auch in der deutschen Linken und  Friedensbewegung hat diese Sichtweise überraschend viele AnhängerInnen.

Beiden Erzählungen gemeinsam ist die These der „potenziell mächtigen Zivilgesellschaft“, derzufolge eine Zivilgesellschaft diese Defizite des politischen Systems beheben und notfalls auch Regierungswechsel herbeiführen kann. Doch alle drei Erzählungen haben mehr oder weniger große Mängel.

Bewertung
Für mich ist die Destabilisierungsthese schon deshalb Nonsens, weil sie aus den Versuchen der politischen Steuerung und Einflussnahme durch westliche Regierungen oder wen auch immer schließt, dass diese Einflussnahme tatsächlich funktioniert, während alle Forschungen und meine eigenen Erfahrungen eher das Scheitern dieser Bemühungen belegen. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass, wer sich seine Freunde danach aussucht, dass sie der Feind seines Feindes sind, vor allem sich selber manipulierbar macht und nur schlecht manipulieren kann. Die scheinbaren Strippenzieher werden zur Marionette. Doch auch die Solidaritätsthese kann nicht überzeugen, da sie allein moralisch argumentiert und die tatsächlichen Auswirkungen ausländischer Unterstützung auf die Empfänger und die Empfangsgesellschaften ausblendet oder nur ihre Erfolge wahrnimmt.

In der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) gibt es inzwischen eine breite Literatur zum eigenen Scheitern, die in der Demokratieunterstützung jedoch noch nicht angekommen ist, obwohl letztere erst aus dem Scheitern der Entwicklungshilfe bedeutsam geworden ist. So kommt Demokratieunterstützung in den weltweiten Zielen für nachhaltige Entwicklung auch deshalb eine größere Bedeutung zu, weil die zentrale Bedeutung von schlechter bzw. guter Regierungsführung (good governance) für die Wirksamkeit von EZ inzwischen erkannt wurde. Auch der Anspruch, die Zivilgesellschaft stärker in den Fokus von (Demokratie-)Entwicklung zu nehmen, ist eine Gegenreaktion auf das Scheitern der klassischen Fokussierung der EZ auf die Empfängerregierungen. Kurz: Die Zivilgesellschaft wird gefördert, weil alles andere vorher nicht geklappt hat. Am Bereich der Demokratisierungshilfe für die ehemalige Sowjetunion lässt sich das gut belegen. So wurde darunter Anfang der neunziger Jahre vor allem Unterstützung der Regierungen und staatlichen Verwaltung verstanden. Doch das u.a. von der Bundesregierung durch das TRANSFORM-Programm millionenschwer finanzierte Programm kam schnell in den Ruf, vor allem den westlichen BeraterInnen zu dienen und konnte die Neo-Autorisierung in den Ländern nicht aufhalten. Regierungs- und Verwaltungsberatung findet nach wie vor statt, mit teilweise bizarren Auswüchsen wie der Zusammenarbeit mit belarussischen Polizisten zu Fragen der Kontrolle politischer Demonstrationen und Auswertung von Handydaten. Damit werden jedoch keine konkreten Ziele verknüpft, es geht nur noch darum, 'die (letzten) Gesprächsfäden nicht abreißen zu lassen' und langfristig neue Generationen politischer Eliten irgendwie zu beeinflussen.

Auch der Ansatz der deutschen politischen Stiftungen, politische Parteien oder Institutionen, wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, etc. zu unterstützen, hat an Bedeutung verloren, schon weil ihre Partner zunehmend bedrängt und/oder verboten wurden, bis sie schließlich bedeutungslos oder von den Regimen gesteuert waren. Schon 1996 konnte man so für Belarus konstatieren, dass in Folge der zunehmenden Repression die große Mehrheit der ehemaligen PolitikerInnen inzwischen die Parteien verlassen hatte und stattdessen in zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NROs) „untergekommen“ war. Doch auch das war nur ein Zwischenstadium, wie das Beispiel Belarus zeigt, dessen Weg von einer imperfekten Gewaltenteilung zur präsidialen Alleinherrschaft, oft als Blaupause für die nachholende Autokratisierung in Russland und anderen Regimen in der Region gesehen wird, bis auch dieser Bereich durch administrative Drangsalierung und nötigenfalls offene Repression unter die Kontrolle der Regierung gebracht wurde. Heute lässt sich die offizielle Zivilgesellschaft in Belarus und den meisten Staaten der Region daher beschreiben als eine große Mehrheit unauffällig arbeitender „unpolitischer“ Organisationen, die sich vor allem um soziale Fragen, Sport und Kulturelles, teilweise auch Umweltbelange kümmert, und einer immer kleiner werdenden Minderheit 'politischer' Organisationen, die Menschenrechtsfragen oder andere  'politisierte' Themen anfassen, deren Strukturen und Personen zunehmender Repression ausgesetzt sind und die vielmals nur noch aus dem Exil agieren können.

Die auswärtigen FörderInnen haben diese Entwicklung nicht gesteuert, sondern sich den schrumpfenden Möglichkeiten angepasst und den Anteil ihrer Unterstützung für die Zivilgesellschaft massiv gesteigert. Es gibt jedoch nur wenig Gründe dafür anzunehmen, dass zivilgesellschaftlichen Gruppen per se besser und verantwortungsvoller mit Hilfe umgehen und die negativen Wirkungen gutgemeinter Hilfe (Do No Harm) besser vermeiden könnten. Dabei geht der überwiegende Teil der Mittel an die unpolitischen Organisationen und nur ein Bruchteil im Sinne der Solidaritätserzählung an unterdrückte politischen Gruppierungen, die zudem in allen Ländern ein Nischendasein fristen, kaum politischen Einfluss auf die Bevölkerung haben und über die Solidaritätshilfe nur noch am Leben erhalten werden, nachdem ihre Regierungen ihnen die inländische Finanzierung unmöglich gemacht haben.

Die Bilanz beider Förderwege für die Demokratieentwicklung ist gemischt. Die politische Förderung hat über das 'Überleben der lokalen Partner' hinaus kaum Erfolge aufzuweisen und hat teilweise sogar zur Marginalisierung der Opposition und politisierten Zivilgesellschaft beigetragen. Über die Förderung der unpolitischen Sektoren der Zivilgesellschaft ist es dagegen gelungen, teilweise Dialoge und Kooperationen auf Augenhöhe zwischen staatlichen Verwaltungsstellen und organisierten Bevölkerungsgruppen aufzubauen. Hierdurch ist auch der Einfluss abhängiger Bevölkerungsgruppen, wie z.B. von Menschen mit Behinderungen, auf ihre Lebenssituation gestiegen. Doch eine nachhaltige Demokratisierung der Verwaltungen ist nicht zu erkennen. Der Einfluss der NROs und Selbsthilfegruppen beschränkt sich darauf, gute Vorschläge zu machen, und die Verwaltungen entscheiden dann, was sie umsetzen wollen. Organisationen oder NRO-Verbände, die mächtig genug wären, BürgerInneninteressen auch durchzusetzen, gibt es in keinem Land der Region – auch nicht in der Ukraine, in der die Spielräume für NROs schon immer größer waren, weil es keiner politischen Gruppe gelungen war, die Macht in einer Hand zu zentralisieren.

Kann Zivilgesellschaft eine Demokratisierung herbeiführen?
Daher ist es notwendig, auch die Annahme, dass die organisierte Zivilgesellschaft so mächtig sei, dass sie eine Demokratisierung herbeiführen (oder zumindest Regime stürzen) könne, zu hinterfragen. Am deutlichsten wird das bei der Betrachtung des Euromaidan in der Ukraine 2013/2014, der sich dadurch auszeichnete, dass er überwiegend von unorganisierten Gruppen getragen wurde, und bei dem es keiner Partei oder Organisation gelang, die Steuerung der Proteste zu übernehmen. Gerade die klassische organisierte und registrierte Zivilgesellschaft als Empfängerin ausländischer Hilfe wurde durch die Ereignisse vollkommen überrollt. Wer Hilfe aus dem Ausland bekam, war in der Regel nicht auf dem Maidan, sondern mit der Abrechnung alter und Beantragung neuer Projekte ausgelastet. Entsprechend ließen auch die westlichen Regierungen die Zivilgesellschaft links liegen und versuchten den Euromaidan stattdessen über die klassischen Akteure aus den Oppositionsparteien zu beeinflussen – mit mäßigem Erfolg.

Anstelle der Mythen braucht es daher eine realistische und nüchterne Betrachtung der tatsächlichen Spielräume zivilgesellschaftlicher Gruppen und Organisationen in den 'struggling democracies' (Ukraine, Georgien etc.) und neoautoritären Regimen Osteuropas. Dazu gehört vor allem auch ein 'sich Einlassen' auf die lokalen Partner, sorgfältiges und auch kritisches Zuhören und die Bereitschaft, mit diesen 'in guten wie in schlechten Zeiten' zusammen zu wachsen. In Osteuropa können wir dazu – im Gegensatz zu Libyen und selbst Syrien – bereits auf ein Netz bestehender Initiativen und Partnerschaften aufbauen. Hierdurch haben auch Gruppen aus der deutschen Friedensbewegung Möglichkeiten, schnelle und zuverlässige Kontakte und Beziehungen zu Menschen in der Ukraine und Russland aufzunehmen und darüber ihren Teil zum besseren Verständnis und letztlich auch Frieden in der Region beizutragen.

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Björn Kunter ist seit zwanzig Jahren in der zivilgesellschaftlichen Friedensarbeit und Demokratieförderung in Belarus, Russland und der Ukraine tätig. In 2014 koordinierte er ein durch die oben genannten Sondermittel finanziertes Projekt der KURVE Wustrow.