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Asyl
Streit um Drittstaaten
von
Vier Tage lang verhandelte das Bundesverfassungsgericht Ende November und Anfang Dezember über das neue Asylrecht in Deutschland. Die Schwächen der Grundgesetzänderung wurden deutlich. Ob das aber ausreicht, das Gesetz entscheidend zu ändern, ist offen.
Hamda al-'Ubaidi* wurde bedroht und unter Druck gesetzt. Sie sollte Arbeitskollegen bespitzeln und Berichte für den Geheimdienst schreiben. Die Irakerin, heute eine der beschwerdeführenden Asylberwerberinnen vor dem Bundesverfassungsgericht, weigerte sich. Ihre Familie, syrisch-orthodoxe Christen, war massiver Verfolgung ausgesetzt. Vor ihren Augen haben Mitglieder der regierenden Baath-Partei ihre Eltern zusammengeschlagen. Sie starben später an den Folgen der Verletzungen. Einer der Männer, der sie zur Spitzeltätigkeit bewegen wollte, verwickelte Hamda al-'Ubaidi in einen Verkehrsunfall, bei dem sie verletzt wurde. Die Irakerin entschloss sich zur Flucht: Helfer brachten sie über die Türkei nach Griechenland und setzten sie in Athen in ein Flugzeug nach Frankfurt am Main. Es war der "falsche" Fluchtweg.
Ihre politische Verfolgung kam bisher noch gar nicht zur Sprache. Sie muß erst einmal dafür kämpfen, ihre Fluchtgründe überhaupt irgendwo vortragen zu dürfen. Da Griechenland nach deutschem Recht ein "sicherer" Drittstaat ist, wollen die hiesigen Behörden ihren Asylantrag nicht annehmen. Griechenland öffnet wiederum nur denjenigen einen Zugang zum Asylverfahren, die direkt aus dem Verfolgerstaat eingereist sind. Von Athen aus würde die Irakerin - immer noch ohne Asylverfahren - vermutlich in die Türkei abgeschoben werden. Die Türkei gewährt aber nur Flüchtlingen aus europäischen Staaten Schutz. Schnell könnte die Klägerin deshalb wieder im Irak landen. Die drohende Kettenabschiebung vor Augen, rief ihr Rechtsanwalt das Bundesverfassungsgericht an. Ihr Fall ist einer von fünf, der zur Überprüfung des neuen Asylrechts durch die Karlsruher Richter führte.
Ursprünglich waren zwei Tage für die mündliche Anhörung angesetzt. Doch als die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, am 5. Dezember 1995 um 18.50 Uhr die mündliche Verhandlung schloss, waren vier Verhandlungstage vorbei. Es war die erste mündliche Verhandlung in Karlsruhe zum Asylrecht überhaupt. Andere wichtige Entscheidungen zur Auslegung des Grundrechts auf Asyl, wie etwa die "Tamilen-Entscheidung" aus dem Jahre 1989 zur Frage der Abgrenzung politischer Verfolgung von der Verfolgung im Bürgerkrieg, sind im schriftlichen Verfahren ergangen.
Im Vorfeld hatten Bundesinnenminister Manfred Kanther und andere Politiker der Regierungsparteien die Richter gewarnt, das Asylrecht ganz oder in einigen Punkten für verfassungswidrig zu erklären: Auch das Herausbrechen einzelner Teile würde das Gesamtwerk zusammenbrechen lassen. Anlass für die teilweise heftigen Angriffe hatte vor allem die Interview-Äußerung von Gerichtspräsidentin Limbach gegeben, Teile des neuen Asylrechts seien "mit heißer Nadel gestrickt" worden.
Neben Kanther - er war an allen vier Verhandlungstagen anwesend - war die Bundesregierung durch Staatssekretär Schelter und weitere hohe Beamte des Innenministeriums vertreten. Außerdem waren dort Beamte des Auswärtigen Amtes, des Justizministeriums, des Bundesgrenzschutzes sowie der Präsident und einige leitende Mitarbeiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Bevollmächtigter der Bundesregierung war Kay Hailbronner, Professor für Völkerrecht an der Universität Konstanz. Bundestagsabgeordnete, die das neue Recht 1993 beschlossen hatten, waren nur wenige und nur am ersten Tag vertreten.
Schwerpunkt der Verhandlung war die sogenannte Drittstaatenregelung. Bei der Einreise über einen "sicheren" Drittstaat wird Flüchtlingen der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt. Als "sichere" Drittstaaten gelten alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen, Polen, die Schweiz und die Tschechische Republik. Nach der Definition des Grundgesetzes sind Drittstaaten Länder, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist. Der Zugang zum Asylverfahren kann nach diesem Konzept auch dann nicht erreicht werden, wenn die Asylsuchenden geltend machen, daß der "sichere" Drittstaat für sie wegen drohender Kettenabschiebung bis ins Verfolgerland nicht sicher sei.
Bei der Verhandlung betonte die Bundesregierung, daß alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union und auch die anderen "sicheren" Drittstaaten Rechtsstaaten seien, und es keine Fälle gebe, die darauf hindeuteten, daß diese Konventionen nicht beachtet würden. Dabei berücksichtigt wurde aber lediglich das Verbot der Zurückweisung, Ausweisung, Abschiebung und Auslieferung von Flüchtlingen nach Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Regierung verneint, daß nach völkerrechtlichen Grundsätzen ein Verfahren stattfinden und daß sich dies an bestimmten Mindeststandards ausrichten müsse. Die Empfehlungen des Exekutivkomitees des Hohen Flüchtlingskommissars würden in der Staatenpraxis nicht als bindend anerkannt.
Leider erhielt das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), das ebenso wie amnesty international als Sachverständige geladen war, nicht die Gelegenheit, sofort zu antworten. Erst einen Tag später konnten Judith Kumin vom UNHCR und Reinhard Marx von amnesty international die Bedeutung der Beschlüsse des Exekutivkomitees des UNHCR und anderer anerkannter Standards des internationalen Flüchtlingsrechts für den Schutz von Flüchtlingen darstellen.
Der Berner Völkerrechtler Walter Kälin erläuterte, daß es zwar in vielen Staaten eine Drittstaatenregelung gebe, aber nur in Finnland und Deutschland beim Vorbringen ernsthafter Gründe nicht die Möglichkeit gegeben sei, die Vermutung der "Sicherheit" im Drittstaat für den Einzelfall überprüfen zu lassen. Kay Hailbronner versuchte, das zu widerlegen. Er behauptete, daß die Niederlande keine Überprüfungsmöglichkeit böten. Das konnten Kälin und später auch die Rechtsanwälte der Beschwerdeführer mit Hilfe von Dokumenten, unter anderem einer Auskunft des Asylgerichts in Den Haag, widerlegen.
Hailbronner wies zudem die von den Anwälten geschilderten Einzelfälle, in denen es zu Rückschiebungen aus dem "sicheren" Drittstaat ohne ein faires und umfassendes Asylverfahren gekommen war, als "Literaturprobleme" zurück. Am letzten Verhandlungstag mußte der Rechtsvertreter der Bundesregierung aber einräumen, daß es bei "Koordinationsmängeln" in der Praxis doch dazu kommen könne. Dann würde aber schon eine Lösung gefunden werden. Auf welcher Grundlage eine solche Maßnahme erfolgen könnte, konnte der Völkerrechtler allerdings nicht erklären. Vollends in die Defensive geriet er, als Richter Böckenförde mitteilte, daß der Fall einer Iranerin beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist, die über die Tschechische Republik in die Bundesrepublik eingereist war und wegen der Drittstaatenregelung in die Tschechische Republik abgeschoben wurde. Dort hatte sie wegen der Versäumnis der 48-Stunden-Frist nach der ersten Einreise keinen Asylantrag mehr stellen können und wurde von den tschechischen Behörden zur Ausreise innerhalb von fünf Tagen aufgefordert - andernfalls würde sie in den Iran abgeschoben. Sie kam dann wieder in die Bundesrepublik und sollte vom Bundesgrenzschutz erneut in die Tschechische Republik abgeschoben werden. Erst auf Intervention des Bundesverfassungsgerichts habe der Bundesgrenzschutz von der Abschiebung Abstand genommen. Zur Rechtslage und Praxis in den "sicheren" Drittstaaten Österreich und Griechenland wiesen Vertreterinnen von UNHCR und amnesty international auf erhebliche Defizite im Asylverfahren beider Länder hin, die im Widerspruch zum internationalen Flüchtlingsrecht stehen.
Eindringlich schilderte der stellvertretende Leiter des Frankfurter Flughafen-Sozialdienstes, Clemens Niekrawitz, am dritten Verhandlungstag die Situation im "Flughafenverfahren". Der Rechtsschutz für Asylsuchende in diesem Schnellverfahren besteht nur noch, weil der Flughafen-Sozialdienst als private Initiative in Zusammenarbeit mit einigen Juristen dafür sorgt, daß die Asylsuchenden in ihrem Verfahren von versierten Anwälten vertreten werden. Der Bundesgrenzschutz räumte ein, daß er auf dem Frankfurter Flughafen eine Liste aller im Gerichtsbezirk Frankfurt/Main zugelassenen Anwälte vorlegt, ohne daß erkennbar ist, welcher Anwalt auf Asylverfahren spezialisiert und willens ist, ein Mandat in einem solchen Verfahren zu übernehmen. Pikanterie am Rande: Als wenige Tage vor der Verhandlung drei Verfassungsrichter den Frankfurter Flughafen besuchten, war die Liste des Bundesgrenzschutzes nicht auffindbar.
Als der Vertreter des Bundesgrenzschutzes angab, alle Entscheidungen des Bundesamtes würden den Asylantragstellern in vollem Umfang übersetzt, löste das Erstaunen aus. Nachdem die Vereidigung des BGS-Vertreters beantragt worden war, räumte dieser in einer Zusatzerklärung ein, daß dies nicht für alle Fälle gesagt werden könne.
Am letzten Tag der mündlichen Verhandlung stand das Konzept "sicherer" Herkunftsländer auf dem Programm. Kritik hatte sich an der Aufnahme Ghanas auf die entsprechende Liste entzündet. Die Vertreterin des UNHCR erklärte, daß ihre Organisation zu Ghana nicht arbeite, aber aufgrund allgemeiner Erkenntnisse keine Bedenken gegen die Einstufung Ghanas als "sicheres" Herkunftsland bestünden. Katja Krikowski-Martin von amnesty international schilderte anhand der vom Gericht vorgelegten Fragen zur Menschenrechtssituation in Ghana seit 1983 die Entwicklung nach Inkrafttreten der neuen Verfassung und nach Beginn des Demokratisierungsprozesses. Als sie die Vollstreckung von zwölf Todesurteilen im Jahre 1993 und die Verhängung der Todesstrafe 1995 dokumentierte, widersprach sie damit den Angaben des Auswärtigen Amtes. Das hatte in seinen Lageberichten dargestellt, daß es seit Ende der 80er Jahre in Ghana nicht mehr zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe gekommen sei. Während die Vertreterin von amnesty international auf Nachfrage des Gerichts ihre Aussage bestätigte und detaillierte Angaben dazu machen konnte, mußte der Vertreter des Auswärtigen Amtes einräumen, daß die bisherigen Lageberichte hinsichtlich der Todesstrafe nicht zutreffend gewesen seien. Erst in einem Nachtrag vom November 1995 zum Start der Verhandlung in Karlsruhe hat das Auswärtige Amt seinen Bericht korrigiert. Während somit ein negatives Bild über die Verlässlichkeit der Auskünfte des Auswärtigen Amtes entstand, konnte sich amnesty international als eine verlässliche Quelle zur Menschenrechtssituation in den Herkunftsländern präsentieren. Vorher hatte die Bundesregierung geschildert, daß es bei der Einschätzung von "sicheren" Herkunftsländern auch die Jahresberichte von amnesty international berücksichtige.
Für die Bundesregierung bezweifelte ihr Rechtsvertreter Hailbronner aber, daß die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe überhaupt von Bedeutung für die Qualifizierung eines Herkunftslandes als "sicher" sei. Die Todesstrafe sei nicht als unmenschliche und erniedrigende Bestrafung und Behandlung im Sinne von Artikel 16a Absatz 3 Grundgesetz zu verstehen, da sie international nicht geächtet sei. Auf Einwand der Richter mußte er allerdings einräumen, daß die Todesstrafe auf europäischer Ebene durch das 6. Fakultativprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention geächtet ist. Die Formulierung "unmenschliche Bestrafung und Behandlung" im Grundgesetz ist aus dieser Konvention übernommen.
In seinem Abschlussplädoyer wiederholte Minister Kanther, das neue Asylrecht stehe im Einklang zum nationalen Verfassungsrecht und zu den völkerrechtlichen Grundsätzen und habe als handhabbares Recht Vorbildcharakter für Europa. Die Rechtsanwälte der Gegenseite listeten noch einmal die im Verfahren deutlich gewordenen Mängel des Asylrechts auf und appellierten an das Gericht, zugunsten des Rechtsschutzes von Flüchtlingen zu entscheiden.
Die Entscheidung der Karlsruher Richter wird im Frühjahr 1996 erwartet. Es ist damit zu rechnen, daß das Verfassungsgericht einige Nachbesserungen beim Flughafenverfahren verlangen wird. Es wird sich auch ernsthaft mit der Frage befassen, ob Ghana zu Recht auf die Liste "sicherer" Herkunftsländer gekommen ist. Beim Konzept "sicherer" Drittstaaten könnte das Gericht dem einzelnen Asylsuchenden die Möglichkeit einräumen, im Einzelfall die Vermutung der Sicherheit im Drittstaat in einem begrenzten Verfahren zu widerlegen. Aber in diesem umstrittensten Punkt sind die Verfassungsrichter allem Anschein nicht einer Meinung.
(* Name geändert) Dieser Artikel ist zuerst in "ai-Journal" 1/96 erschien.