Plädoyer für eine Kultur des Friedens

Strukturelle Nichtverteidigbarkeit

von Rolf Bader
Schwerpunkt
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Wer vor einem Krieg abschrecken will, muss ihn kämpfen können, lautet die gültige Maxime der militärischen Sicherheitspolitik. Nach dieser Auffassung kann Kriegsverhinderung nur funktionieren, wenn neben der permanenten Drohung mit Massenvernichtungswaffen auch die Fähigkeit und Entschlossenheit glaubhaft dokumentiert werden kann, einen möglichen Verteidigungskrieg erfolgreich zu führen. Landesverteidigung ist aber nur dann sinnvoll und gegenüber der eigenen Bevölkerung zu verantworten, wenn das, was verteidigt werden soll, nicht zerstört wird.

Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung. Das ist völkerrechtswidrig. Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor", so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede kurz nach dem russischen Angriff im Februar 2022. In der Folge entschied der Deutsche Bundestag die Freigabe eines „Sondervermögens" von 100 Milliarden Euro für Rüstungsbeschaffungen, die die Bundeswehr für die Landesverteidigung dringend benötige. Auch eine Erhöhung des Militärhaushalts in den kommenden Jahren auf mindestens 2% des Bruttosozialprodukts wird angestrebt. Auch in den anderen NATO-Staaten erfolgt eine massive Erhöhung der Rüstungsausgaben, um die eigenen Streitkräfte zu „ertüchtigen".

Die heutige Sicherheitspolitik mit ihrem Fokus auf Landesverteidigung kann sich nicht nur auf die Position der Kriegsverhinderung durch Abschreckung zurückziehen. Vielmehr muss sie auch die Frage nach dem Überleben einer Gesellschaft im „Verteidigungsfall“ überzeugend beantworten können. Wenn sich zweifelsfrei nachweisen ließe, dass der Fortbestand des Lebens durch die Anwendung militärischer Gewalt gefährdet ist, wäre der Auftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung ein existentielles Risiko für das Überleben der Menschen in Deutschland.

Der Mythos militärischer Verteidigung
Die gültige NATO-Strategie schließt den möglichen Einsatz von Atomwaffen nicht aus. Sie geht davon aus, wenn militärisch geboten, mit einem begrenzten, kontrollierten Ersteinsatz taktischer Atomwaffen eine rasche Kriegsbeendigung erreichen zu können. Ein eskalierender großflächiger Einsatz von Atomwaffen, dies bedarf keiner weiteren Darlegung, würde das Leben in Europa auslöschen. Ein konventioneller Verteidigungskrieg aber scheint nach Überzeugung hochrangiger Militärs und Fachpolitiker*innen mit kalkulierbarem Risiko führbar, zumal nur begrenzte Kollateralschäden durch den Einsatz konventioneller Waffen entstünden. Die Zerstörungswirkung wird verharmlost, um ein entsprechendes Kriegsbild mit noch tragbaren Opfern aufrecht erhalten zu können.
Was aber bedeutet ein Verteidigungsfall/-krieg für die Menschen in Deutschland und in Europa? Mit wie vielen Toten, verletzten und traumatisierten Menschen, mit welchen Zerstörungen der lebenswichtigen Infrastruktur kalkulieren die Militärs der Bundeswehr und der NATO? Ist der politischen Führung, Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock, den Verantwortlichen das Szenario eines Verteidigungskrieges bekannt und sind sie bereit und willens, die Folgen eines Krieges der Bevölkerung deutlich zu machen? Wo werden im Falle eines Versagens der Abschreckung konventionelle Waffen zum Einsatz kommen? Ein Schlachtfeldszenario wie im Ersten Weltkrieg ist völlig unrealistisch, da sich ein Krieg nicht mehr regional begrenzen lässt. Wie sollen Ballungszentren, das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden? Wie sehen realistische Evakuierungspläne von Millionen Menschen aus? Wie viele Millionen flüchtende Menschen werden einkalkuliert?  Ist eine medizinische Versorgung von Hunderttausenden verletzter Soldat*innen und Zivilist*innen überhaupt realisierbar? „Landesverteidigung“ ist semantisch positiv besetzt, verharmlost aber das, was es ist: Krieg! An der Grenze zwischen den NATO-Staaten und Russland stehen sich hochgerüstete Streitkräfte von Heer, Luftwaffe und Marine gegenüber. Waffenarsenale aller Art – konventionell wie atomar bestückt ¬ könnten bei einem Versagen der Abschreckung im Verteidigungsfall in Europa eingesetzt werden. Beide Seiten besitzen annähernd jeweils 6000 Atomwaffen, die als Gefechtsfeldwaffen mit niedriger Sprengkraft (ca. 0,3 KT), als taktische Atomwaffen mit bis zu 130 KT bis hin zu strategischen Interkontinentalraketen mit bis zu 3 MEGA-Tonnen einsetzbar wären. Käme nur ein begrenzter Teil der Atomwaffen zum Einsatz, wäre alles Leben in Europa sehr wahrscheinlich ausgelöscht. Grundlegend verändert haben sich in den letzten drei Jahrzehnten alle Parameter der konventionellen Waffentechnik: vor allem durch die Steigerung der Reichweite, der Durchschlagskraft und Zerstörungswirkung im Zielbereich. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Vernichtungswirkung konventioneller Waffen auf einer immer größeren Fläche. Die Schäden, die durch den massenhaften Einsatz dieser Flächenwaffen hervorgerufen werden, töten und verletzen nicht nur Soldat*innen auf dem Gefechtsfeld, sondern auch die betroffene Zivilbevölkerung. Die Kriegsstatistiken belegen, dass der Anteil der zivilen Kriegsopfer seit Beginn des letzten Jahrhunderts stetig angestiegen ist. Von den ca. 10 Millionen Toten des Ersten Weltkriegs waren 75 % Militärtote, von den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs 52 %, von den 10 Millionen Toten des Koreakrieges nur noch 16 % und im Vietnamkrieg von 13 Millionen gerade noch 10 %. In den konventionellen Kriegen wird das Sterben zunehmend vergesellschaftet. Die Unterscheidung zwischen Kombattant*in und zu schützender Zivilperson trägt nicht mehr.

Existentielle Verwundbarkeit moderner Industriestaaten
Hochindustrialisiert und extrem verwundbar, so lauten die kennzeichnenden Attribute der heutigen Zivilisation in Europa. Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa. Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist. Die Interoperabilität fast aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems. Die Gefahren durch Cyberangriffe auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen einer Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik sind allgegenwärtig. Hacker-Angriffe auf die EDV-Systeme des Deutschen Bundestages, Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich. Eine Unterbrechung des Kühlsystems von Atomkraftwerken – trotz redundanter Absicherung – wäre ein Super-GAU-Szenario mit unabsehbaren Folgen. Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hochentwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und „intelligenten“ Waffenträgern – niedrig fliegenden, gelenkten Drohnen, Raketensystemen – ausgeschaltet werden kann. Ohne diese Infrastruktur sind Industriestaaten handlungsunfähig. Allein ein längerer Stromausfall würde die gesamte Infrastruktur lahmlegen und alle wichtigen Lebens- und Arbeitsbereiche einer Gesellschaft empfindlich beeinträchtigen. Um aber die wichtigsten und großen Elektrizitätswerke und die Schaltzentralen zu zerstören, bedarf es keiner Atomwaffen. Es reichen „chirurgische“ Einsätze mit zielgenauen konventionellen Waffen. Nicht nur den wichtigen Industrieanlagen, auch den lebenswichtigen Bereichen der Trinkwasser-, Fernwärme- und Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung droht der Kollaps. Eine Zivilisation ohne Strom bedeutet Chaos und Desorganisation des gesellschaftlichen Lebens. Es reicht völlig aus, nur die lebenswichtigen Nervenzellen der Zivilisation zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps eines Staates herbeizuführen. Schon in Friedenszeiten sind die potentiellen Risiken hochindustrialisierter Staaten allgegenwärtig: Vor allem in der Nähe von Großstädten und Ballungszentren sind Industriekomplexe angesiedelt, die bei technischen Unfällen das Leben vieler Menschen gefährden können. Die Katastrophen von Seveso, Bophal, Tschernobyl und Fukushima sind ein Indiz für die Gefährlichkeit, die von Großtechnologien ausgehen kann. Industriekatastrophen dieser Art kennen weder nationale Grenzen noch soziale Schranken. Sie kennen nicht einmal zeitliche Grenzen und können Generationen von Menschen treffen. Die Irreversibilität der erzeugten Folgen ist ein wesentliches Novum. Besonders die Atomenergie und die chemische Industrie zählen zu diesen Großtechnologien. Die geographische Betrachtung der industriellen Struktur Europas zeigt, welches Ausmaß die Ansiedelung chemischer Industrieanlagen vorrangig am Rand oder in der Nähe dicht besiedelter Gebiete erreicht hat. In solchen Industrieregionen der Chemie werden heute nichtmilitärische Giftstoffe als Vor-, Zwischen- oder Finalprodukte in Tonnagen hergestellt, weiterverarbeitet, gelagert und transportiert. Die Beherrschbarkeit der von der chemischen Industrie ausgehenden Risiken ist nur unter Friedensbedingungen realisierbar.  Schon 1990 dokumentierte der Chemiker und Toxikologe Prof. Karl-Heinz Lohs am Beispiel der Stoffe Chlor, Phosgen und Zyanwasserstoff, dass durch eine Zerstörung chemischer Großanlagen aus einem „EUROCHEMICA ein EUROSHIMA" entstünde. Die Produktionskapazitäten lagen schon damals für Chlor bei 25 Millionen Tonnen, für Phosgen bei 1,5 Millionen Tonnen und für Zyanwasserstoff bei 600 000 bis 700 000 Tonnen im Jahr. Ein weiteres Risiko sind die ca. 70 Atomkraftwerke mit über 160 Reaktorblöcken in 13 Staaten der Europäischen Union. Obwohl immer wieder behauptet wird, der Schutzmantel der Reaktorblöcke wäre auch bei einer direkten Einwirkung konventioneller Waffen noch intakt, sind Zweifel angebracht. Es ist eher davon auszugehen, dass mit einer Beschädigung zu rechnen ist. Die Gefahr einer Kernschmelze besteht im Kriegsfall auch schon bei einem längeren Ausfall der Stromversorgung und der Kühlung der Reaktoren. Wenn in einem Kriegsfall nur 5% der existenten Reaktorblöcke zerstört würden, hätte dies eine großflächige radioaktive Verseuchung des gesamten europäischen Kontinents zur Folge. Die Analyse ließe sich mit etwa gleichen Resultaten auf alle wichtigen Lebensbereiche ausdehnen. Denn auch in der Versorgungs- und Wasserwirtschaft, im Transport-, Kommunikations- und Informationsbereich, im Gesundheitswesen, im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich einer Gesellschaft wären bei einem konventionellen Krieg existentielle Störungen zu erwarten.
Ist die Störanfälligkeit und existentielle Verwundbarkeit hochindustrialisierter Staaten grundsätzlich revidierbar? Gibt es realistische Szenarien und Maßnahmen, diesen Zustand durch eine Reduzierung der Gefahrenpotentiale, durch technische Maßnahmen oder durch einen verstärkten, verbesserten Zivilschutz aufzuheben? Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik gibt es sicher Möglichkeiten, durch Redundanz die Störanfälligkeit des Gesamtsystems zu mindern. Auch durch Zivilschutzmaßnahmen ließen sich Schäden und gravierende Störungen reduzieren. Ein flächendeckender Schutz ist aber nicht realisierbar. Die Verwundbarkeit moderner Industriestaaten ist eine irreversible Faktizität: Die Staaten und ihre Gesellschaften sind nur noch unter Friedensbedingungen lebens- und funktionsfähig. Militärische Konflikte sind für sie als soziale Organismen nicht mehr überlebbar. Folglich gilt die Prämisse: Moderne Industriestaaten können aufgrund der dargestellten zivilen Verwundbarkeit militärisch nicht verteidigt werden! Letztlich wird wahrscheinlich das zerstört, was mit Waffen verteidigt werden soll. „Strukturelle Nichtverteidigbarkeit" ist somit ein nicht revidierbarer Tatbestand.

Plädoyer für eine Kultur des Friedens
Gemeinsamer Frieden fordert nicht eine konfliktfreie Welt, sondern die Bereitschaft zu Toleranz, zum Dialog und zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und Weltanschauungen. Gemeinsamer Frieden geht von der Fähigkeit des Menschen aus, Konflikte ohne Einsatz von Gewalt bewältigen und aushalten zu können und zu wollen. Er setzt eine Politik ohne Nötigung, Erpressung und Abschreckung, eine Politik der konstruktiven Zusammenarbeit der Völker voraus. Im Rahmen einer fortschreitenden Entwicklung hat eine zivilisationskonforme und kooperative Sicherheitspolitik die Aufgabe, sich der Bewältigung der globalen und existenzbedrohenden Gefahren für die Menschheit zuzuwenden. Um die gewaltigen Probleme, vor denen die Menschheit heute steht, auch nur annähernd lösen zu können, gibt es für diese Prioritätensetzung keine Alternative. Es müsste schon jetzt Konsens darüber herrschen, dass Sicherheitspolitik vorrangig als eine die Grenzen überschreitende Politik der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen zu begreifen und mit entsprechendem Aufwand zu betreiben ist. Die grenzüberschreitende Dimension der globalen Probleme des Klimawandels fordert ein Sicherheitsverständnis, das Gefahr als weltumspannende Existenzgefährdung der Menschheit begreift. Es bedarf einer strategischen Allianz von (auch und vor allem hochindustrialisierter) Mitgliedsstaaten in der UN, die aus dem Dilemma der Nichtverteidigbarkeit agieren und sich gegen den Widerstand der aktuell stark als Vetoakteure auftretenden Staaten USA, Russland und China durchsetzen können. Dazu gehören auch blockfreie Staaten aus Asien, Südamerika und Afrika.
Dass dies gelingen kann, belegen eine Reihe von Abkommen, die durch die UN-Vollversammlung beschlossen wurden, auch gegen  organisierten Widerstand: beispielsweise das Verbot von Antipersonenminen und Streumunition von 1999 oder auch die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes 2002; prominent und von großer Relevanz sind ebenso das Pariser Abkommen zum Klimaschutz von 2015 und der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), der am 22.01.2021 in Kraft trat. Bei der Gewichtung strategischer Ziele der UN haben die Verhinderung eines Atomkrieges und die Eindämmung des Klimawandels höchste Priorität, weil sie die Existenz des Lebens bedrohen. Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannung sind und bleiben auch zukünftig eine zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen und der Mitgliedsstaaten. Es bedarf verstärkt diplomatischer Initiativen, um Verhandlungen zu befördern. Besonders der Generalsekretär der UN ist gefordert, diesen Prozess anzustoßen.

 

Anmerkung:

  • Der Beitrag ist eine stark gekürzte Fassung des Artikels des Autors mit dem Titel „Strukturelle Nichtverteidigbarkeit" in Wissenschaft und Frieden 3/2023, S.42-45;

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