Das islamische Kopftuch

Symbol der Würde oder der Unterdrückung?

von Renate Wanie
Hintergrund
Hintergrund

„Der Islam gehört zu Deutschland“, ein seit einigen Jahren immer wieder gehörter Ausruf. Er gehört schon allein deshalb zu Deutschland, da rund vier Millionen Menschen, etwa fünf Prozent der Bevölkerung, dieser Religion angehören. Wer das Lebensgefühl und die Denkweise dieser MitbürgerInnen inmitten einer kulturell anders geprägten deutschen Gesellschaft verstehen will, der/die muss sich auch mit den religiösen Vorstellungen und Werten des Islam auseinandersetzen. (1) Dazu gehört auch ein in der deutschen Öffentlichkeit fremd wirkendes Erscheinungsbild: das Kopftuch der MuslimInnen. Welche Bedeutung kommt ihm im Koran zu? Welche Rolle spielt das Kopftuchtragen für die kulturelle oder religiöse Identität der muslimischen Frauen? Wird es freiwillig getragen oder dem Kopftuchzwang ihrer Gemeinden angepasst?

Musliminnen wie Nicht-Musliminnen gehen meist davon aus, dass der Koran den Frauen die Bedeckung ihres Körpers vorschreibt. „Das stimmt nur in Teilen: Neben dem Koran legen zwei weitere Traditionsstränge die ethischen Prinzipien fest, die Musliminnen als grundlegend für ihre religiöse Identität und rituelle Praxis ansehen: die Hadithen, die Berichte der Zeitgenossen über Aussprüche und Taten des Propheten, sowie die Islamische Rechtslehre.“ (Goldmann: 17) Zudem sei „der Koran“ nicht statischer Natur, so Angelika Neuwirth, Professorin für Semitistik und Arabistik an der Freien Universität Berlin, er habe verschiedene Entstehungszeiten und wurde als Gottes Wort in einem Zeitraum von über dreiundzwanzig Jahren offenbart. (Neuwirth: 250) Das im Koran Gesagte ist nach Neuwirth nicht gleichzeitig gültig. Der Koran, „ein mündlich vermittelter und rhetorisch aufgeladener Text“ sei das Dokument einer sukzessiven Verkündigung, von Anfang an im Hinblick auf eine Hörerschaft und ihrer konsensuellen Legitimation durch eine historische Gemeinde. Er müsse als Kommunikationsprozess ernst genommen werden. (Neuwirth: 251).

Das Kopftuch im Koran
Kopftuch tragende Musliminnen beziehen sich in der Regel auf die Koranstellen Sure 33:59 und 24:31, die die Bekleidungsweise der Frauen zu Zeiten des Propheten Mohammads (ca. 570-632 n. Chr.) thematisieren sowie auf die Hadithen. In der Sure 33:59 geht es um den „Hidschab“ (Mantel, Umhang, Schleier), heute bezeichnet als Verhüllung von Frauen, die die Konturen des ganzen Körpers bedeckt. Miriam Goldmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Berlin, schreibt, dass dieser Vers offenbart worden sei, damit die Musliminnen nicht behelligt werden, nachdem die Frauen des Propheten nachts in den Straßen von Medina (ca. 622 n. Chr.) belästigt worden seien. (Goldmann: 17) „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen und ihre Keuchheit bewahren, den Schmuck, den sie tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht normalerweise sichtbar ist, und ihre Tücher über ihren Busen ziehen.“ (Sure 24:31) Nach der Auslegung des Islamwissenschaftlers Gerald Hawting ist dieser Vers einer von mehreren, die sich mit der weiblichen Sittsamkeit befassen: „Die Formulierung ’die Augen niederschlagen’ wird im Allgemeinen so verstanden, dass man das andere Geschlecht nicht anschauen soll, um keine Leidenschaft zu entfachen. Manche KommentatorInnen ziehen als Beweis einen Ausspruch des Propheten Mohammed heran, wonach man bereits mit den Augen Unzucht begehen kann.“ (Hawtking: 137) Hawting fragt, ob diese Aufforderung an Frauen verhindern solle, dass bei Männern Leidenschaft geweckt wird oder bei ihnen selbst? „Die meisten verstehen den Koranvers so, dass weibliche Sittsamkeit vonnöten ist, um unangenehme Gefühle bei Männern zu vermeiden.“ (ebd.) Er weist darauf hin, dass diesem Vers ein Vers vorausgeht, der ein und dieselben Aufforderungen auch an Männer erhebt.
Bemerkenswert ist es für den Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin, „dass an dieser Stelle keines der in der altarabischen Dichtung benutzten Wörter für den Gesichtsschleier im engeren Sinne verwendet wird.“ (Bobzin: 85) Im Unklaren bleibt, ob eine Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum gemacht werden muss.

Bedeutungsvarianten der Kopftuchträgerinnen in Deutschland
Weshalb tragen muslimische Frauen das Kopftuch? Oft wird das Tragen des Kopftuches in christlichen Mehrheitsgesellschaften als Zeichen der Religionszugehörigkeit, aber auch als Islamismus oder der Unterdrückung gesehen. Doch es gibt nicht die Bedeutung. Vernachlässigt werden in diesen Diskussionen vor allem individuelle Faktoren, soziale, kontextuelle und islampolitische Einstellungen. Für ihre Studie über die Varianten des Kopftuchtragens in Deutschland nimmt die Sprachwissenschaftlerin Reyhan Sahin die gesellschaftliche und individuelle Bedeutungsebene in den Blick. (Sahin: 47-54)

Die individuelle Ebene umfasst die subjektive Sichtweise im Kontext ihrer religiösen, politischen oder weltanschaulichen Orientierung oder auch der Gruppenperspektive innerhalb unterschiedlicher muslimischer Gemeinden. Aus religiösen Motiven heraus wird das Kopftuch als Zeichen der Zugehörigkeit zum orthodoxen, sunnitischen oder schiitischen Islam getragen. Die meisten Frauen betrachten das Kopftuch als eine der religiösen Grundpflichten im Islam und als wichtigen Teil ihrer Identität. Je nach Alter, Bildung oder z.B. innerislamischer Zugehörigkeit kann es innerhalb europäischer Mehrheitsgesellschaften Unterschiedliches ausdrücken und variiert von sehr bedeckt (Voll- oder Ganzkörperverschleierung) bis ohne Kopftuch.

Wenn sie nicht, wie in einigen islamischen Ländern, durch die Staatsform erzwungen ist, neigen Trägerinnen zu einer korannahen, orthodoxen bis hin zur reaktionären Auslegung des Islams, je nach Religionsverständnis. (Sahin: 48) Ethnische und innerislamische Unterschiede sind meist an der Kopftuchbindungsweise der Trägerin ablesbar. Tendenziell bei jüngeren Frauen gibt es eine Gruppe unter den  Kopftuchträgerinnen, die einen modisch-auffälligen farbenfrohen Stil, kombiniert mit säkularer bis modischer Bekleidung wählt. Diese Variante wird als Zeichen des Inklusionswunsches von jungen, in Deutschland sozialisierten Trägerinnen gedeutet. Doch auch sie sind Stigmatisierungen und Anfeindungen ausgesetzt, sowohl innerhalb der Mehrheitsgesellschaft als auch von orthodoxer Seite.

Bewusst gegen westliche-modische Bekleidungsvarianten entscheiden sich Hidschab-Trägerinnen mit weiter Bekleidung, dunklen Mänteln, langen Röcken und die Schultern bedeckendes Kopftuch (Hidschab). Aufgrund negativer Reaktionen innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Alltag verzichtet die Hälfte der in der Studie von Reyhan Befragten auf die Ganzkörperbedeckung.

Die Mehrheit der befragten jungen Kopftuchträgerinnen in Deutschland konnten mit ihren Ansichten und der Lebensweise eindeutig als emanzipatorisch orientiert beobachtet werden, d.h. bestrebt, zu arbeiten, finanziell unabhängig zu sein und ihren Partner selbstständig auszuwählen. Von der Mehrheit der befragten Kopftuchträgerinnen wurde bejaht, dass sie Frauen kennen, die gegen ihren Willen ein Kopftuch tragen und muslimisch-patriarchalischen Repressionen ausgesetzt sind. Doch das Kopftuch kann ebenso als ein islamisches Zeichen der Emanzipation gelten, z.B. in islamisch-feministischer Arbeiten, z.B. von Fatima Menissi, die den Koran und die Hadithe auf Geschlechterrollen überprüft oder Kritik an den patriarchalischen Strukturen, z.B. innerhalb muslimischer Verbände, übt. Die Varianten und Entwicklungen des Kopftuches sind also vielschichtig und komplex, je nach Religionsverständnis, politischen Ansichten und Lebensweise.

Symbol für einen politischen Islam?
Das Kopftuch ist ein Symbol des politischen Islam. Diese eindeutige Position vertrat der einzige männliche Referent auf der Konferenz des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam an der Goethe-Universität (s. Konferenz a.a.O), der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, im Mai 2019. Entsprechend war auch der Titel seines Vortrags als Appell angekündigt: „Ihr müsst kein Kopftuch tragen. Aufklären statt Verschleiern“. Ourghi, aufgewachsen in einer liberalen muslimischen Familie in Algerien, streitet für einen liberalen Reformislam, in dem die Unterdrückung der muslimischen Frauen durch die Verschleierung historisch-kritisch diskutiert werden soll. Die Koranwissenschaftlerin Dina El-Omari differenziert zwischen literalistischen, also wortgetreuen Auslegung der Suren, wie sie von den Fundamentalisten und Konservativen betrieben wird, und einer historisch-kritischen Betrachtung des Korans: Die Koranstellen selbst geben kein Gebot her, sie geben in einer bestimmten Situation eine Empfehlung. Sie verortet sie historisch und empfiehlt, weiter zu denken und zu fragen, was das Anliegen des Textes sei. Z.B. sei die Sure 33:59 aus einer konkreten historischen Situation im 7. Jahrhundert heraus gedacht gewesen und habe heute keine Relevanz mehr. Bleibt zuletzt allein die Frage nach der kritischen Auslegung der historischen Korantexte?

Anmerkungen und zitierte Literatur
1  Konferenz  am 8. Mai 2019 an der Goethe-Universität Frankfurt/M: „Das islamische Kopftuch – ein Symbol der Würde oder Unterdrückung?
Bobzin, Hartmut (2014): Der Koran. Eine Einführung. CH Beck Wissen, 8. Auflage
Goldmann Miriam (2017): Cherchez la femme. Perücke, Burka, Ordenstracht. In: Journal, Jüdisches Museum Berlin, 2017/Nr. 16
Hawtking, Gerald (2017): Das Kopftuch. In Koran erklärt, ein Beitrag zur Aufklärung. Hrsg.: Willi Steul, Suhrkamp Verlag
Neuwirth, Angelika (2017): Koranexegese zwischen Theologie und Orientalistik. In: Steul, Willi (Hrsg.): Koran erklärt. Ein Beitrag zur Aufklärung. Suhrkamp Verlag
Ourghi, Abdel-Hakim (2018): Ihr müsst kein Kopftuch tragen. Aufklären statt Verschleiern. Claudius Verlag München
Sahin, Reyhan (2017): Zeichen des Islams, Emanzipation oder Unterdrückung? Bedeutungsvarianten der muslimischen Kopfbedeckung in Deutschland. In: Journal, Jüdisches Museum Berlin: Cherchez la femme, 2017/Nr. 16, S. 47-54

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