Polizeiausbildung in Afghanistan

Teil des Problems

von Christine Buchholz

Ende Januar verständigten sich die NATO-Partner auf die von der Obama-Administration vorgegebene Strategie für Afghanistan. Angesichts des anhaltenden Widerstandes gegen die Besatzung sollten zivile und militärische Komponenten kombiniert werden. Kern der Strategie war es, einerseits die Aufständischen zurückzudrängen und so weit zu schwächen, dass Verhandlungen unter für die NATO günstigen Konditionen geführt werden könnten. Andererseits sollten die „Herzen und Köpfe“ der Afghanen gewonnen werden.

Diese Strategie sieht vor, von Aufständischen dominierte Gebiete in vier Schritten zu „befreien“: „shape“, „clear“, „hold“ und „build“ („formen“, „reinigen“, „halten“ und „aufbauen“). Die NATO will das Gebiet durch Kommandoaktionen und Aufklärung vorbereiten. Das beinhaltet sowohl die Warnung der Zivilbevölkerung vor kommenden Angriffen als auch die gezielte Tötung von Kommandeuren der Aufständischen. Danach dringen die NATO-Truppen und ihre Verbündeten von der afghanischen Armee (ANA) und der Polizei (ANP) massenhaft in das Gebiet ein und ersticken jeglichen Widerstand, durchsuchen Häuser, beschlagnahmen Waffen. Anschließend setzen sie einen Statthalter der afghanischen Regierung ein und stationieren eine möglichst große Zahl von Polizisten. Im vierten Schritt sollen gezielt Projekte des Wiederaufbaus durchgeführt werden, um die Bevölkerung für die Karzai-Regierung und die Besatzer zu gewinnen.

Ist Phase zwei beendet, beginnt die NATO bereits mit der Planung der gleichen Aktion in der nächsten Region. Solange aber Phase vier nicht erfolgreich abgeschlossen ist, also die Bevölkerung nicht gewonnen wurde, ist eine massive Präsenz von Sicherheitskräften erforderlich. Diese Aufgabe kann nicht die NATO erfüllen, denn dafür hat sie schlicht viel zu wenig Soldaten. Hier kommt die Polizeiausbildung ins Spiel.

30.000 Polizisten
Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, in den nächsten fünf Jahren 30.000 afghanische Polizisten auszubilden. Dafür will sie die Zahl der Ausbilder auf 260 aufstocken. Selbst in der Logik der Regierung ergibt sich ein Problem, denn sogar unter optimalen Rahmenbedingungen wäre bei einem Verhältnis von einem Ausbilder zu über hundert Auszubildenden keine qualitativ hochwertige Polizeiausbildung möglich.

Aber die Bedingungen sind nicht optimal. Das Land ist arm und befindet sich seit Jahrzehnten im Krieg. Neunzig Prozent der Rekruten können nicht lesen – mehr als im Landesdurchschnitt. Viele der Bewerber haben wegen Unterernährung in der Kindheit oder anderen kriegsbedingten Einflüssen motorische oder psychische Störungen. Zwanzig Prozent sind drogensüchtig. Im Normalfall kommen nur die Verzweifelten zur Polizei.

Diese Rekruten werden in Schnellkursen ausgebildet. Die von der US-amerikanischen Regierung engagierten privaten Sicherheitsfirmen schleusen sie in drei Wochen durch die Lehrgänge. Die deutschen Ausbilder haben immerhin acht Wochen Zeit.

Das hat offenkundig nichts mit einer Polizeiausbildung zu tun, wie wir sie aus Deutschland kennen. Kriminalistik, Tatortsicherung, Verbrechensbekämpfung, ja selbst das Regeln des Verkehrs gehören nicht zum Programm. Wegen der hohen Analphabetenrate gibt es keine schriftlichen Unterlagen. Gesetzeskenntnisse können nicht vermittelt werden, und der gesamte Unterricht muss mithilfe von Dolmetschern laufen, da die Ausbilder die Landessprache nicht beherrschen und die Rekruten weder Deutsch noch Englisch sprechen.

Die angehenden Polizisten lernen, wie sie ihre Uniform richtig tragen, woran sie Vorgesetzte erkennen, wie sie ihre Waffe gebrauchen und wie man an einem Checkpoint Personen stoppt und dabei deren Hände im Blick behält. Außerdem lernen sie, einen gültigen Pass zu erkennen. Die tatsächliche Überprüfung von Personalien ist für Analphabeten aber unmöglich. Weitere Punkte der Ausbildung sind das sogenannte „Crowd Control“, also das Vorgehen gegen Demonstranten, und der Einsatz im Verbund mit der Armee im Häuserkampf.

Einladung zur Korruption
Nach Ende ihrer Ausbildung dienen viele Polizisten lediglich als Kanonenfutter für die Armee. Bei militärischen Offensiven stehen sie in der ersten Reihe. Entsprechend hoch sind die Verluste. Nach einem im Spiegel zitierten vertraulichen Bericht des Auswärtigen Amtes starben 2007 rund 1.200 afghanische Polizisten, 2008 waren es 1.150 und bis zum Herbst 2009 weitere 740.

Während die deutschen Ausbilder täglich 110 Euro Auslandszulage erhalten, verdienen einfache Polizisten in Afghanistan rund 250 US-Dollar im Monat. Das ist selbst für afghanische Verhältnisse nicht viel. Um eine fünfköpfige Familie in Kabul zu ernähren, reicht es nicht. Nicht selten suchen die Polizisten nach Möglichkeiten, etwas hinzuzuverdienen. Bei jeder Gelegenheit pressen sie Leuten „Gebühren“ ab. „In der Bevölkerung sind die als Wegelagerer verschrien“, zitiert der Spiegel einen deutschen Ausbilder.

Ebenfalls zum täglichen Geschäft gehört der Drogenhandel, wenn auch nur im kleinen Rahmen. Für die großen Geschäfte sind Minister, Polizei- und Armeeführung sowie die Familie von Ministerpräsident Hamid Karzai zuständig. Andere Verdienstmöglichkeiten sind der Verkauf der Dienstwaffe oder die Verrichtung von „Sicherheitsdienstleistungen“, sprich: die Polizisten verdingen sich als Söldner. Ganze Einheiten sind wegen der besseren Bezahlung zu Aufständischen übergelaufen. Von den bis 2005 von deutschen Beamten ausgebildeten Polizisten ist mittlerweile ein Drittel tot und ein Drittel verschwunden, also desertiert oder übergelaufen.

Neben dem Geld spielt auch die Familienloyalität eine große Rolle. Man hilft sich untereinander. Dazu gehört, dass man keine Verwandten verhaftet. Und die Familien sind groß und verzweigt. Deswegen werden zur Aufstandsbekämpfung bevorzugt Polizisten aus anderen Regionen des Landes eingesetzt, was wiederum die ethnischen Konflikte anheizt.

Strategie gescheitert
Die gesamte Strategie der NATO ist gescheitert. Die Angriffe des Oberkommandierenden der Koalitionsstreitkräfte in Afghanistan, General McChrystal, gegen die US-Regierung und letztlich sein erzwungener Rücktritt sind Ausdruck davon. Die erste Offensive im Rahmen der neuen Strategie begann im Februar im Raum Mardscha. Sie ist nie über Phase zwei hinausgekommen. Heute operieren Aufständische wieder genauso ungehindert in dem Gebiet wie vor der Offensive.

Die für diesen Juni angekündigte größere Offensive der Koalitionstruppen im Raum Kandahar wurde auf September verschoben, weil bereits Phase eins nicht abgeschlossen werden konnte. Obwohl Kommandoeinheiten der NATO bisher über 70 „Taliban-Kommandeure“, wie sie es nennen, getötet haben, sind die Aufständischen offensichtlich unverändert kampffähig. Die Beliebtheit der Besatzer ist, laut einer Erhebung unter Stammesführern in der Region, sogar noch niedriger als vor einem Jahr. Die „zivil-militärische Kooperation“ hat ihre Ziele verfehlt.

Die unter anderem von deutschen Beamten ausgebildete Polizei ist Teil des Problems in Afghanistan und nicht Teil einer Lösung. Sie ist einer der Gründe, warum die Regierung Karzai so unbeliebt ist und die Aufständischen Zulauf bekommen. Ihre Existenz trägt zur Unsicherheit der Menschen im Alltagsleben bei und heizt den Krieg weiter an. Das Polizei-Aufbauprogramm erhöht lediglich den Anteil von Männern, die über Waffen verfügen und deren einzige „Qualifikation“ der Umgang mit diesen ist. Die Polizei ist nicht die „zivile“, „humanitäre“ Alternative zum Militär, sondern dessen logische Ergänzung. Und sie wird Afghanistan selbst im Sinne der NATO nicht „befrieden“.

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