Terrorismus gewaltfrei entgegnen?

von Stellan Vinthagen

Die Diskussion über Terrorismus wird zu großen Teilen, auch in akademischen Kreisen, von politischen Interessen geleitet. Dieser Artikel befasst sich mit nicht-staatlichem Terrorismus und beruht auf der Annahme eines grundlegenden Scheiterns aktueller Anti-Terror-Maßnahmen. Zum einen werden terroristische Gruppierungen nicht durch militärische Mittel besiegt, wie im Irak, in Afghanistan, Indien, Pakistan, Uganda, Russland, Kolumbien – mit einer vermeintlich hervorstechenden, vielleicht auch nur vorläufigen Ausnahme in Sri Lanka – zu sehen ist. Zudem zahlen liberale Demokratien für die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen einen hohen Preis in Form von Verstößen gegen die Demokratie und Menschenrechte. So scheint Terrorismusbekämpfung in Frage zu stellen, was eigentlich verteidigt werden sollte: die offene, demokratische Zivilgesellschaft.

Es wird nicht behauptet, dass gegenüber jeder Form von terroristischer Bedrohung realistische gewaltfreie Handlungsoptionen zur Verfügung stehen oder dass vorhandene gewaltfreie Handlungsoptionen notwendigerweise effektiver seien als andere verfügbare Mittel. Doch wird in diesem Artikel die These aufgestellt, dass gewaltfreie Ansätze und ihre mögliche Effektivität aufgrund militaristischer Traditionen und unreflektierter Annahmen über Gewalt als „bester“ und „effektivster“ Handlungsoption nicht genügend erforscht worden sind.

Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel jeder gewaltfreien Anti-Terrorismus Strategie darin, mit und innerhalb der sozialen Basis der Terroristen zu arbeiten, in der ihre Mitglieder rekrutiert werden. Obwohl wir zu wenig darüber wissen, was letztendlich zu Terrorismus führt, erscheint es plausibel, dass Terrorismus mit der Erfahrung oder Wahrnehmung als Opfer schwerwiegender sozialer Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Entmenschlichung und Militarisierung zusammenhängt.

Viel wird davon abhängen, welche Methode verwendet wird, aber auch von wem und in welcher Situation. Als Shaykh-ul-Islam Dr. Muhammad Tahir-ul-Qadri, der Gründungsvater und Hauptförderer von Minhaj-ul-Quran International, seine mehr als sechshundert Seiten starke Fatwa gegen „Terrorismus“ veröffentlichte, dürfte er mehr dafür getan haben, zukünftige Terroranschläge von Jihadisten zu verhindern, als jede polizeiliche Überwachungsmaßnahme. (Siehe http://www.minhaj.org/english/tid/9959/Historical-Launching-of-Fatwa-Aga....)

Forschung zur gewaltfreien Aktion
Studien der gewaltfreien Aktion nahmen während der frühen 1970er Jahre Gestalt an, basierend auf dem paradigmatischen Werk The Politics of Nonviolent Action von Gene Sharp (1973). Aber nur wenige Studien behandeln bis heute explizit und systematisch Terrorismus (eine Ausnahme ist Hastings 2004). Im Prinzip stehen wir vor einer Situation, in der die Forschung zur gewaltfreien Aktion zahlreiche Beispiele bringen und viele verschiedene Methoden vorschlagen kann, was gegen autoritäre Staaten (Diktaturen), Staatsterror und brutale Repression durch Besatzungsmächte getan werden kann. Doch sie sagt sehr wenig zum Terror durch private/nicht-staatliche Akteure.

Das Schweigen der Wissenschaftler zu diesem Thema ist schon an sich problematisch, doch noch problematischer ist die Tatsache, dass die zu Grunde liegende Theorie aus der Arbeit von Sharp auf der Annahme beruht, dass der Gegner ein Staat ist, der von der Kooperation der in ihm lebenden Bürger abhängig ist.

Doch was ist, wenn dies gar nicht der Fall ist? Wenn wir über Erpressung, über Terror durch nicht-staatliche Akteure reden, der nicht auf staatliche Macht und Regierung abzielt, sondern auf die Rücknahme oder Reformierung einer staatlichen Politik oder Normsetzung, befinden wir uns in einer anderen Situation. Statt einer Regierung, die von der Bevölkerung abhängig ist, um ihre Herrschaft abzusichern, liegt ein Staat vor, der seine Sicherheit verliert, wenn er sich nicht den Forderungen der nicht-staatlichen Terroristen anpasst.

Eine gewaltfreie Strategie gegen nicht-staatlichen Terror
Um mit nicht-staatlichem Terror umzugehen, müssen wir einen umfassenden gewaltfreien Anti-Terrorismus-Ansatz entwickeln, der mindestens fünf Dimensionen berücksichtigt: Die Anzahl und Art der gewaltfreien Akteure (1) und gewaltfreier Methoden (2) müssen erweitert werden, während wir die geeignete Taktik in Bezug auf die Konfliktphase (3), den Typ des Terrors/ der Terrorakteure (4) sowie  des  Typs des Terrorkontextes (5) unterscheiden müssen. Unten finden wir einige Beispiele, die sich vorrangig mit den ersten drei Dimensionen befassen, um die Möglichkeiten der Entwicklung einer gewaltfreien Strategie gegen Terrorismus zu illustrieren.

A: Gewaltfreie Prävention gegen Terrorismus? (längerfristig, bevor es zu Anschlägen gekommen ist)
Die Schaffung von kulturellen und ökonomischen Brücken zwischen Konfliktparteien:

  • z.B. Austauschprogramme, Tourismus, Sportwettkämpfe, Handelsverträge, Jugendlager
  • Projekte des Dialogs, die Verhaltensweisen ändern könnten
  • Das Auffinden von fortschrittlichen, aufgeschlossenen Gruppen auf beiden Seiten, die fähig sind, zu kooperieren und Allianzen einzugehen (z.B. religionsübergreifende Dialoge, Gewerkschaften)
  • Soziale Verteidigung entwickeln
  • Entwicklungsprojekte (z.B. Marshall Plan)
  • Feierliche Schuldeingeständnisse bezüglich historischer Verbrechen (wie der frühere Papst es getan hat)
  • Wahrheits- und Versöhnungskommissionen
  • Mit dem neu erworbenen Wissen Geschichts- und Schulbücher verändern
  • Dem Aufbau von Feindbildern, Hasspropaganda und Gerüchten über Krieg entgegenhalten (z.B. Friedensjournalismus)
  • Stakeholder Lobbying. Der Versuch, die soziale Umwelt, die Terrorismus aufrecht erhält bzw. unterstützt, zu beeinflussen
  • Die Ausbildung von „Friedensdiplomaten“ (zu Dialog und Verhandlungen mit Terroristen ermuntern)
  • Die Mobilisierung des Unternehmerlagers
  • einen alternativen Anti-Terrorismus Diskurs etablieren (vgl. dazu Begriffe wie Euro-Islam, Taliq Ramadan, Christlicher Pazifismus, Befreiungstheologie)

B: Gewaltfreier Widerstand gegen terroristische Organisationen? (mittelfristig)

  • Ökonomische/finanzielle Schwächung durch das Einfrieren bekannter Finanzströme (Sanktionen; sie können auch durch Banken und deren Angestellte ausgeführt werden)
  • Die (politische/ kulturelle/ ideologische/ religiöse) Legitimität des Terrorismus in der unterstützenden Gesellschaft untergraben
  • Technische/ praktische Schwächung (Waffen/ Mittel für Anschläge weniger leicht verfügbar machen)
  • Mobilisierung von Widerstand und Protest (z.B. Widerstand gegen die militarisierte Besatzungspolitik der USA/Israels aus Furcht vor Al Qaida; Widerstand gegen spanische Dominanz im Baskenland aus Furcht vor der ETA)

C: Gewaltfreie Aktion gegen terroristische Aktivität? (kurzfristig)

  • Massive Proteste gegen Staatsterror zur Unterstützung derjenigen, die sich in einer als ungerecht empfundenen Situation befinden. (z.B. die Demonstration von Millionen von Menschen in Europa und den USA gegen den Irakkrieg 2003)
  • Protest von „ähnlich-eingestellten“ Gruppen (z.B. moderate Christen, die gegen terroristische Christen protestieren), denn diese können stärker Einfluss ausüben und klar stellen, dass die Terroristen nur eine Minderheit bilden („God told me not to invade Iraq!“)
  • Dazwischentreten/ menschliche Schutzschilde während terroristischer Aktivitäten, was eine „Re-Humanisierung“ bewirken kann (z.B. Golf Friedensteam während des „Zweiten Golfkriegs“)
  • Die öffentliche Ankündigung von Rettungsarbeiten durch gemischte Teams, die an alle Gemeinschaften/Individuen gerichtet sind (und dem ärztlichen Ethos folgen, allen Betroffenen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit, zu helfen)
  • Verbesserte gewaltfreie Sicherheitsmaßnahmen (check-points, etc.). Ist es möglich, dies gewaltfrei zu tun? Hat dies mehr eine psychologische Wirkung, als eine Sicherheitsmaßnahme zu sein?
  • Ein Netzwerk von Friedensdörfern ankündigen und schaffen („Terrorismus freie soziale Inseln“), in denen eine Vielzahl von Kulturen und Religionen leben (z.B. Dörfer in Kolumbien, die versuchen, sich von paramilitärischen Gruppen, Guerillakämpfern und Armee fernzuhalten)

D: Gewaltfreier Wiederaufbau/ Versöhnung nach Terrorakten? (mittelfristig)

  • Konkrete Unterstützung für benachteiligte Gruppen (medizinisch, ökonomisch, Wiederaufbau, technisch, etc.), insbesondere für die Gruppen, die Terrorismus unterstützen
  • Gemischte Entwicklungshelfer-Gruppen, die aus Entwicklungshelfern aus verschiedenen sozialen Gruppen zusammengesetzt sind (z.B. Sunniten, Schiiten, Katholiken, Protestanten, Griechisch-Orthodoxe, Juden, Sikhs und Hindus)
  • Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (s.o.)
  • Verbindungen zwischen allen Parteien aufbauen mit der Sorge um ihre Kinder als verbindendes Element (z.B. Kinderhilfswerke)
  • Volkstribunale (Untersuchungen mit Gerichtsverfahren, die auf Beweismaterial aufbauen)
  • Die Anrufung des Internationalen Strafgerichtshofs und die Stärkung internationalen Rechts (das sowohl Gerechtigkeit als auch Ahndung fördert)
  • Die historischen Wurzeln, kulturelle Elemente und Beispiele der Gewaltlosigkeit in allen betroffenen Gesellschaften aufzeigen (z.B. zeigen, dass Taliban/ Al Qaida und die 100000 Mann starke gewaltfreie Armee Kudahi Kidmatgar, die Teil der Bewegung Gandhis während des Unabhängigkeitskampfes Indiens war, auf dieselbe traditionelle Kriegergesellschaft der Paschtunen zurückgehen)
  •  

E: Gewaltfreie Prävention von Terrorismus? (längerfristig, nach Terroranschlägen)

  • Den Verbrauch von Ressourcen in der westlichen Welt reduzieren
  • Massive Hilfe für die arme Bevölkerung und Schuldenerlass für die ärmsten Länder
  • Rückführung/Wiedereinbürgerung von Flüchtlingen
  • Wissen über „Terrorismus“ vermitteln, über seine Geschichte, seine Wurzeln und Rechtfertigungen
  • Erziehung und Training zur Macht der Gewaltfreiheit, insbesondere darüber, was gewaltfrei gegen „Terrorismus“ getan werden kann
  • Aufbau einer nachhaltigen und gerechten Wirtschaft (Energieverbrauch, Verteilung und Landwirtschaft)
  • Demokratisierung der Weltordnung, insbesondere der UN (indem vom Entscheidungsprozess ausgeschlossene Gesellschaften integriert werden, z.B. muslimische Länder permanente Mitglieder des Sicherheitsrats werden)
  • Umverteilung der Ressourcen und des Wohlstandes in der Welt (als Konsequenz des obigen Punktes)
  • Die israelische Besetzung Palästinas beenden, mit der Anerkennung des Existenzrechts Israels durch die arabischen Staaten, und eine Ein- oder Zwei-Staatenlösung verhandeln
  • Als  erster Schritt: die militärische, ökonomische, politische Unterstützung von Diktaturen (z.B. in Saudi-Arabien, Burma, China) beenden
  • Die Besetzung des Irak und Afghanistans beenden, UN Peacekeeper in diese Länder senden und von den BürgerInnen gewählte Regierungen unterstützen. Die Bevölkerung unterstützen, eine nachhaltige Gesellschaft aufzubauen, die fähig ist ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen
  • „Kluge“ Sanktionen gegen alle Diktaturen, die auf die Eliten abzielen und nur diese beeinträchtigen.

Fazit
Eine gewaltfreie Handlungsstrategie ist effektiv wirksam durch sechs Formen externer und interner Intervention. Diese Interventionen müssen (1) den Diskurs dekonstruieren, der Terrorstrategien stützt; (2) die Fähigkeit, Terror zu organisieren, einschränken; (3) alternative Mittel und effektivere Strategien gegen den Terror unterstützende Gruppen entwickeln; (4) Reformen bezüglich legitimer Ziele der Terroristen anstoßen; (5) eine Gesellschaft entwickeln, die durch Terrorismus weniger verwundbar ist (z.B. durch Dezentralisierung, Vielfältigkeit, Nachhaltigkeit). Und (6) längerfristig muss die Veränderung der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die Terrorismus bestärken und aufrechterhalten, Priorität haben.

Diese Strategie beeinträchtigt somit gleichzeitig die Gründe, Chancen und Mittel des Terrors. In diesem Sinne ist sie eine weitaus umfassendere Strategie, mit weniger inhärenten Widersprüchen, als diejenigen, die heute Anwendung finden (bei denen Soldaten versuchen die Unterstützer von Terrorismus zu „bekehren“ und sich mit ihnen anzufreunden, während sie gleichzeitig die Terroragenten foltern ...).

Bei dem Artikel handelt es sich um Auszüge aus dem Beitrag „Die Möglichkeit einer gewaltfreien Strategie gegen nicht-staatlichen Terrorismus“. Für diese Arbeit habe ich von Diskussionen innerhalb des Nordic Nonviolent Studies Seminars (Nornos) während zweijähriger Beschäftigung mit Terrorstudien profitiert. Kommentare sind willkommen (stellan [dot] vinthagen [at] resistancestudies [dot] org). Er wird erscheinen in dem Hintergrund- und Diskussionspapier Nr. 31, 2011, Hrsg. Bund für Soziale Verteidigung, „Den Kreuzzug durchkreuzen. 10 Jahre ‚Krieg gegen den Terror’“, Minden 2011 (www.soziale-verteidigung.de)

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Stellan Vinthagen ist ein schwedischer Friedensforscher und Friedensaktivist und verbunden mit der Universität Göteborg (www.globalstudies.gu.se). Er ist Mitbegründer des Resistance Studies Network (www.resistancestudies.org) und Mitglied von Transcend und der International Peace Association. Darüber hinaus ist er als Ratsmitglied der War Resisters´ International und Freedom Flotilla to Gaza tätig.