Thronbesteigung in Paris

von Andreas Buro

Der Jubel der Präsidenten, Regierungschefs, Minister und Diplomaten kannte auf dem KSZE-Gipfel in Paris keine Grenzen, und die Medien echoten ihn weltweit. Die Konfrontation und Spaltung zwischen Ost und West sei überwunden. Ein neues Europa der Demokratie, des Friedens, der Marktwirtschaft und der Einheit breche an.

In der Tat hat sich viel zum besseren gewandelt. Die Systemkonkurrenz wurde durch den Zusammenbruch der bürokratischen Gesellschaften beendet. Man bedroht sich nicht mehr mit Mas­senmord, genannt Abschreckung - zu­mindest wird die nach wie vor gültige Strategie nicht mehr so ernst genom­men. Man hat die eisernen Vorhänge hochgezogen und die Monopolparteien mit ihren bürokratischen Herrschaftsin­teressen und vernagelten Ideologien gestürzt. Die Grenzen wurden geöffnet, allerdings z.T. auch schon wieder von der anderen Seite geschlossen, und Po­litik kann sich vielfältiger organisieren. Ein partieller AbrÅstungsvertrag zur Verdünnung konventioneller Waffen in Mitteleuropa wurde geschlossen, wenn­gleich die ganze qualitative Rüstung weiter läuft. Dazu die in Paris unter­zeichnete KSZE-Charta: "In diesem Zu­sammenhang bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspoliti­schen Dispositionen frei zu treffen." (Mit Freiheit habe ich bislang immer anderes assoziiert.)

Allerdings ging es in Paris vorrangig nicht darum, diese Fortschritte abzufei­ern. Das Spektakel hatte einen viel tiefe­ren Sinn. In Wirklichkeit wurde dort die Thronbesteigung Westeuropas - insbe­sondere ihrer stärksten Staaten mit der BRD ganz vorne - als Vor- und Gestal­tungsmacht Gesamteuropas und eines großen Teils Asiens zelebriert. Die alten Weltmächte USA und UdSSR mu·ten wollend oder nicht-wollend dabei Pate stehen, während EFTA-Staaten und die Mitglieder des Warschauer Paktes, zu Vasallen bei Hof degradiert, der neuen Herrschaft huldigten.

Die moralisch anspruchsvolle Moralität der Reden und der Charta stand dazu nicht im Widerspruch. Wann wäre nicht neue Herrschaft mit den höchsten Zielen begründet worden! Man glaubte gera­dezu, die Kolonialherren von einst von ihrer missionarischen Aufgabe für die Rettung der "Eingeborenen" und von "the white men's burden" sprechen zu hören, und Tränen der Rührung ob so viel Großmut bei all denen zu sehen, die nicht nur unsere Geschichte, sondern auch ihre Kritik der bürgerlich-kapitali­stischen Gesellschaft vergessen haben.

So war es nicht allein die Inauguration Westeuropas, die sich in Paris abspielte, sondern auch die feierliche Ausbreitung der zukünftigen Herrschaftsideologie. In ihr wurde von der Gleichberechtigung aller europäischen Staaten und Völker gesprochen, während ihnen gleichzeitig die Mittel und Bedingungen, Gleichbe­rechtigung tatsächlich zu erreichen, verwehrt wurden; freilich nicht ganz of­fensichtlich, aber in Wirklichkeit knall­hart.

Die in der Charta beschlossene KSZE-Institutionalisierung ist das Feigenblatt über der Wirklichkeit. Die KSZE-Au­·enminister treffen sich mindestens einmal im Jahr. Zur Unterstützung ihrer Arbeit dient ein Zehn-Personen-Büro (!), Folgetreffen werden alle zwei Jahre sein, und Parlamentarier sollen sich weitgehend kompetenzlos?

Ein Konfliktverhütungszentrum "unterstützt den Rat der Außenminister", hat also keine politische Kompe­tenz. Von Warschau aus soll die Freiheit der Wahlen europaweit kontrolliert werden. Schließlich gibt es noch einen Kon­sultativausschu· von Beamten, wel­che ohnehin in Wien bei den Rüstungs­kontrollverhandlungen zusammensitzen.

Alle diese Institutionen sind im Prin­zip nicht schlecht. Sie konstituieren nur nicht, was in dieser Situation hätte kon­stituiert werden müssen: eine kompe­tenzreiche gesamteuropäische Friedens­ordnung.

Vaclav Havels Vorschlag vom April dieses Jahres hatte eine solche zum Ziel. In ihrem Rahmen sollten alle KSZE-Staaten tatsächlich gleichberechtigt über die europäische Entwicklung befinden und entscheiden können. Durch sie sollten die Nicht-EG-Staaten die riesige Überlegenheit Westeuropas durch poli­tische Rechte und vereinbarte Prozedu­ren wenigstens teilweise ausgleichen können. Ein solches Projekt der Gleich­berechtigung, nicht zuletzt als Grund­lage für europäische Demokratie, ist in Paris gar nicht mehr auf den Tisch ge­kommen. Es gab dort keine offene Dis­kussion mehr um die Gestaltung der Zukunft Europas und seiner weltweiten Zusammenhänge. Stattt dessen wurde eine EG-zentrierte Globalmacht mit europäischen und anderen Hinterhöfen - ein hierarchisch aufgeteiltes "Gemeinsa­mes Haus" also - etabliert.

Wird aber - so lässt sich fragen - die Spaltung überwunden, nur weil Herr­schaft und Dienstboten im gleichen Haus wohnen? Diese Frage wird freilich aus dem Salon anders beantwortet als aus den Personalräumen.

Die Tragik der gegenwärtigen Situation liegt allerdings darin, da· vielen "Bediensteten" die Personalräume im­mer noch attraktiver erscheinen als die Behausungen der bürokratisch-"realso­zialistischen" Herrschaft. Eine Alter­native im Sine eines eigenständigen, so­zialen und ökonomischen Gesell­schaftsentwurfes, der auf die Entwick­lung der je eigenen Ressourcen und Kräfte zielte, ist anscheinend den Völkern, die nun im Hinterhof einquartiert werden, angesichts ihrer leidvollen Er­fahrungen mit bürokratischer Herrschaft und der so verführerischen Glitzerwelt Westeuropas nicht vorstellbar.

Der Preis hierfür wird voraussichtlich hoch sein. Viele Völker der armen 2/3-Welt zahlen an ihm bis heute, ohne in den Salon vorgelassen zu werden. Sie sind zur Peripherie der großen Zentren geworden. Wer wünscht da nicht, bei der heraufdämmernden Pax EG/NATO wären die Preise anderer Art! Nichts außer Sonntagsreden weist allerdings darauf hin, da· solche Hoffnungen begründet wären.

 

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