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Terror im Namen der Befreiung
Tibet unter der Herrschaft Pekings
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Seit einigen Jahren gerät Tibet immer wieder in die Schlagzeilen. Offensichtlich klaffen zwischen der chinesischen Propaganda von der friedlichen Befreiung des Landes und dem Alltag der Menschen tiefe Gräben. Die chinesische Herrschaft über Tibet wird auch nach knapp einem halben Jahrhundert von der großen Mehrheit nicht akzeptiert. Dennoch hält Peking an dem Anspruch auf Tibet fest. Dabei beruft es sich auf historische Rechte.
Ein Meilenstein in der chinesischen Argumentation ist die Yuan-Dynastie, die von 1278 bis 1368 über China geherrscht hat. Zu ihrem Einflussbereich gehörte auch Tibet. Träger der Yuan-Dynastie waren jedoch die Mongolen, deren Reich sich damals bis nach Europa erstreckte. Diese Epoche unter einem gemeinsamen Fremdherrscher als Grundlage für heutige Ansprüche zu nehmen, ist etwa so, wie wenn jemand behaupten würde, England gehöre zu Frankreich, weil beide Teil des römischen Imperiums waren.
Tatsächlichen Einfluss übten die chinesischen Kaiser erst seit dem frühen 18. Jahrhundert in Tibet aus. Damals baten die Tibeter sie gegen die mongolischen Dsungaren zu Hilfe. Bereitwillig vertrieb der Kaiser die Mongolen und stationierte anschließend eigene Truppen in Tibet. Zudem ernannte er zwei Gesandte, sogenannte Ambane, zur Wahrung seiner Interessen.
Im März 1912 erhoben sich tibetische Verbände und vertrieben die chinesischen Soldaten. Das tibetische Oberhaupt, der 13. Dalai Lama, rief daraufhin die Unabhängigkeit Tibets aus.
Nach der Proklamation der VR China am 1. Oktober 1949 setzte die Kommunistische Partei die Nationalitätenpolitik des Kaisers fort. Mao forderte die "Heimkehr Tibet ins chinesische Mutterland". Um dem Nachdruck zu verleihen, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Tibet ein.
Im September 1951 erreichten die chinesischen Truppen Lhasa. Zunächst akzeptierten sie die traditionelle tibetische Verwaltung. Ende der fünfziger Jahre wuchsen die Spannungen. Sie eskalierten schließlich am 10. März 1959, als es Anzeichen gab, daß der Dalai Lama nach Peking entführt werden sollte. Tausende von Tibeterinnen und Tibetern strömten zum Palast, um ihr Oberhaupt zu schützen. Gegen die chinesische Übermacht hatten sie jedoch keine Chance. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, aber dem Dalai Lama gelang die Flucht. Seitdem lebt er im indischen Exil. Ihm folgten bis heute etwa 120.000 weitere Menschen. Der Dalai Lama ist inzwischen zu einer weltweit anerkannten Symbolfigur für den gewaltfreien Widerstand geworden. 1989 erhielt er den Friedensnobelpreis.
Zerstörung einer Kultur
In Tibet selbst erlebten die Zurückgebliebenen eine Epoche brutaler Unterdrückung. Die chinesische Besatzungsmacht überzog das Land mit gnadenlosem Terror, der nicht nur die "Klassenfeinde" von Adel und Klerus traf. Alles Tibetische sollte ausgelöscht werden. Die Freizügigkeit wurde aufgehoben, der Besitz religiöser Gegenstände verboten, die Landwirtschaft kollektiviert. Selbst Haustiere oder Blumen auf der Fensterbank galten als Beweis für "kleinbürgerliche Gesinnung" und zogen schwere Strafen nach sich. Am schlimmsten litten die Menschen in den Arbeitslagern, die eher Vernichtungslagern glichen.
Mit der Großen Proletarischen Kulturrevolution 1966 verschärfte sich der Druck auf alles Tibetische noch mehr. Zehn Jahre später, nach dem Tode Maos und der Entmachtung seiner radikalen Nachfolger, war das Land nicht wiederzuerkennen. Mehr als eine Million Menschen waren in Arbeitslagern, bei Massakern, durch Exekutionen oder Hunger ums Leben gekommen. Die Landwirtschaft war für Jahre ruiniert. Von den fast 6.000 Tempeln und Klöstern hatten nur 13 die Zerstörungen überstanden. Der größte Teil war bereits vor der Kulturrevolution dem Zerstörungswahn zum Opfer gefallen.
Neue Methoden - alte Ziele
Nach einer gewissen Liberalisierung in den achtziger Jahren haben sich heute zwar die Methoden, nicht jedoch die Ziele der chinesischen Tibetpolitik verändert. Es geht noch immer um die Zerstörung der tibetischen Identität, um endlich ungehinderten Zugang zu dem Land zu haben. In den historischen Landesgrenzen sind die Einheimischen bereits zur Minderheit im eigenen Land geworden. Mindestens acht bis neun Millionen Chinesen und Chinesinnen siedeln dort; manche sprechen sogar von 12 bis 15 Millionen, da der Zuzug kaum kontrolliert werden kann. In den größeren Städten Zentraltibets stellen die Tibeter allenfalls noch ein Viertel der Bewohner.
Während die Zahl der Chinesen weiter wächst, werden die Tibeterinnen Opfer von Abtreibungen und Zwangssterilisierungen. Zwar fallen sie offiziell nicht unter die Ein-Familien-Politik, die erst für Volksgruppen ab zehn Millionen Angehörige gilt, doch in der Praxis kümmert sich darum niemand. Ein Schicksal wie das der Indianer oder der australischen Aborigines scheint nicht mehr ausgeschlossen.
Ausbeutung der Natur
Darüber hinaus ist die tibetische Hochebene zu einem waffenstarrenden Militärarsenal geworden. Neben einer halben Million chinesischer Soldaten sind dort Stützpunkte für Lang- und Mittelstreckenraketen, eine atomare Forschungsanlage sowie zahlreiche Militärflughäfen mit J7-Jagdgeschwadern und amerikanischen Sikorsky S 70 c Black Hawk Hubschrauberstaffeln installiert. Die Militärpräsenz soll nicht nur Unruhen im Keim ersticken; dafür bedarf es schließlich keiner Jagdbomber. Sie dient auch der Machtdemonstration gegenüber den süd- und südostasiatischen Nachbarn. Die strategisch günstige Lage des tibetischen Hochlands ist ein entscheidender Grund für die anhaltende Präsenz im Land.
Ein anderer Grund sind die reichhaltigen Bodenschätze. Schon im kaiserlichen China hieß Tibet das "Schatzhaus des Westens". Dieses Schatzhaus wird nun rücksichtslos geplündert. Die großen Waldbestände Tibets, die zur Zeit der chinesischen Besetzung etwa 220.000 qKm umfasst haben (das entspricht etwa 60 Prozent der Fläche Deutschlands), sind zur Hälfte abgeholzt. Die Folge sind Erosionen und Überschwemmungen, denn die kahlen Hänge können den starken Monsunregen häufig nicht halten. Neben Holz verfügt Tibet über Gold, Uranerz, Lithium, Borax, Eisen, Kupfer und andere Metalle. Mit deren Ausbeutung leisten die Tibeter einen unfreiwilligen Beitrag zum Wirtschaftsboom im China.
Ungeachtet dieser schwierigen Lage halten die Tibeter am gewaltfreien Widerstand fest. Doch auch der wird in Tibet brutal verfolgt. In manchen Fällen wurden schon 13- und 14jährige Kinder oder Novizen aus Klöstern bei Demonstrationen verhaftet, monatelang inhaftiert und gequält. Ein Verbündeter Tibets ist die internationale Öffentlichkeit. Wenn die chinesische Führung merkt, daß Tibet nicht in Vergessenheit gerät, ist sie langfristig vielleicht zu Konzessionen bereit. Letztlich hoffen die Tibeter auf eine grundlegende Kurskorrektur nach dem Tode Deng Xiapings. Innerhalb der chinesischen Opposition ist die Sensibilität für Tibet seit dem Tien An Men Massaker gewachsen. Tibet-Solidaritätsgruppen rufen außerdem zu einem Boykott chinesischer Waren auf, die vor allem auf dem Spielwarensektor marktbeherrschend sind. Ähnlich wie der südafrikanische Früchteboykott in den siebziger Jahren soll durch die Wirtschaft politischer Druck ausgelöst werden.