Kalkulierte Gewaltstrategie oder Ausdruck eines "clash of civilizations"?

Transnationaler Terrorismus

von Tobias Debiel
Der transnationale Terrorismus des beginnenden 21. Jahrhunderts ist ein "global player" mit zerstörerischer Macht. Er hat gegenüber seinen Vorläufern eine neue Qualität, insofern er in nahezu jeder Hinsicht grenzen- und maßlos ist - geographisch, ideologisch und moralisch:  
    Er reproduziert sich ökonomisch über transnational verbundene "Gewaltmärkte" und globale Finanznetzwerke;
 
 
    er rekrutiert seine Attentäter aus vieler Herren Länder;
 
 
    sein Aktionsradius ist fast weltweit;
 
 
    seine Ziele (Herausforderung der Weltmacht USA) sind kaum zu überbieten; und
 
 
    bei der Wahl der Mittel und Opfer setzt er auf Symbolik jenseits aller Tabus.
 
 
    Die Terroranschläge vom 11. September haben die Aufmerksamkeit für nationale wie transnationale Netzwerke privatisierter Gewalt erhöht: von der Organisierten Kriminalität über Warlordism bis zum Terrorismus. Diese Netzwerke zeichnen sich durch eine zweckorientierte Androhung und Anwendung von Gewalt aus. Sie stützen sich auf Gewaltmärkte, sprich: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Geiselnahmen, das Abpressen von Zwangssteuern, etc. Nicht zuletzt verstehen sie sich unter Nutzung transnationaler Sender wie El-Djasira oder CNN auf die Kunst ideologischer Selbstinszenierung, um Unterstützung und nicht zuletzt Spendengelder zu mobilisieren.

Professionelle Gewaltspezialisten im Zeitalter der Globalisierung
Um die zunehmend professionellen Gewaltspezialisten wirksam bekämpfen zu können, muss man zunächst ihre Denk- und Handlungslogik sowie ihr politisches Selbstverständnis begreifen. Georg Elwert (2001) hat anhand von al-Qaida aufgezeigt, dass die neuen Netzwerke des Terrors "kühl, hochvernünftig und lernfähig" sind. Bin Ladens krakenhafte Organisation wie auch zahlreiche Tentakeln haben nicht zuletzt in solchen Ländern gedeihen können, in denen das staatliche Gewaltmonopol ganz oder teilweise zusammengebrochen ist, so in Afghanistan, Sudan und Somalia. Verbindungen bestehen in zahlreiche weitere Länder und Regionen (Naher und Mittlerer Osten, Zentral-, Süd- und Südostasien, Kaukasus, Südosteuropa, östliches Afrika). Die hohe Wirksamkeit des al-Qaida-Netzwerkes gründet dabei maßgeblich auf Organisationsgeschick, Charisma, Geschäfts- und Lebensweg Osama bin Ladens:

"Gestützt auf seine Business-Erfahrung und sein Wissen um islamische Traditionen führt er westliche Management-Prinzipien und frühislamische Kooperationstechniken zusammen: Management by Objectives (durch Zielvereinbarung) und Management by Delegation (durch Verantwortungsübertragung) in Verbindung mit der Idee autonomer Kampfzellen. Die Idee solcher `Kampfzellen` geht aus den beduinischen Gesellschaften der arabischen Halbinsel hervor." (Hirschmann 2001, 11)

Die Terrorakte der letzten Jahre stellen das Ergebnis einer neuartigen Strategie von Gewaltakteuren dar, die auf politische Macht, ökonomischen Gewinn sowie auf ideologisch-religiöse Anerkennung und Verehrung abzielt. Sind die Attentate auch Ausdruck des von Samuel Huntington (1993) vor einem guten Jahrzehnt prophezeiten "clash of civilizations" (Huntington 1993)? Ja und nein. Nein, weil dieser Zusammenprall der Zivilisationen auf höchst fragwürdigen Annahmen über die "westliche" oder die "islamische" Zivilisation beruht und der transnationale Terrorismus sich besser aus veränderten Kalkülen von Gewaltakteuren im Zeitalter der Globalisierung erklären lässt. Teilweise aber auch ja: Denn es gibt offensichtlich Konflikte, Spannungen und Wahrnehmungen zwischen Teilen der westlichen und Teilen der islamischen und insbesondere arabischen Welt. Vor diesem Hintergrund stilisiert sich der Terrorismus … la al-Qaida zur Stimme der muslimischen Bevölkerung gegen den Imperialismus einer (als "verdorben" verachteten) westlichen Kultur. Diese Selbststilisierung ist auch deshalb wirkungsmächtig, weil breite Bevölkerungsschichten in islamisch geprägten Ländern den westlichen Dominanzanspruch im politisch-militärischen sowie kulturell-normativen Bereich als Demütigung empfinden.

"Der Westen" gegen "den Islam"?
Die immer stärkere Zuspitzung auf einen Gegensatz "Westen gegen Islam" verdeckt die Vielschichtigkeit von Konfliktlinien, wie sie innerhalb muslimisch geprägter und westlicher Gesellschaften bestehen und die sich in den Dichotomien "säkular-modern" versus "religiös-fundamentalistisch" nur bedingt erfassen lassen: So finden sich in zahlreichen islamischen Ländern auf "säkularer" Seite neben aufgeklärten Reformern auch repressive Autokraten, die auf eine Zwangsmodernisierung ihrer Gesellschaften setzen und sich bei der Durchsetzung ihrer Politik islamistischer Gewalttäter zu bedienen wissen: sei es, um mit Verweis auf drohende Gefahren eine Liberalisierung zu verhindern; sei es, um durch die klandestine Förderung von Gewaltgruppen zivile Oppositionsbewegungen zu zersplittern. Auf "religiöser" Seite wiederum gibt es neben fundamentalistischen Strömungen auch islamische Modernisierer - die Türkei ist derzeit das beste Beispiel hiefür.

Auch die westlichen Gesellschaften geraten angesichts zunehmender Terrorattentate unter Druck; der Anschlag von Madrid am 11. März 2004 hatte zweieinhalb Jahre nach dem 11. September 2001 dabei eine besondere Bedeutung, insofern die neue Qualität des Schreckens direkt nach Westeuropa getragen wurde. Neben sehr berechtigten Sicherheitsvorkehrungen mehren sich Abgrenzung und ein Generalverdacht gegenüber Immigranten aus anderen Kulturkreisen. Die Abschottung gegenüber möglichen Asylbewerbern wird immer hermetischer und geht mitunter mit menschenunwürdiger Behandlung einher. Das gesellschaftliche Klima verschärft sich. Offene Fremdenfeindlichkeit - verbunden mit direkter Gewalt bis hin zu Totschlag und Mord - ist zwar nach wie vor kein umfassendes Phänomen, kann aber zumindest in bestimmten Stadtteilen oder auch Landesregionen "fremd" aussehenden Menschen das Leben schwer machen - bis hin zu sehr realen Bedrohungen der physischen Integrität. Ein weiteres kommt hinzu: Das politische Attentat, nach dem "linken" Terrorismus der 70er Jahre ein absolutes Randphänomen im gesellschaftlichen Leben westlicher Staaten, könnte nach dem Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh wieder an Bedeutung gewinnen. Westliche Länder, die einen hohen Anteil an gesellschaftlich nicht integrierten Immigranten haben, in denen es einen organisierten Rechtsextremismus sowie einen Antisemitismus (in unheiliger Allianz von islamischen und Rechtsextremisten) gibt, scheinen in naher Zukunft vor sozialen Erschütterungen und damit verbundener politischer Gewalt nicht gefeit.

Kann man dem transnationalen Terrorismus den Boden entziehen?
Dem transnationalen Terrorismus ist nicht mit konventionellen Antworten beizukommen. Zugleich reagieren Politik und Öffentlichkeit auf die neuen internen wie externen Sicherheitsbedrohungen immer noch allzu reflexhaft. Dies gilt für die Sicherheits- und Militärpolitik der USA und ihrer engsten Verbündeten, die sich nicht auf die gezielte Ausschaltung von Trainingsbasen und Stützpunkten beschränkt, sondern meint, durch Interventions- und Präventionskriege sowie durch die Aufrüstung fragwürdiger Koalitionspartner dem Problem Herr werden zu können. Auch manche Maßnahmen der Entwicklungspolitik erwecken den Eindruck, dass alte Rezepte aus den Schubladen geholt werden, die für das Ziel nur wenig relevant sind. Ein Beispiel: So sehr eklatante Armut und das sich verschärfende Nord-Süd-Gefälle bei Wohlstand und Lebenschancen einen Nährboden für die Unterstützung des Terrorismus bilden können, so wenig dient eine armutsorientierte Entwicklungsstrategie zu dessen unmittelbarer Bekämpfung. Denn es sind in der Regel nicht die Armen, die rebellieren. Vielmehr stammen die "Hohenpriester" der Gewalt aus wohlhabenderen und gut gebildeten Schichten der Geschäftswelt sowie der technischen und akademischen Intelligenz. Auch ein Blick auf die Landkarten spricht gegen einen engen Zusammenhang von Armut und Terrorismus (Laqueur 2001). Denn dieser kommt sowohl in ärmeren Regionen eines Staates (zum Beispiel Peru) als auch in reicheren Landesteilen (zum Beispiel Punjab/Indien, Nordosten Sri Lankas/Tamilen) vor. Schließlich spielt der transnationale Terrorismus in den Ländern, die von der UNO als die Ärmsten der Armen bezeichnet wurden, keine größere Rolle als in Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen. Vermutlich ist es sogar eher umgekehrt.

Gibt es konkretere Ansatzpunkte, dem transnationalen Terrorismus den Boden zu entziehen? Ich meine ja, wenn auch nur in begrenztem Umfang. Neben zielgerichteten und verhältnismäßigen Maßnahmen im Bereich innerer wie äußerer Sicherheit, die eindeutig durch die innerstaatlichen Verfassungen oder aber die UN-Charta legitimiert sein müssen, sollte die Ökonomie des Terrors im Vordergrund stehen. Lokal verankerten und regional vernetzten Kriegsökonomien ist dabei nicht leicht beizukommen. Zugleich können sie durch ein Bündel von Maßnahmen zurückgedrängt werden, insbesondere durch die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, finanzielle Anreizsysteme für nicht-kriminelle Wirtschaftsaktivitäten und - wo nötig - die Legalisierung illegal erworbener Reichtümer als Gegenleistung für die Unterstützung rechtsstaatlich geregelter Wirtschaftsverhältnisse. Mindestens ebenso stark wie auf lokale und regionale Strukturen stützt sich der transnationale Terrorismus aber mittlerweile auf global angelegte Finanznetzwerke. Sie dienen dazu, kriminell nutzbare Ressourcen auf den internationalen Kapitalmärkten und bei ausgewählten Wirtschaftsunternehmen anzulegen. Pikanterweise laufen die Fäden dieser kriminellen Netze nicht in den sog. "Schurkenstaaten", sondern häufig in den Banken und Investmentfonds der Golfanrainer zusammen. Die diversen Geldhäuser verfügen zum Teil über exzellente Beziehungen zu Politik und Wirtschaft des Westens. Eine wichtige Antwort ist die Trockenlegung solcher Finanzquellen - ein Weg, der mit der UN-Sicherheitsratsresolution 1373 vom 28. September 2001 eingeschlagen wurde und der noch weitaus zielgenauer und konsequenter verfolgt werden muss.

Die unmittelbareren und wirklich kritischen Hintergründe für das Entstehen des transnationalen Terrorismus liegen zu einem guten Teil in den innergesellschaftlichen Zuständen seiner Ursprungsländer. Politische Gewalt entsteht vor allem da, wo Repression und fehlende Lebensperspektiven nicht mehr hingenommen und politische Artikulationsmöglichkeiten verwehrt werden. "Für die Machtlosen", so Elwert (2001: II), "schafft der Terror ein Surrogat". Dies gilt für ganz bestimmte Länder, aus denen sich die al-Qaida rekrutiert, vorneweg Saudi-Arabien und Ägypten. Hochproblematisch ist zudem, dass Saudi-Arabien weltweit einen wahabitisch orientierten, intoleranten Islam fördert - und damit in vielen Ländern das ideologische wie materielle Umfeld für einen fremdbestimmten und mitunter extremistischen Islamismus schafft.

Auch westliche Gesellschaften sind hinsichtlich ihrer internen Brüche und Identitätskonflikte gefordert. Die zunehmende Segregation muslimischer Immigranten-Communities hat zu einem Klima beigetragen, in dem wechselseitiges Misstrauen wächst und gewaltbereite Randschichten mit einem gewissen Sympathisantenkreis rechnen können. Das Problem wurde in Deutschland bislang von konservativer wie von liberaler und progressiver Seite aus unterschiedlichen Gründen ignoriert oder verzerrt wahrgenommen: Während die konservative Seite zur Abschottung neigte oder aber Immigranten in den letzten Jahren zur Einordnung unter eine "deutsche Leitkultur" aufforderte, war es für das liberale und progressive Lager allzu oft Tabu, ernsthafte Wertkonflikte zu thematisieren (etwa bei der Verletzung von Frauenrechten oder bei der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensformen). Nur hinter einer verschwindend geringen Anzahl von Konflikten zwischen Immigranten und "Alteingesessenen" lauert natürlich das Problem transnationaler bzw. transkultureller Gewalt - und Terrorismus bildet eine extreme Ausnahme. Trotzdem: Zu lange haben Staat und Gesellschaft islamistische Hetze und die Entwicklung von Parallelgesellschaften und gewaltbereiten Jugendkulturen nicht wahrhaben wollen oder mit ineffektiven Instrumenten reagiert. Die Augen lassen sich nicht länger verschließen. In Deutschland wurden offenkundig monströse Attentate mit vorbereitet. Und wer kann sagen, ob wir gegenüber einer Eskalation politischer Anschläge, wie sie derzeit in den Niederlanden droht, immun sind? Notwendig sind Allianzen quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Lager, die wechselseitig Anerkennung und Integrationsbereitschaft signalisieren, Gewalt delegitimieren und nicht zuletzt mit allen verfügbaren rechtsstaatlichen Mitteln gegen ideologisierte Gewalt vorgehen. Ein neuer Konsens ist gefragt. Die Suche nach einer "deutschen" Leitkultur ist dabei wenig hilfreich und taugt allenfalls für polarisierte Wahlkämpfe. Stattdessen aber gilt es, Mindeststandards zu definieren, die eine de facto multikulturelle Gesellschaft zusammenhalten können. Das Grundgesetz wie auch die damit verbundene Errungenschaft, innerhalb dieses Rahmens private Überzeugungen und Neigungen verwirklichen zu können, bilden eine bessere Basis, als manche glauben machen. Aber auch eine gemeinsame Sprache gehört dazu - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Ausgewählte Literatur

Elwert, Georg, 2001: Kühl, hochvernünftig und lernfähig. Wie terroristische Gruppen unter dem Dach von Ideologiefirmen effizient arbeiten und Attentäter heranziehen, in: Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober 2001, S. 16.

Huntington, Samuel, 1993: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Vol. 72 (Summer 1993) No. 3, S.22-49.

Laqueur, Walter, 2001: Ist Armut ein Grund für den Hass der Moslems? Ursachen des Terrors: Mythos und Realität. Eine Spurensuche nach den Motiven der Anschläge vom 11. September, in: Die Welt vom 4. Dezember 2001.

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