6x jährlich erscheint unsere Zeitschrift "FriedensForum" und informiert über Neuigkeiten aus der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeheft zu!
Enthumanisierung und Entkurdisierung Hand in Hand!
Türkisch besetzter Teil Kurdistans
von
Als die Redaktion des Friedensforums mich bat, „einen Beitrag über die aktuelle Situation in der Osttürkei“ zu schreiben, habe ich nicht gezögert, ja zu sagen, weil ich mich dem Friedensforum, dem Netzwerk Friedenskooperative und der Friedensbewegung seit über 40 Jahren verbunden fühle. Dann überlegte ich lange. Was kann man über das Land und die Bevölkerung der „Anwaltslosen“ schreiben?
Kaschmir kann und darf man als Kaschmir benennen. Palästina, Tibet und Westsahara ebenso. Selbst die „Verdammten dieser Erde“ nannte man Algerier*innen und ihr Land Algerien. Jede Ecke der Welt hat einen historischen, traditionellen, geografischen und politischen Namen, auch das Land der Kurd*innen.
Zur Begrifflichkeit
Das Land der Kurd*innen haben die Seldschuken vor tausend Jahren Kurdistan benannt. Auf den Karten der Osmanen wurde dieses Land mit Siegeln der Sultane als Kurdistan bezeichnet. Als ich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nach Berlin kam, war ich positiv überrascht und sehr erfreut, als ich in den Atlanten meiner Schwestern ebenso diese Bezeichnung sah. Karl May und „Durch wilde Kurdistan“, das 1892 erschien, kennen vielleicht die jüngeren Generationen nicht, aber über 60-jährige schon.
Selbst einige der Unterdrückerstaaten nennen die Siedlungsgebiete der Kurd*innen Kurdistan. Im Iran existiert auch heute noch eine Provinz unter diesem Namen. Im Irak hat man die kurdisch dominierten Gebiete immer als Kurdistan benannt. Seit 2005 ist Irak föderal und kurdische Gebiete werden von der Kurdistan-Regionalregierung als ein Bundesland regiert, wo ein deutsches Konsulat existiert. Selbst in Syrien wurden die kurdischen Parteien mit den Namenschildern „Kurdistan“ seit über 50 Jahren geduldet; kurdische Kultur konnte sich entfalten, auch unter Vater und Sohn Assad.
Nur in der Türkei wurde alles, was mit Kurdisch-Sein zu tun hatte, verboten. Verboten wurde die Anwendung der kurdischen Sprache, Namen, Kultur und Geschichte. Das Wort Kurde wurde durch „Bergtürke“ ersetzt. Alle Bestrebungen der Kurd*innen wurden brutal im Keim erstickt.
Nichts Neues unter türkischer Herrschaft
Die Türkei ist Mitglied der UNO, des Europarats, der NATO und Beitrittskandidatin der EU. Seit mindestens 40 Jahren führt sie die Rangliste der vom Europäischen Gerichtshof in Straßburg registrierten Menschenrechtsverletzungen an.
Sie führt Kriege innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen und ist aktiv beteiligt an mehreren Konflikten und bewaffneten Auseinandersetzungen in Bergkarabach, Irak, Syrien, Libyen, Zypern und Griechenland.
Sie führt Kriege gegen die Kurd*innen, nicht nur innerhalb ihrer Staatsgrenzen, sondern auch seit über zwölf Jahren in Syrien und seit Jahrzehnten in Irakisch-Kurdistan, auch mit NATO-Waffen, Kampfjets, Drohnen und Militärverbänden.
Sie ist unverzichtbar für den Westen, weil sie an der Nord-Süd- und Ost-West-Achse liegt und den Okzident mit dem Orient verbindet. Sie bildet die Südostflanke der NATO. Durch ihre Lage ist sie unschätzbar und strategisch tödlich wichtig.
Dies alles bildet zugleich das Dilemma der Kurd*innen. Egal, was sie tun, was sie erleben und wie sie sich verhalten, interessiert den Rest der Welt fast nicht, auch nicht die sogenannten Wertegemeinschaften der westlichen Welt.
Erneute Fluchtbewegung Richtung Europa
Im von der Türkei besetzten und beherrschten Teil Kurdistans herrscht seit zehn Jahren erneut eine Ausrottungspolitik. Zehntausende Aktivist*innen der kurdischen Bewegung sind ohne nennenswerte Gründe verhaftet, darunter der Vorsitzende der HDP (Demokratische Partei der Völker), Selahattin Demirtaş, dessen Freilassung der Europäische Gerichtshof seit Jahren vergeblich einfordert.
Weitere Zehntausende zivile Kader der legalen kurdischen Parteien, der Menschenrechtsorganisationen, Frauenverbänden, Gewerkschaften und gewählte Abgeordnete und Bürgermeister*innen mussten sich ins Exil im Ausland begeben. Einige gingen nach Süd-Kurdistan im Irak, andere wiederum in Richtung Deutschland und Europa. Bei den Flüchtlingszahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für das erste Halbjahr 2024 liegt die Türkei als Herkunftsland mit 23.846 Anträgen hinter Syrien und Afghanistan auf dem dritten Platz.
Nicht nur dies. Bei der Pressefreiheit lag die Türkei, als Erdogan und seine Partei AKP 2002 die Regierungsgeschäfte übernommen haben, auf dem 99. Platz in der Welt. Dieser Index der Pressefreiheit verschlechterte sich fortwährend und rutschte 2021 auf 153 und 2023 auf 165. Und die Tendenz ist fallend.
Im kurdischen Batman wurden z.B. im Juli 2024 drei Frauen verhaftet. Die Abgeordnete der DEM-Partei, Zeynep Oduncu, traf sich im Gefängnis mit diesen Frauen: Emine Kaya (54), Sare Kaya (59) und Nezete Bölek (58). Sie wurden misshandelt und einer Leibesvisitation unterzogen. Sie sagten: „Wir schämten uns beim Ausziehen. Denn so etwas haben wir noch nie erlebt. Wir mussten uns nackt ausziehen, obwohl wir zu Hause unseren Arm bis zum Ellenbogen nicht gezeigt haben“.
Wenn Tanzen und Singen zum Widerstandsmittel werden
Der Sommer ist Ferienzeit und die Saison der Geselligkeit und Hochzeiten. Nach der Ernte wird gefeiert und geheiratet, seit Jahrtausenden, auch in Kurdistan. Absurdität aber kennt keine Grenzen. Jahrzehntelang war das kurdische Neujahrsfest Newroz verboten. Tanzende und singende Kurd*innen wurden festgenommen und verhaftet. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Hunderte von ihnen erschossen und ermordet, weil sie ein Fest feiern wollten.
Nun, seit einigen Wochen, werden tanzende und singende Kurd*innen wieder verhaftet. Nach den Festnahmen der tanzenden Kurd*innen ist eine neue Protestwelle ausgebrochen. Der kurdische Tanz wurde zu einem Widerstandsmittel und wird nun in allen Ecken der Türkei und auf allen öffentlichen Plätzen in Kurdistan in Begleitung kurdischer Musik getanzt. Videos der Tanzenden werden in den sozialen Medien gepostet. Tausende, Zehntausende begehen aus Zivilcourage dieses „Verbrechen“.
Wenn Verkehrsschilder, weil sie kurdisch sind, verboten werden
Kurd*innen sind die Verbote nicht fremd. In den 1990er Jahren hat man vielerorts Verkehrsampeln verboten, weil diese die kurdischen Farben - Rot, Gelb und Grün - zeigten. Eben diese international anerkannten und in allen Ecken der Welt angewandten Ampeln wurden in einigen Kommunen in Kurdistan in Rot, Gelb und Blau ausgetauscht.
Im Jahre 2024 werden wir erneut Zeugen eines ähnlichen Vorgehens der türkischen Macht. Nach den Kommunalwahlen Ende März 2024 gewann die kurdische Partei DEM fast alle zuvor von der AKP-Regierung unter Zwangsverwaltung gestellten Kommunen (u.a. Van, Diyarbakir, Mardin). Einige von ihnen haben Verkehrsschilder auf Zebrastreifen neben Türkisch in kurdischer Sprache beschriftet: Pêşî Peya („Vortritt für die Passanten“, damit die örtliche Bevölkerung es verstehen kann und die Fahrenden sich daran halten sollen.
Im kurdischen Van wurden die auf Zebrastreifen geschriebenen kurdischen Schilder „Pêşî Peya“ in der Dunkelheit der Nacht in „Türkei ist türkisch und wird türkisch bleiben“ übersprüht. Dann ordnete das Gouverneursamt in Diyarbakır ebenfalls die Löschung dieser Schriften an. Schließlich stellte sich heraus, dass das Innenministerium in Ankara diesen Befehl erteilt hatte.
Diese „Nebensächlichkeiten“ und diese Willkür erinnern uns an die Machenschaften der 1980er und 1990er Jahre, als der Krieg der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung tobte. Aufgrund dieser Tatsache ist es nicht übertrieben zu sagen, dass sich der Krieg der Türkei gegen die Kurd*innen fast ununterbrochen fortsetzt und aus dem Orient keine positiven Berichte zu erwarten sind.