Für eine Welt ohne Rüstung und Militär - ein Kommentar

Über die Funktion von radikalen Visionen

von Christine Schweitzer

„Bundesrepublik ohne Armee“, „Ohne Waffen, aber nicht wehrlos“, „Ohne Rüstung leben“, „Einseitige Abrüstung“, „Auflösung der NATO“ – alle diese als Slogans gefassten Forderungen aus den letzten dreißig Jahren scheinen heute beinahe in Vergessenheit geraten zu sein. Dass in der Schweiz 1989 36% der Bevölkerung für die Abschaffung der Schweizer Armee stimmten, klingt wie ein Märchen von vorgestern. Die Friedensbewegung ist wieder bescheidener geworden: Hauptforderungen heute sind der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und Abrüstungsschritte bei den Atomwaffen.

Die Forderungen nach radikaler Abrüstung sind größtenteils unter den Parametern des Ost-West-Konflikts entstanden. Heute sieht die sicherheitspolitische Landschaft anders aus: Ohne dass die alten ‚Feinde’ wirklich verschwunden wären (Russland und China werden immer noch in Strategiepapieren als mögliche Gegner benannt), geht es bei der Bereithaltung und dem Einsatz von Militär heute um uneingeschränkte Verteidigung der eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen auf weltweiter Ebene.(1) Und die gewaltige Macht der Rüstungsindustrie tut das ihrige, dass die Staaten nicht aufhören, immer wieder neue Waffensysteme bauen zu lassen und zu kaufen.(2)

Das Doppelgesicht humanitärer Interventionen
Lange Zeit ist es den Verantwortlichen gelungen, diese Interessen hinter humanitären Anliegen zu verstecken. Vor allem die schrecklichen Kriege im ehemaligen Jugoslawien und der Genozid in Ruanda machte es ihnen in den neunziger Jahren leicht, denn dort war das humanitäre Anliegen nicht nur Vorwand. Trotz des oben Gesagten: Man macht es sich zu einfach, jeden Ruf nach militärischem Eingreifen mit wirtschaftlichen oder strategischen Interessen zu begründen oder stets nur nach der Ölpipeline oder Ölquelle in einem Krisengebiet zu suchen. Der Druck der Öffentlichkeit auf ihre Regierungen, „was zu tun“, ist ebenfalls ein mächtiger Faktor, und er erklärt, warum im ehemaligen Jugoslawien militärisch interveniert wurde und in Ruanda nicht. Die ethische Berechtigung, massive Verletzungen des Menschen- und Völkerrechts wie Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht einfach hinzunehmen, dürfte wohl weithin geteilt werden.(3) Die Frage aber lautet: Muss es denn soweit kommen? Welche Möglichkeiten der rechtzeitigen Prävention, der gewaltfreien Bearbeitung der Konflikte, die eigentlich immer diesen Verbrechen vorausgehen, gibt es? Wo bleibt der politische Wille zum rechtzeitigen Handeln?

Die Verteidigung „unserer“ Sicherheit
Aber der Diskurs beschränkt sich inzwischen auch gar nicht mehr auf die humanitäre Ebene. Spätestens seit dem berühmt gewordenen Diktum des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD) von 2004, demzufolge Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt werde, wird militärische Aktion durchaus wieder wie vor 1989 mit den Werten ‚Sicherheit’ und ‚Freiheit’ gerechtfertigt.(4) Nur ist die Bedrohung jetzt nicht mehr der Einmarsch des jeweils anderen Militärpakts, sondern schon seit dem NATO-Strategiepapier von 1999 operiert die Politik mit einer weit gefassten Liste von Sicherheitsrisiken (5):

  • Angriff eines anderen Staates oder einer anderen Staatengemeinschaft auf das Territorium des eigenen Landes. (Hier denke man an die Stationierung von Patriot Flugabwehrraketen in Polen Ende Mai 2010. Spätestens seit der russischen Intervention in Georgien 2008 wird Russland wieder zu den potentiellen Gegnern der NATO in Europa gezählt.)
  • Kriege und Bürgerkriege am Rande des NATO-Gebiets oder anderenorts, die potentiell die Sicherheit oder lebenswichtige Interessen der NATO-Mitglieder berühren. (Das ehemalige Jugoslawien ist hier das wichtigste Beispiel.)
  • Proliferation von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen. (Siehe die heutige Diskussion um den Iran.)
  • Terrorismus und Sabotage. (Seit 2001 hat dieser Punkt natürlich erheblich an Gewicht gewonnen, schließlich rief die NATO nach dem 11. September 2001 zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus – wegen eines Terroraktes!)
  • Organisierte Kriminalität. (Dieser Punkt bleibt eher unterbelichtet – eher leisten internationale Truppen einen aktiven Beitrag zu seiner Förderung, wenn man mal an Bordelle mit Zwangsprostituierten denkt, die in der Nähe von internationalen Truppenlagern eingerichtet werden.)
  • Unterbrechung des Flusses wichtiger Ressourcen. (Nach offizieller Lesart sind hier Afghanistan und Irak natürlich KEINE Beispiele … )
  • Flüchtlingsströme. (Hier wird heute oft auch auf die Folgen des Klimawandels und durch ihn ausgelöste Flüchtlingsbewegungen verwiesen. Das hatte man 1999 noch nicht so im Blick … )

Das Weißbuch der Bundesregierung von 2006 enthält übrigens eine ähnliche, aber noch detailliertere Liste von „globalen Herausforderungen, Chancen, Risiken und Gefährdungen“. Auch wenn nicht behauptet wird, dass die Bundeswehr die Antwort auf alle diese Punkte sei – die Seite über den „Aktionsplan zivile Krisenprävention“, das wohl vorrangigste Instrument ziviler Konfliktbearbeitung, das sich die Bundesregierung gegeben hat, wurde offensichtlich nachträglich eingefügt, wie das andere Schriftbild der entsprechenden Seite (S. 27) nahelegt. Direkt auf der nächsten Seite folgt dann ein Foto eines Soldaten mit Schutzweste im Gespräch mit zwei Afghanen und der Bildunterschrift „Der Begriff ‚zivile Krisenprävention’ ist nicht als Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu verstehen, sondern schließt diese ein. Er umfasst sowohl die Bearbeitung von Konflikten vor dem Ausbruch von Gewalt, das Krisenmanagement wie auch die Konflikt-Nachsorge.“

Sicherheit kommt von Frieden
Drei Fragen stellen sich hier. Zum einen: Was für ein Denken offenbart sich in diesen Strategiepapieren? Auf machtpolitischer Ebene ist es der Anspruch, die gesamte Welt direkt oder indirekt kontrollieren zu wollen und zu können. Auf wirtschaftlicher Ebene ist es die Verteidigung der eigenen Privilegien und des eigenen relativen Reichtums gegenüber dem Rest der Welt. Und auf kultureller Ebene ist es die Annahme der Überlegenheit der westlichen ‚Zivilisation’ (und des Christentums) gegenüber allen anderen Lebensentwürfen und Religionen. Es ist dieses Denken, das gewiss gewöhnlich nur halb bewusst ist, das herausgefordert und in Frage gestellt werden muss.

Zum zweiten sollte gefragt werden, was ‚Sicherheit’ eigentlich heißt. Ist es überhaupt möglich, absolute Sicherheit herzustellen? Ekkehart Krippendorff schrieb dazu vor einiger Zeit: „… Sicherheit ist nichts, das uns irgendwelche Institutionen, Staaten, Behörden oder Rechtsverhältnisse verschaffen können. Sie ist, ebenso wie die Freiheit …, für Geld nicht zu haben – im Gegenteil. Je mehr wir uns versichern, umso unsicherer werden wir. Die (außenpolitische) Geschichte des Kalten Krieges mit ihrer zentralen sog. ‚Sicherheitspolitik’ ist eine dramatische Parabel für unsere Frage. … Noch nie war die Menchheit so bedroht, so ‚unsicher’ wie in den Jahren und Jahrzehnten dieser Sicherheitspolitik.“ (6) Fazit: Absolute Sicherheit gibt es nicht, und der Versuch, sie herzustellen, führt gewöhnlich zu mehr Unsicherheit. Die durch den ‚Krieg gegen den Terror’ heraufbeschworene Terrorgefahr ist ein weiteres gutes Beispiel zur Untermauerung dieser These.

Zum dritten: Kann es überhaupt Sicherheit ohne Frieden geben? Frieden ist bekanntlich mehr als die Abwesenheit von Krieg, und wo immer Sicherheit herkommen mag, gewiss nicht aus der Drohung mit und dem Einsatz von Militär. Ist Frieden heute noch zu haben, ohne Globalisierung, Umweltzerstörung, Neoliberalismus, westlichen Kultur-Chauvinismus usw. anzusprechen? Vielleicht war Frieden ‚light’, ohne das Angehen dieser grundsätzlichen Probleme, nicht nur erst heute nicht, sondern nie zu haben. Sonst hätte die scheinbare ‚Friedensdividende’ nach 1989 nicht so schnell in einer Umstrukturierung und Umformulierung der militärischen Ziele der NATO und der führenden Militärstaaten geführt.

Stell Dir vor, …
Eine Vision einer Welt ohne Rüstung und Militär muss gleichzeitig konkret und offen sein. Es geht nicht darum, einen Zehn-, Zwanzig- oder Fünfzig-Jahre-Plan zu entwerfen, mit allen Schritten von hier bis zur vollständigen Abrüstung. Letztlich reden wir hier über komplexen sozialen Wandel, und der lässt sich (zum Glück!) trotz aller empirischer Sozialwissenschaft nun mal nicht planen. Deshalb würde ich eher von einer „eingebetteten“ Vision sprechen wollen: Wie lässt sich das, was man heute tut, so gestalten, dass es das erstrebte Zukünftige bereits in sich birgt? Welche Forderungen und Zwischenschritte lassen sich heute stellen, deren Erfüllung möglich scheint, und die gleichzeitig in die richtige Richtung weisen?

Ein Element scheint mir dabei wichtig: In unserer globalisierten Welt nützt es letztlich wenig, wenn z.B. Deutschland allein aus der NATO austräte anstatt darauf hinzuwirken, dass sie aufgelöst wird. Oder wenn Atomraketen von hier abgezogen werden, damit sie 50 km jenseits der Grenze neu stationiert werden. Oder wenn ein Land abrüstet, solange es unter dem Schirm oder der Kontrolle mächtiger Verbündeter steht, wie dies mit Costa Rica der Fall ist, das keine eigene Armee hat, aber zum virtuellen Hinterhof der USA gehört. (Wobei die Abrüstung natürlich durchaus innenpolitisch der Bevölkerung ‚was gebracht’ hat in Bezug auf Wohlstand und Reduzierung des Gewaltpotentials.) Es ist beinahe wie bei einem Langstreckenrennen: Wenn sich einer vom Pulk trennt, ohne dass er die anderen mitnimmt, dann wird er in der Regel schnell wieder eingefangen. Einseitige Schritte sind trotzdem richtig. In diesem Sinne würde z.B. ein sofortiger Rückzug der deutschen Truppen aus Afghanistan ein Signal sein an die Verbündeten, dass der Krieg beendet werden muss. Das Gleiche würde gelten für drastische Abrüstungsschritte wie z.B. eine einschneidende Reduzierung der Bundeswehr , die auch nach zu Guttenbergs Sparplänen immer noch mehr als 200.000 SoldatInnen umfassen soll.

Weitere wesentliche Elemente einer radikalen Strategie heute scheinen mir zu sein:

  • Beharren auf ziviler Krisenprävention als Alternative zu militärischem Einsatz, und Kritik an deren Vermengung. „Frieden mit und ohne Waffen“ war schon immer falsch.
  • Einen Schritt weiter denken als die militärischen Think Tanks: Durchspielen, welche Folgen ihre Vorschläge längerfristig haben könnten.
  • Die Cato’sche Methode: Der römische Senator Cato rief bekanntlich bei jeder Senatssitzung: „Im Übrigen meine ich, dass Karthogo zerstört werden muss“. Vielleicht sollten wir viel häufiger in unseren Papieren, Aufrufen und Konferenzbeiträgen wieder das scheinbar Utopische, nämlich totale Abrüstung, benennen, auch wenn das Hauptthema die heutige Realpolitik ist.
  • Vermeiden von legitimatorischen Fallen, z.B. von Afghanistan und Irak nicht als „Intervention“, sondern als „Kriegen“ sprechen.
  • Chancen erkennen und am Schopfe ergreifen. Vielleicht sind die Sparmaßnahmen 2011 eine solche Chance zur öffentlichen Diskussion und zum Protest?
  • Demonstrationen sind nicht die einzige Protestform. Gerade in Zeiten, in denen andere Themen als Frieden die Menschen vorrangig bewegen, gilt es, andere Protestformen zu finden (Internet, Flashmobs, etc.)
  • Bildung und Erziehung: In den Schulen darf der Bundeswehr nicht das Feld der Sicherheitspolitik überlassen werden, während die NROs Streitschlichtung und andere Formen des gewaltfreien Umgangs im privaten Raum vermitteln. Sicherheitspolitik ist Bürger(innen)sache!
  • Sich der Standards des internationalen Rechts bedienen, ohne ins juristische Klein-Klein abzudriften. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte benennt das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person als zentrales Recht. Es sollte nicht länger hingenommen werden, dass dieses Recht durch die Bereithaltung und den Einsatz von Militär ausgesetzt wird. Das gleiche gilt für Beschlüsse der Vereinten Nationen: Wenn eine Intervention ohne Billigung des UN-Sicherheitsrates stattfindet, dann kann dies ein gutes Argument in der politischen Debatte sein. Der Umkehrschluss darf aber nicht gelten: Wenn die UN einen Krieg billigt, dann mag das völkerrechtlich legal sein, legitim ist es trotzdem nicht!

Und im Übrigen denke ich, dass Bundeswehr und NATO aufgelöst werden müssen.

 

Anmerkungen
1) Siehe die Zitate und Quellen in den Beiträgen von Wagner & Lösing, Ronnefeldt und das Zitat von Ex-Bundespräsident Köhler in diesem Heft.

2) Man denke nur an den Druck, dem Präsident Obama ausgesetzt wurde, als er nur geringe Abstriche am Verteidigungshaushalt 2010 machen wollte – das Friedensforum berichtete darüber.

3) Diese vier Begriffe entstammen der ‚Responsibility to Protect’, die als Konzept immerhin 2005 vom UN Weltgipfel der Staatsoberhäupter angenommen wurde.

4) Merkel hat dieses Jahr sich auch wieder darauf bezogen, s. das Zitat in FriedensForum 3/2010.

5) The Alliance’s Strategic Concept, Approved by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Washington D.C. on 23rd and 24th April 1999.

Im Herbst 2010 wird die NATO in Lissabon ein neues strategisches Konzept beschließen. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch dieses neue Papier, egal wie ansonsten seine Ausrichtung sein wird, den Katalog von Sicherheitsrisiken und Bedrohungen beibehalten oder sogar noch weiter ausweiten wird. Siehe die Dokumente auf www.bits.de .

6) Ekkehart Krippendorff, ‚Sicherheit und Freiheit’, in: Soziale Gerechtigkeit statt ‚Innerer Sicherheit’ – Alternativen zur Aufrüstung der Gesellschaft, Hrsg. Bund für Soziale Verteidigung, 1999

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.