Nach der US-Wahl: Welche wirtschaftlichen Interessen sind in der Ukraine bei einem Waffenstillstand mit zu berücksichtigen?

Ukraine-Krieg und die US-Wahlen

von Clemens Ronnefeldt
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Am 5. Oktober 2024 titelte die Berliner Zeitung: „Stoltenberg: Die Ukraine könnte Gebietsverluste an Russland hinnehmen müssen“ und druckte: „Auf die Frage, wie der Krieg seiner Meinung nach enden wird und was er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyi raten würde, antwortet Stoltenberg mit einem historischen Vergleich: ‚Finnland hat 1939 einen mutigen Krieg gegen die Sowjetunion geführt. Sie haben der Roten Armee viel größere Kosten aufgebürdet als erwartet. Der Krieg endete damit, dass sie 10 Prozent des Territoriums aufgaben. Aber sie bekamen eine sichere Grenze‘, so Stoltenberg.“ (1)

Kurz nach dieser Veröffentlichung reagierten insbesondere die Aktienkurse großer Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall, dessen Aktienkurs von über 550 Euro noch Mitte August 2024 am 10. Oktober 2024 auf 481 Euro einbrach. Größter Anteilseigner von Rheinmetall mit rund 11% ist die französische Société Generale in Paris, an zweiter Stelle liegt BlackRock mit 5,5%, es folgen der US-Fond „FMR LLC“ mit 5%, die Goldman Sachs Group mit 4,7% und die Bank of America mit 4,6%. Von allen Rheinmetall-Aktionären Ende des Jahres 2023 kamen 37% aus Nordamerika und 21% aus Europa. (2)

Am 10. Oktober 2024 schrieb die Redaktion des Finanzportals „Onvista“ unter der Überschrift: „Selenskyj offenbar zu Waffenstillstand bereit – Rüstungswerte sinken – Waffenstillstandsdebatte im Fokus“: „Neue Hoffnungsschimmer für Friedenspläne in der Ukraine haben am Donnerstag den Papieren von Rüstungsherstellern zugesetzt. Wie die italienische Tageszeitung ‚Corriere della Sera‘ berichtete, soll der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu einem Waffenstillstand entlang der aktuellen Gefechtslinie bereit sein. ‚Der Krieg kann 2025 enden‘, zitierte das Blatt Selenskyj vor seinem Besuch bei Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Rom. Selenskyj verfolge dabei das Ziel, Garantien zu erhalten für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union, hieß es weiter.“ (3).

Lithium und andere Seltene Erden
Neben den zentralen Fragen der Sicherheit für die Ukraine und der Sicherheit für Russland sind im Zuge eines Waffenstillstandes und Ende des Krieges, das Donald Trump nach seiner Wahl versprochen hat, auch einige weitere wirtschaftliche Fragen zu klären.

Bereits im „Bericht aus Berlin Extra“ (ARD) am 17.12.2023 sagte der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter: „Wenn die Ukraine zerfällt, sind die Folgekosten viel größer, als wenn wir jetzt viel stärker reingehen. Und wenn Europa die Energiewende vollziehen will, braucht sie eigene Lithiumvorkommen. Die größten Lithiumvorkommen in Europa liegen im Donezk- Luhansk-Gebiet. Deswegen will Russland diese auch – und uns abhängig machen von der Energiewende mit Blick auf Elektromotoren. Also wir haben hier auch ganz andere Ziele noch im Hintergrund. Und deshalb brauchen wir eine vereinte Anstrengung der Bürgerinnen und Bürger, damit unsere Politik, die Rückendeckung hat, mehr für die Ukraine zu tun.“ (4)

Durch den Lithium-Deal, den Bundeskanzler Olaf Scholz im Juli 2024 mit der serbischen Regierung unterzeichnet hat, ist die Abhängigkeit der deutschen Automobilindustrie von Lithium aus der Ukraine gesunken.

Noch deutlicher als Roderich Kiesewetter wurde im Juni 2024 der republikanische US-Senator Lindsey Graham in der Sendung „Face The Nation“ von CBS. „Die Ukraine verfüge über ‚zehn bis zwölf Billionen Dollar an kritischen Mineralien‘, das Land sitze ‚auf einer Goldmine‘ und könnte ‚das reichste Land in ganz Europa sein‘. Graham sagte: ‚Wenn wir der Ukraine jetzt helfen, kann sie der beste Geschäftspartner werden, von dem wir je geträumt haben.‘ Der einflussreiche Senator weiter: ‚Ich möchte dieses Geld und diese Vermögenswerte nicht Putin geben, damit er sie mit China teilt.‘ Diese zehn bis zwölf Billionen Dollar an kritischen Mineralien könnten von der Ukraine und dem Westen genutzt werden, anstatt an Putin und China gegeben zu werden. Es sei eine entscheidende Frage, wie der Krieg in der Ukraine ende: ‚Helfen wir ihnen, einen Krieg zu gewinnen, den wir uns nicht leisten können zu verlieren.‘“ (5)

Nach einer Studie der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 17.10.2023 waren 63% der Steinkohle, 42% der Metallerze, 33% der Seltenen Erden, 20% des Erdgases und 11% des Erdöls im Herbst 2023 unter russischer Kontrolle. (6)

Landwirtschaft
In dieser Studie wird auch betont, dass die Ukraine ein weltweit bedeutender Exporteur von Weizen (Platz 5), Gerste (Platz 4), Mais (Platz 4), Sojabohnen (Platz 7), Sonnenblumenöl (Platz 1) und Geflügel (Platz 10) ist.

Die Bedeutung der landwirtschaftlichen Flächen in der Ukraine hat das Oakland-Institut (USA) 2023 untersucht. Unter dem Titel „Krieg und Diebstahl. Die Übernahme des ukrainischen Agrarkulturlandes“ (7) bilanziert das Institut in seiner Zusammenfassung: „Darüber hinaus sind nach Angaben der (ukrainischen, Anm.: C. Ronnefeldt) Regierung rund fünf Millionen Hektar – so groß wie zweimal die Krim – dem ukrainischen Staat von privaten Interessenten ‚gestohlen‘ worden. Die Gesamtmenge an Land von Oligarchen, korrupten Einzelpersonen und großen Agrarkonzernen beträgt damit über neun Millionen Hektar und übersteigt damit 28 Prozent der Ackerfläche des Landes. Der Rest wird von über acht Millionen ukrainischen Landwirten genutzt. Die größten Landbesitzer sind eine Mischung aus Oligarchen und einer Vielzahl ausländischer Interessenten – meist aus Europa und Nordamerika, einschließlich eines in den USA ansässigen Private-Equity-Fonds und des saudischen Staatsfonds Arabien. Bis auf eine Ausnahme sind alle der zehn größten Grundbesitzfirmen im Ausland registriert, hauptsächlich in Steueroasen wie Zypern oder Luxemburg.“ (Seite 4, übersetzt mit deepl translate).

Mit mehr als 290 000 Hektar liegt der in den USA registrierte NCH Capital Fond auf Platz 5 der größten Landkontrolleure (Besitzer und Leasing-Unternehmen) in der Ukraine. Bekannte frühere und aktuelle Investoren dieses NCH Capital Fond sind u.a. die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die Pensionsfonds von General Electric und Lockheed Martin, die Universität von Michigan Endowment und die Harvard Universität.

Auf den landwirtschaftlichen Böden der Ukraine werden die Pensionen und Renten der ehemaligen Mitarbeiter*innen nicht nur großer US-Rüstungskonzerne, sondern auch der Dow Chemical Company oder von Honeywell International erwirtschaftet.

Waffenstillstand?
All diese Faktoren spielen bei der aktuellen Suche nach einem Waffenstillstand neben Sicherheitsgarantien für die Ukraine und den Forderungen Russlands nach Nichtaufnahme der Ukraine in die Nato eine Rolle.

Die neue US-Regierung möchte sich auf das Duell mit China konzentrieren, dessen Juniorpartner Russland über den Ukraine-Krieg seit dem russischen Überfall sowohl materiell als auch personell erheblich geschwächt wurde. Dieses Ziel hatte die US-Regierung im April 2022 offiziell ausgegeben: „Amerika will Russland über den Krieg hinaus schwächen“, titelte die F.A.Z. am 27. April 2022 – und führte nach den gescheiterten Friedensverhandlungen von Istanbul Ende März 2022 aus: „Zwei Monate nach Kriegsbeginn setzt Washington sich neue Ziele. Die amerikanische Regierung bereitet sich auf eine jahrelange Auseinandersetzung mit Moskau vor“. Diese Strategie wird mit Präsident Donald Trump enden.

Am 16. November 2024 berichtete n-tv im Ukraine-Ticker: „Die Ukraine muss nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj alles ihr Mögliche unternehmen, um den Krieg mit Russland im kommenden Jahr auf diplomatische Weise zu beenden.“ Und: „Mit Donald Trump als neuem US-Präsidenten wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ‚früher‘ enden. ‚Es ist sicher, dass der Krieg mit der Politik des Teams, das jetzt das Weiße Haus führen wird, früher enden wird‘, sagt Selenskyj in einem Interview mit der öffentlich-rechtlichen ukrainischen Medienanstalt Suspilne.“ (8).

Diese neuen Entwicklungen haben vermutlich auch Olaf Scholz Mitte November 2024 bewogen, nach zwei Jahren erstmals wieder mit Wladimir Putin zu telefonieren.

Anmerkungen
1 https://www.berliner-zeitung.de/news/stoltenberg-die-ukraine-koennte-geb...
2 https://ir.rheinmetall.com/de/investor-relations/aktie/aktionaersstruktur/
3 https://www.onvista.de/news/2024/10-10-ruestungswerte-sinken-waffenstill...
4 https://www.youtube.com/watch?v=Urid8hF54_k&ab_channel=tagesschau
5 https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/ukraine-wiedera...
6 https://www.bundestag.de/resource/blob/979936/3fb61813be6833a3b4278acda8...
7 https://www.oaklandinstitute.org/war-theft-takeover-ukraine-agricultural...
8 https://www.n-tv.de/politik/10-54-Selenskyj-Krieg-naechstes-Jahr-diploma...

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Krisen und Kriege

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.