Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten in der Ukraine-Krise

Ukraine: wie weiter?

von Bernhard Clasen
Hintergrund
Hintergrund

Während vor allem US-amerikanische und britische Medien vor einem bevorstehenden großen Krieg in der Ukraine und einem russischen Einmarsch warnen, ist man in der Ukraine gelassen. Präsident Selenski warnt vor Panikmache, sieht in der aktuellen Situation keine größere Gefahr, als man sie schon in der Vergangenheit hatte. Gegenüber dem ukrainischen Dienst von BBC missbilligte Olexij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, die Panik, die von „einigen Partnern der Ukraine“ verbreitet würde. Diese würde nur Russland in die Hände spielen. Doch auch wenn die Ukrainer*innen mit ihrer Gelassenheit Recht haben sollten und ein neuer Krieg wahrscheinlich nicht kommen wird, hat der seit 2014 andauernde Krieg in der Ukraine tiefe Spuren hinterlassen. 
„Der Aprikosenbaum inmitten unseres Hofes war das Zentrum von unseren Spielen. Um ihn herum haben wir immer getollt, ihn haben wir von unseren Fenstern aus gesehen, und wenn die Aprikosen reif waren, haben wir sie gegessen, wenn wir Lust hatten.  Doch eines Tages hat sich ein Geschoss unter den Baum geschoben. Seitdem ist er verdorrt, bringt keine Aprikosen mehr hervor.“ Olga ist 14 Jahre. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen, fotografieren lassen will sie sich auch nicht. Sie wohnt in der Kleinstadt Switlodarsk, gerade einmal zwei Kilometer von der Front in der Ostukraine entfernt. Regelmäßig besucht sie die Maltherapie des Projektes VPN-Center in Switlodarsk. Immer wieder hört man hier das dumpfe „Bum Bum“ aus nicht allzu weiter Ferne, wenn wieder einmal geschossen wird. Immer wieder ist die Stadt in der Vergangenheit beschossen worden. Zurück bleiben Menschen, die vom Krieg und den Aufenthalten in Schutzräumen traumatisiert sind. 
Depressiv ist es in Switlodarsk. Kein Geschäftsmann, keine Firma will hier investieren. Es gibt keine Restaurants, kein Nachtleben, die Geschäfte verkaufen vor allem Alkoholika. Hinter den Haustüren soll es viel häusliche Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum geben. 
Es sind nicht nur die über 13.000 Menschen, die mit ihrem Leben in diesem Krieg bezahlen mussten. „Hier in dieser Stadt sind alle Kinder traumatisiert“, resümiert die Leiterin des Projektes Olga Vovk. „Für uns interessiert sich niemand. Weder die Regierung in Kiew noch die Separatisten auf der anderen Seite“ sagten mir Frauen, die auf dem Markt von Switlodarsk stehen und auf Kunden warten, im Dezember 2021. Am besten lassen sich auf diesem Markt Koffer verkaufen. Die Regierung in Kiew habe niemandem auf dem Markt Geld gegeben, um die Schäden, die man beim Beschuss durch die Separatisten erlitten habe, zu bezahlen. Und die Separatisten würden sich eine goldene Nase an den Busfahrten verdienen, die man über russisches Territorium antreten muss, wenn man auf die andere Seite will. „Die machen die Checkpoints nicht auf, weil sie dann ihre teuren Busfahrten über Russland nicht mehr verkaufen könnten“, ärgert sich eine Marktfrau über die Separatisten auf der anderen Seite. 

Vom Maidan in den Krieg 
Ich erinnere mich noch sehr farbig an die Maidan-Revolte Ende 2013/Anfang 2014. In dem Kiewer Hochhaus, in dem ich damals lebte, waren Dutzende, die sich jeden Tag auf den Weg ins Stadtzentrum zum Maidan gemacht hatten, um gegen den korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch zu demonstrieren. Die meisten von ihnen waren noch nie zuvor auf einer Demonstration gewesen. Am Ende sah sich Janukowitsch zur Flucht gezwungen. Er hatte gewiss nicht das Format eines Salvador Allende. 
Anschließend war ich sechs Wochen in Donezk, habe erlebt, wie dort viele Menschen über die Ereignisse in Kiew sehr unglücklich sind, ihnen der Kult um den Nationalisten Stepan Bandera, der zeitweise mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet hatte, nicht behagte. 
Ich habe aber auch gesehen, wie gewalttätig in Donezk gegen all die vorgegangen wurde, die eine andere Sichtweise hatten. Noch gut kann ich mich an eine Demonstration von 200 Menschen in Donezk erinnern, die mit ukrainischen Fahnen in der Hand ihre Loyalität Kiew gegenüber bezeugten. 600 Menschen stürzten sich auf sie, mit Ketten und Baseballschlägern. Ich habe von meinem Hotelzimmer aus gesehen, wie sie nach dem Ende der Demonstration die Teilnehmer*innen der pro-ukrainischen Demonstration bis in die Hinterhöfe gejagt und sie dort zusammengeschlagen hatten. Und ich habe auch gesehen, wie schnell in der Stadt Patrouillen von bewaffneten Männern auftauchten, die mir Angst machten. 
Dann ging alles sehr schnell. Die Kiewer Zentralregierung entschied sich für eine militärische Bekämpfung dieser Bewegung, die die Abtrennung von Donezk und Lugansk von Kiew anstrebte, Russland unterstützte die Aufständischen militärisch, finanziell und materiell. Ich habe selbst in Lugansk eine Kolonne von russischen Militärlastwagen gesehen, die von der russisch-ukrainischen Grenze kommend durch Lugansk fuhr. Inzwischen haben über 13.000 Menschen ihr Leben in der Ostukraine verloren, hunderttausende sind schwer traumatisiert, Olga ist eine von ihnen. 

Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor
Die Frage, wie man in diese Situation gekommen ist, ist wichtig, noch wichtiger indes ist die Frage, wie man da wieder rauskommt. 
Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker und das Recht auf Unverletzlichkeit der Grenzen stehen mitunter im Konflikt. Wenn man sich die Karte von Afrika ansieht, fallen die kerzengerade gezogenen Grenzen ins Auge. Die sind von den Kolonialherren gemacht. Und in Afrika erkennt man diese auf ungerechte Weise entstandenen Grenzen heute an, wissend, dass jeder Versuch, diese Grenzen mit Gewalt zu ändern, zu einem Krieg führen wird. Das gleiche gilt für die Ukraine: die einseitig ausgerufene Unabhängigkeit der Krim und das Referendum in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk haben mit zum Krieg geführt. Deswegen dürfen deren Unabhängigkeitserklärungen nicht akzeptiert werden. 
Häufig wird Kiew vorgeworfen, die russische Sprache in der Ukraine zurückzudrängen. Die Art, wie diese Vorherrschaft der ukrainischen Sprache umgesetzt wird, kann in einigen Teilen kritisiert werden. Doch angesichts des Umstandes, dass Russland gerne in anderen Ländern mit dem Vorwand eingreift, die russische Bevölkerung schützen zu wollen, sind die Bemühungen um eine stärkere Rolle der ukrainischen Sprache in der Ukraine notwendig und auch von uns zu unterstützen. 
Immer wieder ist die Rede von „Frieden mit Russland, das Opfer des deutschen Angriffs war“. Stimmt, Russland war Opfer von Nazi-Deutschland. Doch während Nazideutschland 5 % des russischen Territoriums besetzt hatte, waren 100% des ukrainischen Territoriums besetzt. Es kann nicht sein, dass Russland das Andenken an die Opfer des Hitler-Faschismus monopolisiert (1).
Die Hauptkritik an der Ukraine ist die Akzeptanz rechtsradikalen Gedankengutes. In vielen ukrainischen Ortschaften finden sich Denkmäler für den Nationalistenführer Stepan Bandera, der zeitweise mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet hatte; jede Stadt hat eine Bandera-Straße. Wenn das Land mit dem Bandera-Kult Schluss machen würde, würde die russische Propaganda, die auf der starken Präsenz von rechtsradikalem Gedankengut in der Ukraine aufbaut, wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. 
Auch in Polen, ansonsten ein enger Bündnispartner der Ukraine, ist man irritiert über die Verehrung, die dem Partisanenführer Stepan Bandera von der 1942 gegründeten UPA, der Ukrainischen Aufständischen Armee, in der Ukraine zuteil wird. Polen macht die UPA für Morde an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien verantwortlich. Dabei waren zwischen 1942 und 1944 in Wolhynien zwischen 35.000 und 60.000 ethnische Polen ermordet worden. 
Gleichzeitig sollten wir Deutsche auch vor unserer Haustüre kehren. In meiner Heimatstadt Mönchengladbach, gleichzeitig auch Heimatstadt von Propagandaminister Göbbels, trägt die wichtigste Straße der Stadt den Namen des Mannes, der Hitler die Macht gegeben hat, das Ermächtigungsgesetz unterschrieben hat. Hätte Hindenburg Rückgrat gehabt, hätte es keine Konzentrationslager gegeben. Dass ausgerechnet dieser Mann mit seinem Namen die Mönchengladbacher Fußgängerzone „schmückt“, ist unfassbar. 
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und Kriegen. Wer in einer Internetsuchmaschine den Satz „gestern hat unsere Seite den Waffenstillstand gebrochen“ auf einem ukrainischen, russischen oder separatistischen Portal sucht, wird vergeblich suchen. Im Krieg stirbt die Pressefreiheit. Und mit steigender Eskalation zwischen Russland und der Ukraine nehmen auch die Repressionen in beiden Ländern zu. In Zeiten, in denen ein Krieg bevorstehen könnte, haben politische Opposition und Zivilgesellschaft eine wichtige Aufgabe, wird doch gerade in derartigen Zeiten sehr viel gelogen. Deswegen ist es für mich nicht nachvollziehbar, dass aus der deutschen Friedensbewegung zum Verbot von russischen Nichtregierungsorganisationen, wie z.B. Memorial, nichts an Kritik zu vernehmen ist. Genauso wenig nachvollziehbar ist, wenn Personen und Gruppen, die der Ukraine die Demokratie erklären wollen, nicht wahrhaben wollen, dass die Ukraine im letzten Jahr drei oppositionelle Fernsehkanäle und die Internetseite strana.best verboten hat. Und dass die Ukraine mal wieder die Kommunalwahlen in einigen ostukrainischen Gebieten abgesagt hat, ist international auch nicht von Interesse. 
Das Tötungsverbot gilt weltweit. Doch es gibt zwei Ausnahmen: Faschisten darf man töten und Terroristen. In der Ukraine bezeichnet die eine Seite die andere als „Terroristen“, die andere wiederum spricht von „Faschisten“. Vor diesem Hintergrund wäre es schön, wenn man in der öffentlichen Diskussion rhetorisch abrüsten könnte und beide Wörter bei Diskussionen über die Ukraine vermeiden würde. 

Anmerkung
1  https://texty.org.ua/projects/103854/occupation_eng/

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Krisen und Kriege

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