Wahrheitskommission

Umgang mit der Vergangenheit in Chile

von Roberta Bacic

“Wie können jene, die folterten und jene, die gefoltert wurde, in demselben Land koexistieren?” (A. Dorfman, Death and the Maiden (London: Nick Hern Books, 1999)

Als ich eingeladen wurde, zu dem FriedensForum in Deutschland beizutragen, wusste ich nicht, wo ich den Schwerpunkt in diesem kurzen Artikel legen sollte. Ich schaute mir einige der früheren Ausgaben des Heftes an und versuchte mich, auf die LeserInnen zu konzentrieren. An wen richtete ich meinen Beitrag? Ich entschied schließlich, dass er sich an PraktikerInnen in der Friedensschaffung und an AktivistInnen wenden solle. Es wurde mir klar, dass ich einen allgemeinen Hintergrund über Chiles Diktatur und die Einrichtung einer Wahrheitskommission direkt nach Bildung der ersten Übergangsregierung 1990 geben sollte. Es sollte auch betont werden, dass dies zu einer zweiten, dritten und vierten Wahrheitskommission führte; die letzte veröffentlichte ihren Bericht erst im August 2011. Dieser Überblick erlaubt, die Probleme des Überganges zu beschreiben und skizziert die Rolle der Friedensbewegung in einem solchen Kontext.

1970-1973:
Salvador Allendes linke Koalitionsregierung wird demokratisch gewählt. Sie stellt Kontakte zu Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt her. Sie wird als eine herausfordernde Erfahrung erlebt, dass Sozialismus mit anderen Mitteln als bewaffnetem Kampf geschaffen werden kann. Es gibt viel Zustimmung in der Bevölkerung, aber Reibungen zwischen den radikaleren und gemäßigteren Kräften der Linken stellen Allendes Regierung vor große Probleme, dazu kommen die Probleme, die die Rechten verursachen. Das Experiment der Sozialdemokratie dauert nur dreieinhalb Jahre.

11. September 1973:
Die gesammelten bewaffneten Kräfte – Armee, Luftwaffe, Marine und Polizei – putschen erfolgreich. Der Putsch wurde von General Augusto Pinochet angeführt, der einen Monat zuvor Oberbefehlshaber geworden war und Präsident Allende Loyalität geschworen hatte.

Der chilenische Staatsstreich war kein isoliertes Ereignis. Vergleichbare hatten schon in Brasilien, Uruguay und Argentinien als Teil der US-Politik stattgefunden, die darauf zielte, die „Veröstlichung“ dieses strategischen Teils der Welt zu stoppen und zu verhindern, dass Sozialismus von einigen Teilen des Westens unterstützt werde.

Die chilenische Diktatur wurde sehr bedeutsam und in aller Welt bekannt, da sie einige spezielle Merkmale aufwies:

  • Eine legal entstandene Regierung war gestürzt worden.
  • Menschenrechtsverletzungen fanden auf allen Ebenen des sozialen Gewebes statt, vom Präsidenten bis hin zu den eingeborenen Völkern. Minister, Intellektuelle, Gewerkschaftler, Minenarbeiter, Kirche, Arbeiter, Frauen, Bauern, Minderheiten – alle waren betroffen.
  • Diese Menschenrechtsverletzungen reichten von klar politisch motivierten wie willkürlichem Verschwindenlassen, Hinrichtungen über systematisch angewendeter Folter bis zu Exil und Entlassungen. Das Militär übernahm soziale und politische Organisationen und verbot bestehende Einrichtungen. Hochrangige Militärs wurden Universitätsrektoren, übernahmen alle Positionen, die mit dem Staat in Zusammenhang stehen, und kontrollierten alle Kommunikationsmittel ebenso wie die Justiz.

Die Diktatur dauerte 17 Jahre und schaffte eine eigene Verfassung. Diese beschränkte die neuen Übergangsregierungen. Sie stellte auch sicher, dass die Unterstützer der Diktatur ihre privilegierten Positionen behielten. Sie konnten die Kontrolle der meisten Einrichtungen behalten trotz des Plebiszits, das Pinochets Präsidentschaft beendete.

Übergang zur Demokratie 1988:
Ein Jahr, nachdem politische Parteien wieder zugelassen wurden, stimmten bei einer Volksabstimmung die Mehrheit gegen eine neue Amtszeit von Präsident Pinochet.

Menschenrechtsbewegung
Eine starke Menschenrechtsbewegung bildete sich um die Opfer der systematischen Menschenrechtsverletzungen herum. Diese Bewegung bestand aus zahlreichen NROs mit Unterstützung der internationalen Solidaritätsbewegung und verschiedener Kirchen in Chile und im Ausland, angeführt durch die katholische Kirche, besonders die Vicaria de Solidaridad. Diese Organisationen unterstützten die Opfer und ihre Angehörigen, dokumentierten die Verletzungen, die Gerichtspetitionen und Petitionen auf internationaler Ebene. Die Bewegung war auch wesentlich für die Organisation von Widerstand. Nur in diesem Rahmen hatte die Friedensbewegung Raum zu agieren.

Die erste Wahrheits- und Versöhnungskommission
Die erste Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde 1990 eingerichtet, beinahe unmittelbar, nachdem der neugewählte Präsident Patricio Aylwin sein Amt angetreten hatte.

Mit Menschenrechtsverletzungen umzugehen, ist eine ethische wie eine politische Aufgabe. In den Zeiten des Überganges, als die erste Kommission gebildet wurde, schufen die Versöhnung ethischer Erfordernisse mit den politischen Zwängen ernstliche Dilemmata.

Die Wahrheitskommission war eine unabhängige Einrichtung, die in der Lage war, wirkliche Erhebungen durchzuführen und Vorschläge zu machen, wie man weiter vorgehen solle, nachdem die Fakten offiziell und offen anerkannt worden waren. Sie wollte auch einen gewissen Grad an gemeinsamem Verständnis der Vergangenheit zustande bringen.

Einige der Herausforderungen, die sie sich gegenübersah, waren:

Die Kommission sollte nur die „schwersten Menschenrechtsverletzungen, solche, die zu Tod und Verschwinden führten“ untersuchen. Dies schloss Opfer von Folter, Vertriebene, Menschen, die aus politischen Gründen ihre Arbeit verloren, und weitere aus. Die Kommission übergab einen dreibändigen Bericht und machte Vorschläge zu Wiedergutmachung.

Wiedergutmachung ist sehr wesentlich, weil sie eine Anerkennung der Würde des Opfers beinhaltet, auch wenn sie nie die menschlichen und moralischen Verluste oder den Anspruch an Gerechtigkeit ausgleichen kann. Reparationen sind kein Ersatz für Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite das gewählte Vorgehen nachhaltig politisch wie finanziell tragfähig sein, und so ist es ziemlich schwierig, die Forderungen all jener, die am meisten gelitten haben, zu erfüllen, selbst wenn diese Forderungen angemessen erscheinen.
Das Gesetz 19.123 schloss gesetzliche Reparationen ein, auch Aspekte wie eine monatliche Rente für die Angehörigen von Toten: Rente für die Eltern, für Kinder bis zum Alter von 21 Jahren oder für den Partner. Ebenso gab es gebührenfreie Studienplätze für die Kinder von Opfern und die Möglichkeit der Befreiung von der Wehrpflicht. Ein spezieller Gesundheitsdienst, der physische wie psychische Hilfe beinhaltete, wurde im ganzen Land bekannt gemacht, und spezialisierte Fachleute für diese Aufgabe angestellt. Dies war die einzige Maßnahme, zu der Überlebende vor der Einrichtung der Dritten Wahrheitskommission Zugang hatten.
Heute ist auch der Bau von Denkmälern als Wiedergutmachung anerkannt und Verbände von Angehörigen von Opfern und Überlebenden von Folter durften sich beteiligen. (Siehe http://www.ddhh.gov.cl/memoriales_regiones.html.)

Die neue Übergangsregierung war im Wege einer Vereinbarung geschaffen worden und es gab einen Prozess der Verhandlung in Bezug darauf, wie weit die Kommission gehen dürfe. Dabei ist es wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass der „Gegner“ Macht hatte, bewaffnet war, und dass General Pinochet weiter Oberbefehlshaber des Militärs blieb. Die Regierung sah sich rechtlichen Einschränkungen gegenüber, weil die Diktatur die geltende Verfassung geschrieben hatte, und sozialen Einschränkungen, weil bedeutsame 45% der Bevölkerung immer noch für die Rechte wählten. Dies hilft zu verstehen, warum General Pinochet zu lebenslangem Senator ernannt werden konnte, was ihm legale Immunität verlieh.

Der Übergang zur Demokratie bedeutet, eine Gesellschaft mit Mitteln der Verhandlung, des Kompromisses und gegenseitiger Zugeständnisse aus der Diktatur zu befreien. Das Ziel ist, einen demokratischen Staat zu bilden, in dem alle Konfliktparteien einen Platz finden können. Dies ist einer der schwierigsten Aspekte, mit denen umgegangen werden muss, weil für jene, die am meisten litten, es Aspekte gibt, die nicht verhandelbar sind. Es ist schwierig zu akzeptieren, dass meine Feinde von gestern meine Partner werden müssen und dass wir beide in demselben Staat leben. Sie mögen weiterhin meine Gegner sein, aber meine Gegner im Frieden. Die Praktiken, die während der Diktatur erlernt und etabliert wurden, müssen nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Zivilgesellschaft überwunden werden. Darin liegt – für alle – eine der großen Aufgaben und Herausforderungen, wenn man voranschreiten will.

Wenn man mit Post-Konfliktsituationen umgehen will, muss uns bewusst sein, dass es eine Dualität zwischen den individuellen Opfern und der Nation gibt. Beide sind sehr wesentlich und müssen verbunden werden. Die Opfer und ihre Angehörigen verdienen Respekt und sollten konsultiert werden, wenn es zu Dingen kommt, die sie direkt betreffen. Auf der anderen Seite ist es auch wahr, dass der Prozess der moralischen Rekonstruktion in den Händen der Gesellschaft liegt, die wir haben, und dass die gerechten Forderungen der Opfer nicht immer von der Mehrheit akzeptiert werden. Diese Forderungen mögen manchmal nicht einmal von der Politik in Betracht gezogen oder zumindest nicht als erste Priorität gesehen werden. Doch ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass das Fehlen politischen Druckes, diese Anliegen auf die Tagesordnung zu setzen, nicht heißt, dass sie nicht im Untergrund kochten und darauf warteten, zu explodieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der teilweise von der Kommission in Betracht gezogen wurde, war, dass die Kommission Teil des historischen Gedächtnisses wurde. Eine Gesellschaft kann sich nicht auf der Basis einer geteilten Erinnerung versöhnen. Da Erinnerung Identität ist, würde dies in einer geteilten Identität enden. Der Bericht machte Teile der Wahrheit publik, obwohl diese schon den Opfern und den Tätern bekannt war. Ohne Wahrheit und ihre Anerkennung ist Versöhnung nicht möglich. Vergebung und Versöhnung sind nicht nur Worte. Sie sind Schlusspunkte eines Prozesses, der auf moralischer Rekonstruktion beruht, der zu Prävention und sozialer Wiedergutmachung führt. Hier hat Zivilgesellschaft mittels ihrer eigenen Organisationen auch eine grundlegende und bedeutsame Rolle.

Vier Wahrheitskommissionen
Wie oben gesagt, hatte Chile zwischen 1990 und 2011 vier Wahrheitskommissionen. Dies war aufgrund von sozialem und politischem Druck, der durch unvollendete Prozesse entstand, nötig. Jede Kommission hatte ein spezielles Mandat, wie die offiziellen Zahlen der vom Staat anerkannten Opfer zeigen (siehe http://www.icso.cl/observatorio-derechos-humanos/).

Am 26. August 2011 wurde der volle Bericht der zweiten Runde von Chiles „Valech Kommission“ veröffentlicht, einer Wahrheitskommission, die sich mit Folter und politischer Gefangenschaft befasste. Die Kommission war wiedereröffnet worden, um Fälle zu untersuchen, die zuvor nicht offiziell anerkannt worden waren, und fügte in ihrer abschließenden Analyse 30 Fälle von erzwungenem Verschwinden und politischer Hinrichtung und 9.795 Fälle von Überlebenden von Folter oder politischer Haft zu der Statistik von Chiles Militärdiktatur von 1973 bis 1990 hinzu. Die offiziellen Zahlen der Opfer erreichen nun 3.216 Tote bzw. 38.254 unter Einschluss der anderen Opferkategorien.

Materialien
Assisting survivors of war and atrocity, by Derek Summerfield published in Development in Practice, Volume 5, number 4, 1995

Dealing with the Past: Chile –human rights and human wrongs, by Roberta Bacic in Journal Race & Class, TRUTH?, Volume 44, July-September 2002

Dealing with the past, Truth and Reconciliation in South Africa, Published by the Institute for Democracy in South Africa, Cape Town, 1994

Truth, by F. Fernández-Armesto, London, Bantam Press, 1997

Past imperfect, Dealing with the Past in Northern Ireland and Societies in Transition, published by INCORE, Londonderry, Northern Ireland, 1998

Guatemala: Thinking about the Unthinkable, published by the Association of Artists for Guatemala, 1999

No Future Without Forgiveness, by D.Tutu, London, Rider, Random House, 1999

Truths & Lies, by J. Eldestein, , London, Granta Publications, 2001

Justice and Reconciliation after the violence, by Andrew Rigby, UK Lynne Rienner Publishers, inc, 2001

Unspeakable truths, confronting State Terror and atrocity, by Priscilla Hayner, Routledge London, 2001

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Roberta Bacic ist chilenische Kuratorin von Ausstellungen von Arpilleras und Quilts. Sie lebt in Nordirland. Von 1993 bis 1996 war sie Forscherin bei der Nationalen Körperschaft für Reparationen und Versöhnung. Siehe www.cain.ulst.ac.uk/quilts. Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion.