Unser Mut wird langen – nicht nur in Mutlangen

von Lotte Rodi

Mutlangen war zu Beginn der 80er-Jahre eine kleine, unbekannte Gemeinde von etwa 3.000 Einwohnern. Binnen weniger Monate wurde es zum international bekannten Symbol für gewaltfreien Widerstand gegen die Stationierung von Atomraketen, im Ausland bekannter als etwa Stuttgart. Heute ragen Baukräne statt Raketen in die Höhe. Das Militärgelände ist Neubaugebiet und Mutlangen ist wieder eine normale Gemeinde mit jetzt gut 5.000 Einwohnern. Wenn wir uns in Mutlangen auf Spurensuche nach den weltgeschichtlichen Ereignissen der 80er Jahre begeben, scheint es auf den ersten Blick, als sei nichts mehr zu finden. Doch bei genauerer Betrachtung findet man schon bald nicht nur alte Bunkeranlagen und den Geschichtspfad, der auf dem ehemaligen Militärgelände endet, sondern unweit davon entfernt gibt es in der Pressehütte immer noch eine kleine, lebendige Gruppe, die sich weiterhin für die Abschaffung aller Atomwaffen einsetzt. Wie kam es dazu?

1979 beschloss die NATO, die ausschließlich in Westdeutschland stationierten US-amerikanischen Pershing 1A-Atomraketen durch treffgenaue, bis Moskau reichende Pershing II zu ersetzen. Millionen von Menschen protestierten gegen die unkalkulierbar steigende Gefahr eines Atomkriegs. Das Gefühl der Bedrohung, das die Menschen damals bestimmte, ist heute kaum mehr vorstellbar. Ich erinnere mich gut an den Werbespruch eines amerikanischen Reisebüros: „Buchen Sie eine Reise nach Europa, solange es Europa noch gibt!“

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Siegermächte USA und Sowjetunion ein Wettrüsten begonnen, den „Kalten Krieg“. Sie bauten 40.000 Atomwaffen, die alles Leben mehr als hundertmal auslöschen konnten. Die Abschreckungspolitik schuf jedoch weder Sicherheit noch Frieden. Sie führte weltweit zu einer Lebensstimmung der Angst. Die Stationierung von 108 Pershing II-Raketen in Westdeutschland, davon 36 in Mutlangen, kippte das „Gleichgewicht des Schreckens“: In sieben Minuten konnten sie Moskau erreichen. Einmal gestartet, gab es keine Abwehrmöglichkeit. Die Sowjetunion stellte daraufhin atomare Kurzstreckenraketen in der Tschechoslowakei und der DDR auf. Diese konnten innerhalb von 100 Sekunden alle Pershing II Raketen zerstören. Die Gefährlichkeit und Verletzlichkeit der Pershing II schuf einen militärischen Zwang, sie in einer ernsten Krise oder bei Fehlalarm schnell in einem Erstschlag abzufeuern. Wie fürchteten: Das Ende Europas, vielleicht das Ende der Welt!

Mutlangen – Die Anfänge
Mutlangen sollte der erste Stationierungsort für die Pershing II werden. Daher konzentrierten sich hier die Proteste. Ein Höhepunkt war, nach einem dreiwöchigen Trainingscamp für gewaltfreies Handeln, die Prominentenblockade. Vom 1. - 3. September 1983 blockierten 1.000 Menschen gewaltfrei das Pershing-Lager, darunter der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, die Mitbegründerin der Grünen, Petra Kelly, der Zukunftsforscher Robert Jungk. Um Telefone für Journalisten anschließen zu können - es gab noch keine Handys oder E-Mails! -, stellte eine Familie ihre ehemalige Scheune zur Verfügung. Eiligst ließen wir Telefonanschlüsse installieren, die Scheune wurde zur „Pressehütte“.

Die Proteste gingen weiter. Im Oktober 1983 verband eine über 100 km-lange Menschenkette die US-Kommando-Zentrale in Stuttgart-Vaihingen mit der Pershing-Kaserne in Neu-Ulm. Deutschlandweit demonstrierten über eine Million Menschen. Allen Argumenten und Protesten zum Trotz stimmte der Bundestag im November 1983 der Pershing II-Stationierung zu. Das führte bei vielen Protestierenden zu einem Gefühl der Machtlosigkeit und zu Demotivation.

Dennoch verblieb in Mutlangen eine Gruppe junger Menschen, die weiter gewaltfreien Widerstand leisten wollten: „Unser Mut wird langen“ war ihr Motto. Als Ende 1983 die neuen Raketen angeliefert wurden, kamen weitere DemonstrantInnen hinzu. In der Pressehütte entstand sofort eine „Dauerpräsenz“ von bis zu 30 jungen Menschen aus allen Teilen Deutschlands, auch aus dem Ausland. Die meisten neigten mehr dem autonomen Spektrum zu, doch es gab auch dezidiert Gewaltfreie darunter. Sie blockierten und verfolgten die Raketenausfahrten, veröffentlichten die geheimen Abschuss-Stellungen in den Wäldern der Umgebung. Sie mussten unter unbeschreiblich primitiven Bedingungen leben: die meisten in Zelten, auch im eiskalten Winter; in der Hütte gab es anfangs nicht einmal eine Toilette.

Um die Besitzer der Hütte vor Anfeindungen aus der Bevölkerung zu schützen, beschlossen wir, den Verein „Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen“ zu gründen und die Pressehütte zu erwerben. Mit Spenden und zinslosen Darlehen brachten wir in wenigen Monaten die notwendige hohe Summe auf. So konnte die Pressehütte dauerhaft zur Anlaufstelle für tausende Atomwaffengegner werden.

Nach der Stationierung
Das Besondere in Mutlangen war, dass die Aktionen auch nach der Stationierung fortgesetzt wurden. Eine kleine Gruppe von Tübinger StudentInnen war dafür von entscheidender Bedeutung. Inspiriert von Mahatma Gandhi und Martin Luther King initiierten sie die „Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“. In einem Offenen Brief an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl verpflichteten sie sich, mindestens einmal jährlich die Raketentransporte gewaltfrei zu blockieren, bis diese abgerüstet wären bzw. ernsthafte Verhandlungen dafür geführt würden. Um das Gewissen aller Menschen anzusprechen, nahmen sie in Kauf, vor Gericht gestellt und als Straftäter verurteilt zu werden.

Anfangs räumten die meisten der Gruppe keine Erfolgsaussichten ein, doch immer mehr Menschen unterschrieben den Brief oder solidarisierten sich mit der Aktion. Oft ließ man die Blockierer einfach sitzen und stellte den Militärverkehr ein, wie schon bei der Prominentenblockade 1983. Oft zerrte die Polizei die Blockierer ohne Festnahme zur Seite, z.B. bei Manöverausfahrten. 3.000 friedliche Blockierer wurden festgenommen und angezeigt.

Das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd verurteilte fast alle angeklagten Blockierer zu Geldstrafen wegen gewaltsamer und verwerflicher Nötigung. 200 Menschen gingen für den Frieden ins Gefängnis, die meisten für 1 bis 3 Wochen, einige für Monate. 1995 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass alle Verurteilungen verfassungswidrig waren.

Übrigens wurde in Mutlangen nicht nur protestiert, sondern wir haben auch versucht, positive Beiträge zum Feindbildabbau und zur Völkerverständigung zu leisten. So organisierte der Verein 1987 eine „Konferenz für Friedensarbeiter aus Ost und West – Vertrauen fördert Frieden“ sowie mehrere Versöhnungs- und Begegnungsreisen in die damalige Sowjetunion, zu einer Zeit, als US-Präsident Reagan diese als das „Reich des Bösen“ bezeichnete. Seit dieser Zeit organisieren wir auch jedes Jahr ein Internationales Workcamp, bei dem junge Menschen aus verschiedenen Kulturen und Nationen lernen, miteinander zu leben und Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten.

Mutlangen atomwaffenfrei
1987 schlossen die USA und Russland den INF-Vertrag, der die Verschrottung aller atomaren landgestützten Mittelstreckenraketen festlegte. Im November 1990 war Mutlangen atomwaffenfrei! Wir verabschiedeten die Raketen mit dem Motto: „Unser Mut wir langen – nicht nur in Mutlangen!“

Uns ist bewusst, dass dieser Abrüstungsschritt nicht allein der Friedensbewegung zu verdanken ist, sondern dass viele Faktoren zusammengespielt haben. Doch ehemalige Kremlberater bestätigen: Ohne die westliche Friedensbewegung wäre Michail Gorbatschow niemals zum Staats- und Parteichef der Sowjetunion gewählt worden. Er begann Reformen, die die Ost-West-Konfrontation auflösten. Er machte immer weitergehendere Abrüstungsangebote, die schließlich im INF-Vertrag mündeten. Die Friedensbewegung trug auch maßgeblich dazu bei, dass im Ostblock die Demokratie- und Ökologie-Bewegungen stark wurden.

Alle Welt hoffte, nach dieser erstmaligen Verschrottung einer ganzen Waffengattung würden weitreichende Abrüstungsschritte folgen. Doch diese Hoffnung trog! Die Atommächte verringerten nur die Zahlen und beharren weiter auf ihren Atomwaffenarsenalen, und neue Staaten streben nach Atomwaffen.

Deshalb setzen wir uns in Mutlangen weiter für eine atomwaffenfreie Welt ein. Der Stil unserer Arbeit hat sich geändert. Wir organisieren Aktions- und Lobbyreisen für Jugendliche zu den Überprüfungskonferenzen des Atomwaffensperrvertrags in Wien, Genf oder New York. Die Jugendlichen werden vor der Reise in Workshops sowohl inhaltlich wie auch in Bezug auf Gesprächsführung geschult. Während der Konferenzen können sie ihr Recht auf ein Leben ohne Atomwaffen direkt bei Politikern und Diplomaten einfordern und Kontakte zu engagierten Jugendlichen aus anderen Ländern knüpfen. Daraus entstand das Jugendnetzwerk BANg (Ban All Nukes generation). Auf diesen Konferenzen ist auch eine gute Verbindung zum Bürgermeister von Hiroshima entstanden, wir arbeiten eng mit den „Mayors for Peace“ zusammen. Auch Mutlangens Bürgermeister ist dem Netzwerk beigetreten und bewegte 22 Amtskollegen im Kreis und den Landrat ebenfalls zum Beitritt. Wir arbeiten mit bei Aktionen am letzten deutschen Atomwaffenstandort in Büchel und setzen uns im Rahmen der Kampagne „unsere zukunft atomwaffenfrei“ für den Abzug der letzten Atomwaffen aus Deutschland ein. Im vierteljährlich erscheinenden Journal „FreiRaum. Für eine Welt ohne Atom- und Uranwaffen. Für eine friedliche Nutzung des Weltraums“ analysieren wir Entwicklungen und berichten über Aktionen.

Die Pressehütte haben wir in vielen Workcamp-Einsätzen renoviert, aus der Scheune wurde das „Tagungshaus am historischen Ort“. Die Solaranlage auf dem Dach ist seit den Golfkriegszeiten ein Symbol für den Wunsch: „Mit neuer Energie Frieden schaffen“. Wir beteiligen uns an aktuellen Kampagnen der Friedensbewegung, aktuell bei „Schulfrei für die Bundeswehr“.

Wir haben gelernt wie wichtig es ist, sich als ganze Person einzusetzen, bereit zu sein, gegen den Strom zu schwimmen und langen Atem zu haben. Wir haben erfahren, dass auch wenige mit Ausdauer und Konsequenz viel bewirken können: Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen!

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Lotte Rodi war ursprünglich Oberstudienrätin an einem Gmünder Gymnasium, gab den Dienst aber wegen familiärer Belastungen auf. 1981 war sie Gründungsmitglied der „Christlichen Arbeitsgemeinschaft Frieden Schwäbisch Gmünd“, seit 1983 ist sie in Mutlangen aktiv.