Atomkrieg führbar machen?

USA - China

von Otmar Steinbicker
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„Diese Ukraine-Krise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Warmlaufen. Die große Krise kommt noch. Und es wird nicht lange dauern, bis wir auf eine Weise getestet werden, wie wir schon lange nicht mehr getestet worden sind.“ (1)

Das erklärte der Oberbefehlshaber über die Atomstreitkräfte der USA, Admiral Charles A. Richard, am 3. November 2022 auf der Jahreskonferenz der Naval Submarine League in Arlington (Virginia), die nach Angaben auf ihrer Homepage von führenden Rüstungskonzernen der USA, darunter General Dynamics Electric Boat, Lockheed Martin, Boeing, Northrop Grumman, gesponsert wurde. (2)

Die USA müssten ihre Abschreckung verstärken, sagte Richard, oder sie würden von China überrollt. Er forderte, den Bau neuer U-Boote voranzutreiben und in die Zeit vor 60 oder mehr Jahren zurückzublicken. Was Richard nicht explizit sagte: Sein Rückblick zielt in die schlimmste Zeit des Kalten Krieges, bevor nach der Kubakrise im Oktober 1962 Erschrecken und Nachdenken einsetzte und Kurs auf eine Entspannungspolitik und Rüstungskontrolle genommen wurde.

Man wäre womöglich geneigt, diese Rede als Streicheleinheit für die Rüstungsindustrie zu interpretieren und damit zu verharmlosen, stünde nicht ein Bericht über diese Rede mit exakt diesen Worten auf der offiziellen Website des US-Verteidigungsministeriums. Admiral Richard spricht damit drastisch aus, was auf der Linie der neuen US-Sicherheitsstrategie vom 12. Oktober (3) und der daraus abgeleiteten Verteidigungsstrategie vom 27. Oktober 2022 (4) liegt, auch wenn diese beiden Regierungsdokumente behutsamer formuliert sind.

Mit dieser neuen Sicherheitsstrategie wird China als „größte geopolitische Herausforderung für Amerika“ definiert: „Die Volksrepublik China hat die Absicht und in zunehmendem Maße auch die Fähigkeit, die internationale Ordnung zugunsten einer Ordnung umzugestalten, die das globale Spielfeld zu ihren Gunsten verschiebt“ und zugleich erklärt: „Die Vereinigten Staaten sind eine globale Macht mit globalen Interessen.“ Die neue Strategie misst dem sich seit Jahren abzeichnenden Kampf um die Vorherrschaft in der Welt zwischen den USA und China die entscheidende Bedeutung zu.

Kämpfe um Vorherrschaft in der Welt hat es in der Geschichte immer gegeben. Im klassischen Altertum löste Rom Griechenland ab und nach dem Ersten Weltkrieg die ökonomisch erstarkten USA die zuvor dominierenden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Die UdSSR forderte die USA heraus, scheiterte aber letztlich an sich selbst.

Die entscheidende Frage, die sich seit 1945 stellt, lautet: Wie werden solche Rivalitäten ausgetragen: Mit Atomwaffeneinsätzen oder ohne?

Die neue US-Sicherheitsstrategie gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Der Einsatz militärischer Mittel nicht nur zur Verteidigung des eigenen Territoriums, sondern zur Durchsetzung nationaler Interessen, wird explizit in Erwägung gezogen.

„Das amerikanische Militär ist die stärkste Kampftruppe, die die Welt je gesehen hat. Amerika wird nicht zögern, Gewalt anzuwenden, wenn dies zur Verteidigung unserer nationalen Interessen erforderlich ist. Aber wir werden dies nur als letztes Mittel und nur dann tun, wenn die Ziele und die Mission klar und erreichbar sind, mit unseren Werten und Gesetzen im Einklang stehen, neben nicht-militärischen Mitteln, und die Mission mit der informierten Zustimmung des amerikanischen Volkes durchgeführt wird.“
Besondere Besorgnis weckt der Absatz zum Thema Atomwaffen:

„Die nukleare Abschreckung hat für die Nation nach wie vor höchste Priorität und bildet die Grundlage für eine integrierte Abschreckung. Eine sichere und effektive Nuklearstreitkraft untermauert unsere Verteidigungsprioritäten, indem sie strategische Angriffe abschreckt, Verbündeten und Partnern Sicherheit gibt und es uns ermöglicht, unsere Ziele zu erreichen, wenn die Abschreckung versagt.“

Dass ein Einsatz von Atomwaffen den USA ermöglichen soll, „ihre Ziele zu erreichen, wenn die Abschreckung versagt“, setzt voraus, dass die USA in der Lage wären oder sich zumindest in der Lage sähen, einen Atomkrieg führen und gewinnen zu können. Vor der Kubakrise 1962 glaubte die USA daran, danach galt das Motto: „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“. Wer weiß, dass er einen Atomkrieg nicht gewinnen kann, sondern damit womöglich die Welt unbewohnbar macht, wird alles daransetzen, einen solchen Krieg zu verhindern. Wer sich in der Lage sieht, einen Atomkrieg zu gewinnen, mag es darauf ankommen lassen und wird sich auch dafür rüsten.

Die Passage in der neuen US-Verteidigungsstrategie, in der zu den Prioritäten gehört: „Abschreckung von Aggressionen bei gleichzeitiger Bereitschaft, sich in Konflikten durchzusetzen, wenn dies erforderlich ist“, lässt da aufhorchen.

Die vom Verteidigungsministerium gedeckte Forderung des Oberbefehlshabers über die Atomstreitkräfte der USA, den Blick zurück in die 1950er Jahre zu richten, muss ein Alarmruf für die Weltgemeinschaft sein!

Anmerkungen
1 https://www.defense.gov/News/News-Stories/Article/Article/3209416/stratc...
2 https://www.navalsubleague.org/events/annual-symposium/
3 https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/10/Biden-Harris-Admin...
4 https://media.defense.gov/2022/Oct/27/2003103845/-1/-1/1/2022-NATIONAL-D...

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de